von Ulrich Lewe
Die Allgemeinpsychiatrie und der psychiatrische Maßregelvollzug (MRV) sind in Deutschland über unterschiedliche Gesetzesvorgaben mit dem staatlichen Gewaltmonopol verbunden. Der Artikel beschreibt problematische Entwicklungen, die sich aus dieser Verbindung ergeben, benennt die besonderen Risiken, denen Menschen mit psychosozialen Behinderungen[1] allgemein und besonders im MRV ausgesetzt sind und macht auf die Gefahren der neueren Diskursfigur vom angeblich „gefährlichen Irren“ aufmerksam.
Psychiatrie und MRV sind in Deutschland vor allem über vier Gesetze mit dem staatlichen Gewaltmonopol verbunden. Erstens über das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB), das in § 1831 eine zwangsweise Unterbringung wegen akuter Selbstgefährdung ermöglicht. Zweitens über die Psychisch-Kranken-Hilfe-und-Schutz-Gesetze (meist PsychKHG) der Länder, die eine zwangsweise Unterbringung bei akuter Selbst- oder Fremdgefährdung regeln. Drittens über das Jugendgerichtsgesetz (JGG), das in § 7 für strafmündige Jugendliche ab 14 Jahren eine Unterbringung im psychiatrischen MRV ermöglicht. Und viertens über das Strafgesetzbuch (StGB), das für rechtsbrüchige Bürger*innen zwei unterschiedliche Sanktionssysteme bereithält: den Strafvollzug und die Maßregeln der Besserung und Sicherung nach § 61ff. StGB.
Ein Teil der letzteren sind die psychiatrischen Maßregeln nach §§ 20 und 21 i. V. m. § 63 StGB, die aus dem faschistischen „Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher“ von 1934 übernommen wurden und die bundesrepublikanischen Strafrechtsreformen ohne wesentliche Änderungen überstanden haben. In deren „Genuss“ kommen Angeklagte, denen im Hauptverfahren wegen einer seelischen Störung eine Schuldunfähigkeit sowie eine akute Gefährlichkeit gutachterlich attestiert wird. Im Gegensatz zum Strafvollzug ist die Unterbringung im MRV nicht an eine im Urteil festgelegte Strafdauer gebunden. Sein Zweck ist nicht der Schuldausgleich durch Strafe, sondern die vorbeugende bzw. präventive Anhaltung angeblich besonders gefährlicher Menschen.
Die Entwicklungen und Auseinandersetzungen um o. g. Gesetzesbereiche markieren die Frontlinie der psychiatrisch-juristischen Landnahme und Kolonisierung auf dem Terrain der Seelenlandschaft. Zwei Tendenzen lassen sich seit einigen Jahren erkennen: die Ausweitung der Kampfzone und das „Gefährder-Fishing“.
Ausweitung der Kampfzone
Um Anzahl und Unterbringungsdauer der nach § 63 StGB im MRV Untergebrachten zu bremsen, verschärfte der Gesetzgeber 2016 die Kriterien für die Verhältnismäßigkeitsprüfung (§ 67 StGB) vor allem nach sechs- oder zehnjähriger Aufenthaltsdauer. Was dann passierte, ist dem Kerndatensatz für den MRV zu entnehmen. Zunächst sank, wie vom Gesetzgeber beabsichtigt, die Zahl der Untergebrachten von 5.734 (2016) auf 5.397 (2019), um dann wieder kontinuierlich auf 5.798 (2021) anzusteigen und damit das Niveau von 2016 zu übertreffen. Eine Absenkung der durchschnittlichen Aufenthaltsdauer von neun Jahren wurde durch die Gesetzesänderung nicht erreicht.[2]
Es scheint also, als ob Judikative und Exekutive nach einem ersten Schock dem Gesetzgeber klarmachen, dass sie sich von ihm das Geschäft nicht verderben lassen. Das belegt die These, dass den systemischen Fehlleistungen des MRVs mit kleinen Reformschritten nicht beizukommen ist.[3]
Weitgehend unbemerkt von einer größeren (Fach-)Öffentlichkeit hat der Gesetzgeber zum 1.Oktober 2023 zudem die Möglichkeit zur Erteilung von psychiatrischen, psychotherapeutischen und sozio-therapeutischen Therapieweisungen in das StGB (§ 56c) und die Strafprozessordnung (§ 153a StPO) eingebaut. Beide Weisungsmöglichkeiten haben mehr oder weniger starken Zwangscharakter. Denn, wer Weisungen nach § 56c StGB nicht nachkommt, hat Sanktionen zu erwarten, die von einer Geld- bis zu einer dreijährigen Freiheitsstrafe reichen (§ 68b StGB). Und Weisungen nach § 153a StPO (Verfahrensaussetzung aus Opportunitätsgründen) stehen unter der Androhung, dass bei Nichteinhaltung der Therapieweisungen das Strafverfahren von der Staatsanwaltschaft wiedereröffnet wird. Im Unterschied zum MRV gelten diese Regelungen für Menschen, deren Straftat in keinem Zusammenhang mit ihrer psychosozialen Behinderung steht.
Hinzu kommt, dass das Bundesverfassungsgericht 2024 in einer Entscheidung zum Betreuungsrecht im BGB erlaubte, Zwangsmaßnahmen, die bisher psychiatrischen Fachkrankenhäusern vorbehalten waren, jetzt auch im Heimbereich durchzuführen.[4] Und in Niedersachsen wurde – begründet mit dem angeblichen Mangel an psychiatrisch erfahrenen Ärzt*innen – im Mai 2024 ein Gesetz beschlossen, demzufolge alle approbierten Ärzt*innen (vorher: nur Ärzt*innen mit Erfahrung auf dem Gebiet der Psychiatrie) Zeugnisse zur Zwangsunterbringung ausstellen können.[5]
Gefährder-Fishing
Neben der ambulanten Zwangstherapie werden unter dem Stichwort „Deliktprävention“ auch umfangreiche Sicherheitschecks in Form von forensischen Gutachten in der Allgemeinpsychiatrie im Vorfeld noch nicht stattgefundener Straftaten propagiert. So empfahl 2019 eine Gutachterin der Sicherheitskommission des Landes Nordrhein-Westfalen (NRW), vor der Entlassung potentiell gefährlicher Patient*innen ein forensisches Gefährlichkeitsgutachten zu erstellen.[6] Eigentlich ein Witz, denn sie sollte wissen, dass bei der geringen Basisrate für Gewaltdelikte von psychisch Erkrankten damit in Kauf genommen würde, für eine richtig positive Feststellung 1.000 Menschen zu Unrecht als gefährlich zu denunzieren.
Die Folgen wären, dass Kliniken für Allgemeinpsychiatrie eine Entlassung nicht von medizinischen und therapeutischen Erwägungen abhängig machten, sondern von Gefährlichkeitsprognosen forensischer Gutachter*innen und gezwungen würden, ihre ärztliche Schweigepflicht aufzugeben. Damit würde die Allgemeinpsychiatrie „vermaßregelt“ und zur Stigmatisierungsmaschine für psychosozial behinderte Menschen werden.
Besondere Brisanz entfalten diese Entwicklungen, wenn sie anlässlich der Attentate von Magdeburg im Dezember 2024 und Aschaffenburg im Januar 2025 von Politiker*innen rechtspopulistischer und bürgerlicher Parteien zum Vorwand genommen werden, unter Missachtung von Grundgesetz und Menschenrechten nach einer neuen „Gefährderkategorie“ zu rufen und den Überwachungsstaat beschleunigt auszubauen.[7]
Risiken bei einer psychischen Beeinträchtigung
Dabei ist die hier ins Visier genommene Bevölkerungsgruppe bereits jetzt erheblichen Gewalt- und Gesundheitsrisiken ausgesetzt. Das Risiko für Menschen mit psychischer Erkrankung, einem Tötungsdelikt zum Opfer zu fallen, ist sechsmal höher.[8] Bei Körperverletzungen ist dieses Risiko für Frauen sechsmal und für Männer 2,5-mal höher.[9] Bei tödlichen Unfällen ist das Risiko zweimal höher,[10] bei Suiziden sogar zehn- bis sechszehnmal höher als in der Allgemeinbevölkerung.[11] Dazu kommen spezielle Gesundheitsrisiken wie Mortalität durch Neuroleptika. In einer prospektiven Studie wurde ein Anstieg der Mortalität um das relative Risiko von 2,5 mit jedem verordneten Neuroleptikum festgestellt.[12] Auch die Wahrscheinlichkeit, eher zu sterben, ist mehr als verdoppelt (2,2-mal), die Lebenserwartung um 14,5 Jahre verkürzt.[13] Die Schere des Mortalitätsrisikos hat sich in den vergangenen Jahren weiter zu Lasten von Menschen mit psychosozialen Behinderungen geöffnet.[14]
Gefährlicher Maßregelvollzug
Der MRV ist in den letzten Jahren stark in die Kritik geraten. Er wächst ungebremst, produziert besondere Gesundheitsrisiken, und es gibt deutliche Zweifel an der Aussagekraft der gutachterlichen Schuldunfähigkeits- und Gefährlichkeitsdiagnosen. Seine legalprognostische Wirkung ist zu bezweifeln, seine Gewaltproduktion ist systemisch bedingt und Menschenrechtsverletzungen sind regelmäßig dokumentiert.[15] Im Gegensatz zum Strafvollzug, dessen Zahl der Inhaftierten in den Jahren 2000 bis 2023 von 70.252 auf 57.955 Jahren stark gesunken ist,[16] hat sich im gleichen Zeitraum die Anzahl der Untergebrachten im MRV von 2.500 auf 6.900 fast verdreifacht. Ihre durchschnittliche Unterbringungsdauer verlängerte sich von fünf auf neun Jahre.[17]
Die Todesfälle im und in Folge von MRV nehmen zu. Ein spezifisch forensisches Mortalitätsrisiko belegt eine schottische Studie. Sie untersuchte eine Gruppe von 241 Patient*innen, die 1992/93 in einem Hochsicherheitskrankenhaus in Schottland untergebracht waren, und verglich deren Mortalitätsdaten mit denen der Allgemeinbevölkerung. Ergebnis: Während einer durchschnittlichen Nachbeobachtungszeit von 21,1 Jahren starben 36,9 % (n = 89) in einem Durchschnittsalter von 55,6 Jahren. Von ihnen starben 70,8 % (n = 63) vorzeitig. Männer verloren im Durchschnitt 14,9 Jahre und Frauen 24,1 Jahre ihres potenziellen Lebens. Als speziell forensischer Risikofaktor, der neben und unabhängig von anderen zur Verkürzung der Lebensdauer beitrug, stellte sich die Unterbringungsdauer in der geschlossenen Einrichtung heraus.[18]
Gefährliche Gefährlichkeitsprognostik
Voraussetzung für die Unterbringung im MRV ist ein gutachterliches Attest der individuellen zukünftigen Gefährlichkeit der Unterzubringenden. Bei der geringen Basisrate von Gewaltdelikten psychosozial behinderter Menschen ist die individuelle Gefährlichkeitsprognose mit einer hohen Fehlerquote behaftet. Empirisch belegt dies eine Arbeit, die die Rückfalldelinquenz von 115 Insass*innen des MRVs erhob, die aus Gründen der Verhältnismäßigkeit entlassen werden mussten. Allen war zum Entlassungszeitpunkt von Gutachter*innen und Therapeuten*innen attestiert worden, dass sie zukünftig gefährlich sein werden. Alle wurden gegen den Rat der Einrichtung entlassen. Ergebnis: Von den 115 entlassenen Männern und Frauen wurden bei einer Nachbeobachtungsdauer von drei Jahren nur 21 (18,26 %) mit einer Gewaltstraftat rückfällig.[19] Das bedeutet zweierlei: Erstens sind im MRV wahrscheinlich etwa 80 % der Untergebrachten fehlplatziert, da die Gutachter*innen ihnen fälschlicherweise eine Gefährlichkeit attestieren. Zweitens: Der MRV erzielte keine bessere legalprognostische Wirkung als der Strafvollzug, für den erhoben wurde, dass nach einer neunjährigen Nachbeobachtungszeit die Rückfalldelinquenz für Gewaltdelikte 16,1 % betrug.[20] Ein selbstkritischer Gutachter kam deshalb zu dem Schluss, dass man das Honorar für Gefährlichkeitsgutachten besser für die soziale Integration der Entlassenen ausgeben sollte.[21]
Systemische Gewaltproduktion
Die Verwahrungspraktiken im MRV produzieren Gewalt. Der Nachteinschluss (alle Patienten*innen einer Station werden nachts in ihren Zimmern eingeschlossen) wird in 50 % der deutschen MRV-Kliniken praktiziert.[22] Die Häufigkeit von isolierenden Zwangsmaßnahmen ist sowohl Indikator als auch Ursache: So wurden etwa in zwei forensischen Kliniken in Baden-Württemberg in den ersten vier Wochen ihrer Unterbringung 37,5 % der Insass*innen in Isolierzellen zwangsabgesondert. Über die gesamte Dauer der Unterbringung wurden Zwangsmaßnahmen (Isolierung, Fesselung an das Bett, Zwangsmedikation) bei 70 % der Patient*innen durchgeführt, was Abwehrhaltung und Widerstand bewirken kann.[23] Eine Umfrage an allen deutschen MRV-Kliniken kommt zu nahezu identischen Ergebnissen.[24] Die Stichtagserhebung eines großen Trägers forensischer Kliniken ergab, dass in seinen Einrichtungen 75 Internierte länger als sieben Tage in einer Isolierzelle abgesondert waren, mehr als die Hälfte davon (N = 41) länger als drei Monate und 28 sogar länger als ein Jahr.[25]
Menschenrechtsverletzungen im Maßregelvollzug
Entsprechend kritisch war das Urteil der Nationalen Stelle zur Verhütung von Folter,[26] die 2023 den MRV zum Schwerpunkt ihrer Besuchstätigkeit gemacht hatte und anschließend meldete, dass sie „auf gravierende Situationen und eine große Anzahl problematischer Sachverhalte … von struktureller, systematischer oder situationsbedingter Natur“ gestoßen sei:[27] Aus einer Klinik in NRW berichtete sie, dass alle Personen mit niedrigem Freiheitsgrad während der Freistunden im Garten und auf dem Weg dorthin mit metallenen Handschellen gefesselt wurden. In Einrichtungen in Baden-Württemberg, Bayern, Niedersachsen und NRW traf die Stelle Menschen an, die über mehrere Monate hinweg in Kriseninterventionsräumen untergebracht waren, in denen sich keine Toilette befand, sondern lediglich Urinflaschen oder Steckbetten, und die Betroffenen beim Verrichten der Notdurft teilweise vollumfänglich kameraüberwacht wurden. In anderen Einrichtungen stieß sie auf mehrfachbelegte Patient*innenzimmer, in denen Toiletten nicht oder lediglich durch einen Vorhang abgetrennt waren. Bei einer Vielzahl von Einrichtungen monierte die Stelle menschenrechtswidrige Isolationszeiten: In Kliniken in Hessen und NRW stieß sie sogar auf mehrjährige Absonderungen, bei denen Betroffene bis zu 24 Stunden täglich in den Kriseninterventionsräumen isoliert wurden.
Zudem berichtete sie von unzureichender Personalausstattung und verfassungswidrigem Landesrecht: In der Forensischen Psychiatrie in Essen (NRW) lagen Dutzende Gefährdungsanzeigen wegen ungenügender Besetzung vor, so dass die Aufsichtspflicht nur unzureichend wahrgenommen werden konnte, längere Einschlusszeiten stattfanden und z. B. Hygienemaßnahmen aufgeschoben wurden. In Berlin und dem Saarland waren die Gesetze zur Fixierung im MRV auch sechs Jahre nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Juli 2018 noch nicht an die daraus hervorgehenden Mindestanforderungen angepasst, die u. a. einen Richtervorbehalt und Eins-zu-eins-Betreuung durch therapeutisches oder pflegerisches Personal vorsehen.
Fazit
Dass Patient*innen im MRV sehr viel häufiger von systemischer Gewalt und Menschenrechtsverletzungen betroffen sind, als dass sie selbst gewalttätig werden, wird in der akademischen und öffentlichen Diskussion weitgehend ignoriert.[28] Vielmehr fokussiert das Forschungsinteresse auf gewalttätige Patient*innen und trägt damit zusätzlich zur Ausbildung negativer Stereotypen bei.[29]
Dabei haben sich die vorherrschenden Diskursfiguren, mit denen der politische Missbrauch psychosozial behinderter Menschen legitimiert wird, im Lauf der Jahre verändert: Im deutschen Faschismus wurde mit der Propagandafigur vom „asozialen/psychisch kranken Schmarotzer am Volkskörper“ das Gewohnheitsverbrechergesetz lanciert, das eine Voraussetzung zur Freigabe der Ermordung dieser Personengruppe war. Heute bedient sich die Internationale faschistischer, rechtspopulistischer und bürgerlicher Politiker*innen der Diskursfigur des „psychisch kranken Gefährders“ der „unsere“ soziale und kulturelle Identität und Ordnung zerstört und deshalb vorbeugend weggesperrt gehört.