Koloniale Kontinuitäten des Polizierens: Die französische Civipol in Westafrika

von Eva Magdalena Stambøl und Leonie Jegen

Die historischen Verflechtungen zwischen Kolonialismus, unternehmerischen Interessen und Polizeiarbeit spiegeln sich in der Art und Weise, in der Europa Migration aus Westafrika kontrollieren will. In diesem Beitrag betrachten wir zunächst die Rolle von Public-Private-Partnerships und Überwachung während und nach der französischen Kolonialisierung und untersuchen mit Civipol ein französisches Unternehmen, das sich auf den Kapazitätsaufbau der Inneren Sicherheit afrikanischer Staaten spezialisiert und im Besitz des französischen Staates und bedeutender französischer Sicherheitsunternehmen ist.

Während unserer Forschungsaufenthalte zwischen 2017 und 2019 in mehreren westafrikanischen Ländern sind wir häufig auf eine semiprivate französische Agentur gestoßen: Civipol. Wir beide haben zu Migrations- und Sicherheitspolitik in mehreren westafrikanischen Ländern geforscht. Stambøl im Senegal, in Mali und dem Niger, hauptsächlich in 2017 und 2018, und Jegen 2018 und 2019 im Senegal, Ghana und dem Niger. Die Einblicke aus unserem Forschungsreisen haben wir durch Nachforschungen in Dokumenten, Web-Inhalten und historischen Sekundärquellen ergänzt. Der vorliegende Text basiert auf dem von uns verfassten Kapitel in dem Sammelband „Postcoloniality and Forced Migration.“[1] Unser Ziel ist es, kommodifizierte Kontrolle von Mobilität in Westafrika durch die Europäische Union (EU) und Frankreich historisch zu kontextualisieren.

Zwei Konzepte helfen dabei, das Ausüben französischer Herrschaft während der Kolonialisierung in verschiedenen Ländern und der fortgesetzten Hegemonie nach der formellen afrikanischen Dekolonialisierung und der heutigen Externalisierung europäischer Grenzen nach Afrika zu verstehen: „Revolving credits“ (rotierende Kredite) und „revolving doors“ (rotierende Türen). Der Begriff „revolving credit“ wurde zuerst durch Kwame Nkruma geprägt, den antikolonialen, panafrikanischen Denker und ersten Präsidenten Ghanas. Er bezieht sich auf die Zirkulation von Kapital und Hilfsgeldern aus den Metropolen über die (ehemals) kolonialisierten Gebiete zurück in die Metropolen. Das Konzept der „revolving doors“ wurde ursprünglich eingeführt, um die wachsende Rolle europäischer Sicherheitsunternehmen in der Förderung von Mobilitätsüberwachung durch die EU hervorzuheben und bezieht sich auf den Umlauf von Schlüsselpersönlichkeiten zwischen öffentlichen Ämtern, Innerer Sicherheit und Wirtschaft.[2]

Unternehmensinteressen in Frankreichs Kolonialisierung

Der frühe französische Kolonialismus seit dem Ancien Régime (15. Jahrhundert bis zur französischen Revolution 1789) manifestierte sich für nahezu 300 Jahre als von den monopolistischen Handelskompanien dominierter Merkantilismus, mit Handelsstationen entlang der westafrikanischen Küste. Der Kolonialismus war insofern hauptsächlich für diese Handelskompanien profitabel, deren Monopole durch den französischen Staat durchgesetzt wurden. Dies umfasste für einige Zeit den transatlantischen Sklav*innenhandel, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts abgeschafft wurde.[3] So brachte der französische Sklav*innenhandel und Plantagen-Kolonialismus auf den Westindischen Inseln enge Verbindungen zwischen staatlichen und privaten Interessen mit sich: Der Vorstand der Französischen Westindienkompanie hob sein Monopol über diesen Handel auf, um ein System wiedereinzuführen, das das Geschäftsmodell der Kompanie unterstützte und auf der Kooperation mit unabhängigen Handelstreibenden basierte – und so den Handel des Unternehmens mit versklavten Menschen, Zucker und anderen Plantagenprodukten lukrativer machte.[4] Während des frühen Kolonialismus profitierten nur einige wenige Handelskompanien von ihren Monopolen, während die afrikanischen Kolonien überwiegend unrentabel waren und die Kolonialmacht Frankreich finanziell belasteten.[5]

Die französische Herrschaft in Afrika entwickelte sich ab den 1860ern von einem reinen „kommerziellen Kolonialismus“ zu einem „imperialen Kolonialismus“, der nun militärische Interventionen und einen moralischen Imperativ enthielt – die zivilisatorische Mission. Die ökonomische Bedeutung der Kolonien für die Metropole wuchs beträchtlich – nicht zuletzt aufgrund des Umstandes, dass Frankreich zu dieser Zeit seine Industrie entwickelte, die dem Aufbau eines Imperiums Auftrieb verschaffte und die Kolonien zur Entwicklung des französischen Kapitalismus beitrugen.[6] Über das Bereitstellen von Rohstoffen für die französische Industrie hinaus war die Expansion der französischen Industrien in den Kolonialgebieten ein zentrales Interesse, weil Investitionen dort zwei wesentliche Vorteile boten: hohe Rentabilität und die mit direkter politischer Vorherrschaft einhergehende Sicherheit.[7]

Es überrascht daher nicht, dass vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis in die Zwischenkriegszeit eine große Bandbreite von privaten Interessen, organisiert unter der „Parti Colonial“ – einem politischer Interessenverband mit eigennützigen wirtschaftlichen Interessen an der französischen kolonialen Expansion –, eine wichtige Rolle in der Mobilisierung öffentlicher und politischer Unterstützung für das französische Kolonialprojekt vom spielten.[8] Das Ausmaß der Bedeutung von Unternehmen im französischen Kolonialprojekt im späten 19. Jahrhundert ist umstritten; ein Teil der historischen Forschung zeigt, dass private Konzerne eine erhebliche Rolle bei der Unterstützung der kolonialen Sache gespielt haben,[9] andere argumentieren, dass nationalistische und kapitalistische Interessen in dieser Phase oftmals auseinanderliefen.[10] Unbestritten scheint jedoch zu sein, dass einige Einzelpersonen mit starken Verbindungen zu Politik und Wirtschaft entscheidend an der Generierung politischer Unterstützung für das Kolonialprojekt mitwirkten – vergleichbar mit dem heutigen Phänomen der „revolving doors“.[11]

Der Aufbau des kolonialen Sicherheitsapparats war häufig unmittelbar mit der Wirtschaft und dem Handel verbunden, die Modelle und Intensitäten von Überwachung und Repression verflochten mit der politischen Ökonomie der jeweiligen Kolonie. Das in den Kolonien investierte französische Privatkapital war daher in Handelsbetrieben konzentriert, deren Monopole vom französischen Staat durchgesetzt werden sollten. Tatsächlich wurde die Wirtschaft der Kolonien bis zur Wirtschaftskrise nach dem ersten Weltkrieg nahezu vollständig von französischen Handelskompanien dominiert.[12] Insbesondere waren dies in Bordeaux ansässige Familienunternehmen wie die drei als Grand Comptoirs bekannten GmbHs, die den Handel, das Bankwesen und das Transportgeschäft kontrollierten. Hervorzuheben ist, dass diese französischen Firmen die in den Kolonien erwirtschafteten Profite nach Frankreich zurückführten,[13] was wir im Folgenden als „revolving credit“ bezeichnen.[14]

Polizieren, Registrieren und Überwachen

Im französischen Afrika-Imperium war die Kontrolle und Überwachung hauptsächlich Sache des Militärs; eine zivile Administration entwickelte sich erst im 20. Jahrhundert zaghaft und probeweise.[15] Die Organisation und Verwaltung der Kolonien erfolgte dezentralisiert, wobei den Verwaltenden und den commandants de cercle ein hohes Maß an Autonomie und persönlicher Kontrolle zukam.[16] Schrittweise und vor allem in den von französischen Siedler*innen bewohnten Gebieten wurden Polizeiinstitutionen nach dem Vorbild der französischen Großstadtpolizei wie der Gendarmerie (also Militärpolizei) und der Pariser Polizeipräfektur geschaffen.

Untersuchungen des Historikers Martin Thomas haben hervorgehoben, dass alle europäischen Kolonialregierungen über ganz Afrika hinweg den internen Sicherheitsapparat einsetzten, um ökonomische Extrahierung, Landaneignung, Steuereintreibung und die Unterdrückung von Widerspruch aus der Arbeiterschaft zu gewährleisten – einschließlich der Aufrechterhaltung der Ordnung auf Plantagen, in Bergwerken und in Aufbereitungsanlagen, die teilweise von privaten europäischen Unternehmen betrieben wurden. Das Verhältnis von Staatlichem zu Privatem verwischte dadurch zunehmend. So waren koloniale Sicherheitskräfte Teil „assoziativer Netzwerke“, die Verwaltungen, Handeltreibende und Führungskräfte beinhalteten: „Auf persönlicher wie struktureller Ebene waren die politischen Prioritäten und Sicherheitspraktiken der kolonialen Herrschaft daher an ihre ökonomische Organisation angepasst.“[17]

Emmanuel Blanchard hat darüber hinaus aufgezeigt, dass die Unterbesetzung und -finanzierung der mit der Kontrolle weitreichender Territorien beauftragten französischen Kolonialpolizei dazu führte, dass diese anthropometrische Techniken bei der Überwachung von Bevölkerungen und Mobilität einsetzte – etwa, indem die Menschen gezwungen wurden, Ausweise zu tragen, ihre Fingerabdrücke nehmen zu lassen und an anderen Formen von Zensuserfassung und Registrierung teilzunehmen. Politische Überwachung und Mobilitätskontrolle wurde beispielsweise in Dakar (Senegal) 1922 mit der Etablierung des Service central de police et de sûreté de l’AOF institutionalisiert.[18] Wie wir noch zeigen, sind Identifizierungs-, Registrierungs- und Zensustechniken wesentlicher Bestandteil auch der heutigen Grenzkontrollpolitik Frankreichs und der EU in Westafrika. Vergleichbare Überwachungstechniken – nunmehr einschließlich biometrischer Varianten – werden von europäischen Firmen entwickelt und eingesetzt, um heute Mobilität in Afrika zu kontrollieren.

Französische Hegemonie nach der Dekolonialisierung

Nach der Dekolonialisierung der afrikanischen Staaten in den 1960ern entwickelte Frankreich „besondere Beziehungen“ zu vielen der neuen Staatsführungen, um sein Einflussgebiet zu wahren. Es ist vorgebracht worden, dass es eine Dekolonialisierung im Sinne eines Souveränitätstransfers oder der Erlangung von Unabhängigkeit und Autonomie von der früheren Kolonialmacht nicht gegeben hat.[19] Das stark von persönlichen Beziehungen und Vetternwirtschaft geprägte Verhältnis Frankreichs zu seinen ehemaligen afrikanischen Kolonien ist mit dem Begriff Françafrique beschrieben worden.[20]

Politisch geschah dies durch formelle und informelle Netzwerke um Charles de Gaulle’s ‘Monsieur Afrique’, Jacques Foccart, die öffentliche wie private Gremien, Persönlichkeiten und Firmen umfassen, darunter die französische Geheimpolizei. Politisch wirkte die franko-afrikanische Beziehung sowohl über formelle als auch informelle Netzwerke, wobei insbesondere letztere die Unterscheidung zwischen Privatem und Öffentlichem faktisch verwischten. De Gaulle machte afrikanische Beziehungen zur domaine réservée des Präsidenten, und Foccarts informelles System umfasste Netzwerke aus Wirtschaft, Militär, Innerer Sicherheit und privatwirtschaftlichen Interessen – wie die um Jean-Christophe Mitterrand und Charles Pasqua, große Unternehmen wie Elf, Bouygues, Bolloré-Rivaud und Castel, Geheimdienste und Militärs.[21]

Die Netzwerke schufen Abhängigkeitssysteme, die sich auf vielfältigen Ebenen manifestierten (institutionell, semi-institutionell und informell) und mittels vielfältiger Modalitäten (kulturelle Zusammenarbeit, Entwicklungshilfe, die Franc-Zone, das Ministerium für Zusammenarbeit, persönliche Verbindungen und Beziehungen, eine „afrikanische Zelle“ genannte Gruppe um den Präsidenten, franco-afrikanische Gipfel und die Netzwerke). Frankreich unterstützte politische Eliten und verschiedene Diktatoren wie Paul Biya in Kamerun; Blaise Compaoré in Burkina Faso; Idriss Deby im Tschad und Denis Sassou Nguesso im Kongo.[22] Die jährlichen franco-afrikanischen Gipfel, die häufig über keine veröffentlichte Tagesordnung verfügten, erinnerten „eher an informelle Familientreffen als an offizielle zwischenstaatliche Sitzungen.“[23]

Wirtschaftlich ist Françafrique geprägt durch enge und fest verwurzelte Beziehungen, in denen Frankreich mehr auch seine eigenen ökonomischen Interessen bedacht ist als auf die afrikanischer Staaten. Asymmetrische ökonomische Beziehungen Frankreichs mit dem französischsprachigen Afrika beruhen auf zwei Formaten, die die Abhängigkeit des Letzteren von Ersterem aufrechterhalten: Der Franc-Zone und der Entwicklungshilfe. Die 1945 geschaffene CFA-Franc-Zone wird noch immer von Frankreich kontrolliert und umfasst die West African Economic and Monetary Union, die Central African Economic and Monetary Community und die Komoren. Frankreich hat seine Kontrolle durch ein Vetorecht französischer Funktionäre bei finanzpolitischen Fragen innerhalb der Westafrikanischen Zentralbank und der Zentralafrikanischen Zentralbank institutionalisiert.[24]

Darüber hinaus ist französische Entwicklungshilfe, die kulturelle, ökonomische und technische Formen annimmt, laut Charbonneau „recycelt und über die Auftragsbücher französischer Firmen … nach Frankreich zurückgeschickt worden.”[25] Dies ist genau das, was Kwame Nkru­mah als „revolving credit“ beschrieben hat und damit Finanzhilfe und Investitionen bezeichnet, die „von dem neo-kolonialen Herrscher bezahlt werden, den neokolonialen Staat durchqueren und in Form gestiegener Profite an den neokolonialen Herrscher zurückkehren“.[26]

Militärisch ist Frankreich mit seinen Militärbasen und auf westafrikanischem Boden stationierten Truppen der „Sicherheitsgarant“ seiner ehemaligen Kolonien geblieben. Stationierte französische Truppen, aber auch militärische Interventionen wurden von Paris als das „Herz und Symbol französischer Macht in Afrika“ angesehen.[27]

Im Gegensatz hierzu haben die „Innere Sicherheit“ und die französische Zusammenarbeit mit afrikanischen Innen- und Justizministerien sowie (Geheim-)Polizeien deutlich weniger Aufmerksamkeit von Forschenden erhalten.[28] Dennoch ist angesprochen worden, dass französisch-afrikanische Netzwerke die französische Geheimpolizei (SDECE) und das Innenministerium umfassten.[29] Wie wir noch sehen, spielen jedoch (semi-) private französische Akteur*innen und Unternehmensinteressen wie Civipol weiterhin eine wichtige Rolle in den europäischen Beziehungen zu Westafrika – auch durch die EU. Zudem hat das Ziel, westafrikanische Mobilität nach Europa zu kontrollieren und Migrationspolitik zu versicherheitlichen, neue Wege und Gelegenheiten für die Wirtschaft auf dem Gebiet der Inneren Sicherheit der ehemaligen französischen Kolonien und anderer afrikanischer Staaten eröffnet.

Die Rolle von Civipol bei der EU-Externalisierung

Civipol wurde 2001 gegründet und ist Implementierungspartner für technische Zusammenarbeit des französischen Innenministeriums. Es handelt sich um ein privates Unternehmen, das zu 40 % im Besitz des französischen Staates ist und diesem gemeinsam mit den großen Sicherheitsunternehmen Thales, Airbus, Morpho und Défense Conseil International gehört. Erklärte Mission von Civipol ist die Förderung des Sektors der Inneren Sicherheit. Schlüsselfiguren in Führungsgremien haben vor ihrer Tätigkeit bei Civipol wechselnde Positionen in französischen Ministerien, Institutionen der Inneren Sicherheit, des Nachrichtenwesens und der Sicherheitswirtschaft innegehabt. Mitarbeitende sind ebenso von Paris nach Brüssel gewechselt, um dort EU-Gelder zu verwalten. Dies verschafft Civipol in eigenen Worten „die Effizienz eines Privatunternehmens mit der Macht seines öffentlichen Auftrags …“.[30]

2001 wurde Civipol akkreditierter Implementierungspartner der EU-Kommission[31] und hat seither ein besonderes Know-How im Umgang mit den Projektaufrufen der EU entwickelt. 2003 formulierte Civipol im Rahmen der Machbarkeitsstudie der Kommission zur Kontrolle der Seegrenzen einen der ersten Pläne für ein Überwachungssystem der EU.[32] Die Studie stellte dies in einer sicherheitsfokussierten Sprache als „migratorischen Druck“ (migration pressure) dar und beschrieb Individuen und Netzwerke, die irreguläre Migration in die europäische Freizügigkeitszone (den Schengen-Raum) ermöglichten, als „transnationale kriminelle Organisationen“ (transnational crime organisations).[33] Die Machbarkeitsstudie legte das Fundament für die fortwährenden Maßnahmen der Grenzexternalisierung.

Die Vorschläge von Civipol wurden unter anderen in das Maßnahmenprogramm der Kommission zur Bekämpfung „illegaler Einwanderung“ über die Seegrenzen der EU von 2003 oder den Global Approach to Migration von 2005 übernommen.[34] Im Juni 2015 wurde Civipol zudem als Implementierungspartner der internationalen Zusammenarbeitsaktionen und -projekte des französischen Innenministeriums ausgewählt.[35]

Civipol ist eine der meistgeförderten Organisationen unter dem EU Trust Fund for Africa (EUTF) und hat nach unseren derzeitigen Berechnungen Ende 2020 EU-Sicherheitsprojekte in ehemaligen französischen Kolonien Afrikas im Wert von 212 Millionen Euro umgesetzt. Civipol-Projekte umfassen: Grenzkontrolle zur Bekämpfung krimineller Netzwerke, technische Unterstützung zur Verstärkung von Zolldiensten, Nachrichten- und Informationsaustausch zwischen Polizei, Gendarmerie, Garde Nationale sowie die Aufrechterhaltung öffentlicher Sicherheit in „entfernten und Transitzonen“, außerdem die Störung von kriminellen Organisationen, die von irregulärer Migration profitieren, von Menschenhandel und anderen Formen organisierter Kriminalität. Dies soll durch Konzentration auf deren finanziellen Ressourcen und Personenstandsregister erreicht. Wir richten nun das Augenmerk auf Letztere.

Biometrisierung und Mobilitätskontrolle

Civipol ist in vielzähligen Kapazitätsentwicklungsprojekten auf dem Gebiet der Personenregistrierung in Westafrika tätig gewesen. Unterstützt wurde dazu die Ausarbeitung entsprechender Regelungen in Kamerun, dem Niger und dem Senegal. Civipol hat auch an hochrangigen Verhandlungen über das Personenstandsregisterelement in Migrationsabkommen in Kamerun, Tunesien und dem Senegal mitgewirkt.[36] Derzeit ist Civipol zudem an der Umsetzung von EUTF-geförderten Personenstandsregistrierungsprojekten in der Elfenbeinküste, dem Senegal und (jedenfalls bis zum dortigen Putsch) in Mali beteiligt.

Die politische Sensibilität von Projekten zur Personenstandsregistrierung wird besonders deutlich im Senegal, wo eine entsprechende Reform seit 1990 erfolgt. Gegenwärtig leitet Civipol ein laufendes, EUTF-gefördertes Projekt zur Modernisierung der Personenstandsregister des Landes und zur Einführung einer landesweiten biometrischen Datenbank. Dieses Projekt ist eine unmittelbare Fortführung des im Rahmen des 2012-16 European Development Fund (EDF) finanzierten „Projet d’appui à la modernization de l’état civil“, das offenbar nicht alle seine Ziele erreichen konnte.[37] Das Projekt wurde 2018 mit zweijähriger Verspätung gestartet,[38] teilweise verursacht durch die Sensibilität der Einrichtung landesweiter biometrischer Datenbanken und Fragen der Souveränität.[39]

Ein besonders sensibles Thema ist im Senegal die Frage gewesen, in welchem Ausmaß die biometrische Datenbank an Rückführungen abgelehnter Asylsuchender gekoppelt ist. Das Projektdokument verweist auf eine solche Koppelung, indem ausgeführt wird, dass im Rahmen des Projektes eine rechtliche Studie zur Nutzung der biometrischen Datenbank abgeschlossen wird, die auch „ihre Nutzung zu Identifizierungszwecken senegalesischer Staatsangehöriger mit irregulärem Status“ behandeln soll.[40]

Darüber hinaus wurden diese Projekte als Teil einer „modularen Technologie“ betrachtet, bei der das Einschlagen eines bestimmten Weges zu einer Abhängigkeit von einem sich ständig weiterentwickelnden System führt.[41] Andernorts ist argumentiert worden, dass bei der Privatisierung von Grenz- und Migrationsverwaltungen regelmäßig technische Lösungen gefunden werden, bevor Probleme identifiziert worden sind, und so starke Lock-in-Effekte entstehen.[42] In diesem Fall wird der Ausbau des staatlichen Kontroll- und Überwachungsapparats nicht nur zu einem unerreichbaren Ziel, sondern auch zu einer endlosen Quelle von Profit.

Es ist daher zu fragen, wer gegenwärtig von EU-Entwicklungshilfe profitiert, die zunehmend in Bahnen von Sicherheit und Mobilitätskontrolle geleitet wird. Dies legt nahe, dass die EUTF und andere Töpfe der EU-Außenpolitik nicht nur ausgezahlt werden, um Mobilität in und aus Afrika zu kontrollieren, sondern sich auch als nützliche Vehikel für die Wiederbelebung der anscheinend zunehmend verflochtenen europäischen Entwicklungs- und Sicherheitsindustrien darstellen. Zugleich erlauben sie die Rückführung von Teilen der Hilfsgelder – oder des „revolving credit“ – nach Europa und insbesondere Frankreich; genau wie während der Kolonialzeit und nach der formellen Dekolonialisierung.

Fazit

Die fortschreitende Kommodifizierung der europäischen Mobilitätskontrolle und Überwachung in Westafrika hat tiefe historische und koloniale Wurzeln. Unternehmen wie Civipol nutzen die Geschäftsgelegenheiten, die die auf Mobilitätskontrolle gerichteten EU-Hilfen bieten und etablieren sich selbst als Lieferant*innen technischer Lösungen und Know-Hows. Wir stellen fest, dass EU-Entwicklungshilfe für Afrika nicht nur zunehmend in Richtung Innerer Sicherheit und Mobilitätskontrolle kanalisiert wird, sondern auch der Wiederbelebung der europäischen Entwicklungs- und Sicherheitsindustrien dient, die immer stärker verflochten sind. Dies ermöglicht „revolving credit“: das Zirkulieren von Hilfen und Kapital aus Europa über europäische Firmen in Afrika zurück nach Europa – genau wie während der Kolonialzeit und nach der formellen Dekolonialisierung.

[1]    Lemberg-Pedersen, M. (Hg.): Postcoloniality and Forced Migration, Bristol 2022
[2]    vgl. Lemberg-Pedersen, M.: Private security companies and the European borderscapes, in: Gammeltoft-Hansen, T.; Sørensen, N. N. (Hg.): The Migration Industry and the Commercialization of International Migration, London 2013, S. 152-172; Lemberg-Pedersen, M.: Security, industry and migration in European border control, in: Weinar, A. u.a (Hg.): The Routledge Handbook of the Politics of Migration in Europe, London 2018, S. 239-50
[3]    Mentan, T.: Africa in the Colonial Ages of Empire: Slavery, Capitalism, Racism, Colonialism, Decolonization, Independence as Recolonization, and Beyond, Bamenda 2017
[4]    ebd.
[5]    Thompson, V.; Adloff, R.: French economic policy in tropical Africa, in: Duignan, P.; Gann, L. H. (Hg.): Colonialism in Africa 1870-1960, Cambridge 1975, S. 127-64
[6]    Thompson; Adloff a.a.O. (Fn. 5); Marseille, J.: Empire Colonial et Capitalisme français. Histoire d’un Divorce, Paris 1984
[7]    ebd.
[8]    Andrew, C.M.; Kanya-Forstner, A. S.: The French “Colonial Party”: Its composition, aims and influence, 1885-1914, in: The Historical Journal 1971, H. 1, S. 99-128
[9]    Abrams, J.; Miller, D. J.: Who were the French colonialists? A reassessment of the Parti Colonial 1890-1914, in: The Historical Journal 1976, H. 3, S. 685-725; Marseille a.a.O. (Fn. 6)
[10]   Andrew, C. M.; Kanya-Forstner, A. S.: French business and the French colonialists, in: The Historical Journal 1976, H. 4, S. 981-1000
[11]   Lemberg-Pedersen a.a.O. (Fn. 2)
[12]   Thompson; Adloff a.a.O. (Fn. 5)
[13]   Ọlọruntimẹhin, B. O.: The French estate in West Africa, 1890-1918, in: Journal of the Historical Society of Nigeria 1974, H. 3, 447-63; Thompson; Adloff a.a.O. (Fn. 5)
[14]   Nkrumah, K.: Neo-colonialism. The Last Stage of Imperialism, London 1965
[15]   Manning, P.: Francophone Sub-Saharan Africa 1880-1995, Cambridge 2010 (2. Aufl.)
[16]   Blanchard, E.: French colonial police; in: Bruinsma, G.; Weisburd, D. (Hg.): Encyclopedia of Criminology and Criminal Justice, New York 2014, S. 22-63
[17]   Thomas, M.: Violence and Colonial Order. Police, Workers and Protest in the European Colonial Empires1918-1940, Cambridge 2013
[18]   Blanchard a.a.O. (Fn. 16)
[19]   Charbonneau, B., : France and the New Imperialism: Security Policy in Sub-Saharan Africa, London; New York 2008, S. 55
[20]   Gegout, C.: Why Europe Intervenes in Africa: Security, Prestige and the Legacy of Colonialism, London 2017
[21]   Charbonneau a.a.O. (Fn. 19)
[22]   Gegout a.a.O. (Fn. 20)
[23]   Chafer in Charbonneau a.a.O. (Fn. 19), S. 59
[24]   Gegout a.a.O. (Fn. 20), S. 141
[25]   Charbonneau a.a.O. (Fn. 19), S. 59
[26] Nkrumah a.a.O. (Fn. 14)
[27]   Charbonneau a.a.O. (Fn. 19), S. 65
[28] vgl. aber Blanchard a.a.O. (Fn. 16)
[29]   Charbonneau a.a.O. (Fn. 19), S. 57
[30]   Civipol: ‘Civipol: The company’, www.civipol.fr/en/civipol/company
[31] Civipol: Activity Report 2016 & Outlook 2017, Paris 2017, https://civipol.themecloud.website/wp-content/uploads/2012/06/rapport_civipol_2016-2017.pdf
[32]   Akkerman, M.: Expanding the Fortress, Transnational Institute, Amsterdam 2018, www.tni.org/en/publication/expanding-the-fortress
[33]   Civipol: Feasibility study on the control of the European Union’s maritime borders – Final Report, Feasibility Study 11490/1/03 REV 1, Brussels 2003: Council of the European Union, http://register.consilium.eu.int/pdf/en/03/st11/st11490-re01en03.pdf; Lemberg-Pedersen, M. u.a.: The Political Economy of Entry Governance, AdMiGov Deliverable 1.3, Copenhagen 2020, http://admigov.eu/upload/Deliverable_D13_Lemberg-Pedersen_The_Political_Economy_of_Entry_Governance.pdf, S. 46
[34]   Akkerman a.a.O. (Fn. 32); Lemberg-Pedersen u.a. a.a.O. (Fn. 33), S. 46
[35]   Civipol a.a.O. (Fn. 30)
[36]   Europäische Kommission: Programme d’appui au renforcement du système d’information de l’état civil et la création d’un fichier national d’identité biométrique, 2018, https:// ec.europa.eu/trustfundforafrica/sites/euetfa/files/t05-eutf-sah-sn-07_etat_civil.pdf
[37]   ebd.
[38]   Akkerman a.a.O. (Fn. 32); Civipol: Rapport d’Activité 2018. Paris 2019, www.civipol.fr/sites/default/files/2019-09/Rapport%20d%26%23039%3Bactivit%C3%A9%202018.pdf
[39] Jegens Interview mit der Agentur der EU-Mitgliedstaaten, Dakar 2019
[40]   Europäische Kommission a.a.O. (Fn. 36), S. 10
[41]   Frowd, P. u.a.: Security at the Borders: Transnational practices and technologies in West Africa, Cambridge 2018
[42]   Lemberg-Pedersen a.a.O. (Fn. 2); Menz, G.: The neoliberalized state and the growth of the migration industry, in: Gammeltoft-Hansen, T.; Sørensen, N. N. (Hg.): The Migration Industry and the Commercialization of International Migration, London 2013, S. 108-127

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