Europäisches Krisenmanagement – Die Polizei im Windschatten des Militärs

von Tony Bunyan und Heiner Busch

Weil die EU „auf der internationalen Bühne uneingeschränkt mitspielen“ will, entwickelt sie seit 1999 Konzepte und Ressourcen für militärische Auslandseinsätze. Das hat auch Konsequenzen für die Polizei.

„Wir verfügen über eine große Zahl von Instrumenten,“ so drohten die Staats- und Regierungschefs der EU – der Europäische Rat – auf ihrer Juni-Tagung in Thessaloniki. Um die „Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen“ durchzusetzen, kämen als „letztes Mittel“ auch „Zwangsmaßnahmen im Einklang mit der Charta der Vereinten Nationen“ in Frage.[1] Nur wenige Wochen, nachdem sich Frankreich und Deutschland gegen eine Beteiligung am Irak-Krieg gewehrt haben, herrschte in der EU Einigkeit, dass in vergleichbaren Fällen die Androhung und der Einsatz militärischer Gewalt durchaus zum Repertoire gemeinsamer Politik gehören. Die Erklärung von Thessaloniki ist nur der vorläufige Höhepunkt auf dem Weg der EU zur Militärmacht.

Die vertraglichen Grundlagen der „Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ wurden bereits im 1997 unterzeichneten Amsterdamer Vertrag geschaffen. Dessen Artikel 17 erhob die Westeuropäische Union (WEU), der nur zehn der 15 EU-Staaten angehören, zum „integralen Bestandteil der Entwicklung“ der EU: Die WEU „eröffnet der Union den Zugang zu einer operativen Kapazität.“ Im selben Artikel mit übernommen wurden die Aufgaben, die sich die WEU auf ihrer Petersberger Ministerratstagung im Juni 1992 gesetzt hatte: „humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, friedenserhaltende Aufgaben sowie Kampf­einsätze bei der Krisenbewältigung einschließlich friedensschaffender Maßnahmen.“ Das gesamte Spektrum möglicher „out of area“-Einsätze war damit erfasst.

Der Amsterdamer Vertrag trat im Mai 1999 in Kraft. Im September desselben Jahres kürten die EU-Außenminister Javier Solana – bis dahin Nato-Generalsekretär – zum Hohen Vertreter der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU und zum Generalsekretär des Rates. Im November übernahm Solana das gleiche Amt für die WEU. Deren Ministerrat lieferte bei dieser Tagung in Luxemburg gleichzeitig das Gegenstück zu Art. 17 des Amsterdamer Vertrages: Er eröffnete dem Rat der EU den Zugang zum Expertenwissen der WEU und zu ihren „operationalen Strukturen“, d.h. ihrem Sekretariat, ihrem Militärstab, dem Satelliten-(Spionage-)Zentrum in Torrejón (Spanien) und dem Institut für Sicherheitsstudien in Paris.[2] Damit waren sowohl die Personalunion an der Spitze als auch die rechtliche Integration des Militärbündnisses WEU und der bis dahin zivilen Europäischen Union vollzogen.

Als eigenständige Aufgabe blieb der WEU nur noch die „kollektive Verteidigung“ im Falle eines höchst unwahrscheinlichen Angriffes auf einen ihrer Mitgliedstaaten. Die Weiterentwicklung der „Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität“, die die NATO ihren Europäischen Mitgliedstaaten im Laufe der 90er Jahre zugestanden hatte, vollzog sich nun im Rahmen der EU – und zwar unter dem Titel des „Krisenmanagements“. Wenn es darum gehe, auf Krisensituationen zu reagieren, so heißt es schon in den Schlussfolgerungen der Europäischen Rats von Köln im Juni 1999, müsse der Rat in die Lage versetzt werden, „Beschlüsse über das gesamte Spektrum der ihm zur Verfügung stehenden politischen, wirtschaftlichen und militärischen Instrumente zu fassen.“ Dies erfordere „autonome Handlungsfähigkeiten, die sich auf glaubwürdige militärische Fähigkeiten und geeignete Beschlussfassungs­gremien stützen … Dies ist der Bereich, in dem die Handlungsfähigkeit Europas am vordringlichsten ist.“

Militärische Gremien

Die entsprechenden „Fähigkeiten“ und Beschlussgremien wurden seit 1999 Stück für Stück aufgebaut – und zwar sowohl im Bereich der militärischen als auch in jenem der „nichtmilitärischen Krisenbewältigung“. Über die Struktur der militärischen Gremien hatte sich der Europäische Rat bereits in Köln grundsätzlich geeinigt. Ein halbes Jahr später beschloss er in Helsinki deren „interimistische“ Einsetzung zum 1. März 2000. Im Januar 2001 folgten die Ratsbeschlüsse, die aus der vorläufigen eine definitive Organisation machten.[3] (Siehe die Grafik auf Seite 20.) Die Zweite Säule der EU, die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), war damit auf allen Ebenen militärpolitisch unterfüttert:

  • Die Verteidigungsminister nehmen – je nach Bedarf und Thema – an den Tagungen des allgemeinen Rats, d.h. der Außenminister der Mitgliedstaaten teil.
  • Neben dem Politischen Komitee, der unter der ministeriellen Ebene angesiedelten leitenden Ratsarbeitsgruppe für die Außenpolitik, entstand ein „Politisches und Sicherheitspolitisches Komitee“ (PSK) – ein ständiger Ausschuss in Brüssel, der nun zum führenden Gremium sowohl für die militärische als auch für die „nichtmilitärische“ Krisenbewältigung wurde. In Krisenzeiten hat der Generalsekretär des Rates den Vorsitz dieser Arbeitsgruppe.
  • Der Militärausschuss (EUMC) vereinigt die Generalstabschefs der Mitgliedstaaten bzw. ihre Vertreter. Er traf sich zum ersten Mal am 11. Mai 2000, damals noch als „Chiefs of Defense Services“ (CHODS). Dieser Ausschuss soll dem PSK in militärischen Fragen beratend zur Seite stehen. Im Krisenfall gibt er dem PSK Empfehlungen bezüglich den vom „Operation Commander“ erstellten Dokumenten ab – dem Operationskonzept und dem Operationsplan. Den Vorsitz im EUMC führt jeweils für drei Jahre ein Vier-Sterne-General bzw. -Admiral.
  • Dem Generalsekretär des Rates unterstellt ist ein Militärstab (EUMS), bestehend aus von den Mitgliedstaaten abgeordneten militärischen Experten. Er befasst sich mit „der Frühwarnung, der Lagebeurteilung und der strategischen Planung“. Im Krisenfall erarbeitet er militärische Optionen und wählt die Truppenteile aus, die bei einer Operation zum Einsatz kommen sollen. Den Vorsitz führt hier ein Drei-Sterne-General.

Ebenfalls dem Generalsekretär direkt unterstellt sind eine „Strategieplanungs- und Frühwarn-Einheit“ sowie das „gemeinsame Lagezentrum“. In der für die GASP zuständigen Generaldirektion E des Ratssekretariats befassen sich darüber hinaus die Direktionen VII und VIII mit militärischen Fragen. Der Direktion VIII angegliedert sind ferner das Satellitenzentrum und das Institut für Sicherheitsstudien, die zum 1. Januar 2002 aus der WEU aus- und in die EU eingegliedert wurden.

„Nichtmilitärische“ Gremien

Wer bisher geglaubt hat, das Gegenstück zu „militärisch“ sei „zivil“, den belehrt die EU eines Besseren. In den Dokumenten, die der Europäische Rat, der (Minister-)Rat und seine Arbeitsgruppen sowie die Kommission seit 1999 in Sachen „Krisenbewältigung“ produziert haben, ist fast durchgängig von einer „nichtmilitärischen“ Bearbeitung die Rede. Und das mit gutem Grund: Die entsprechenden Gremien und Verwaltungseinheiten wurden nämlich nicht aus der bestehenden humanitären Hilfsorganisation der Kommission (ECHO) entwickelt, sondern entstanden als Anhängsel der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik.

Bereits beim Helsinki-Gipfel im Dezember 1999 stand die „nicht-militärische Krisenbewältigung“ auf der Tagesordnung. In dem dort verabschiedeten Aktionsplan heißt es: „Bei der Schaffung einer Fähigkeit zur raschen Reaktion auf Krisen ist die Entwicklung von Kapazitäten für nichtmilitärische Polizeikräfte vordringlich anzugehen.“ Erst danach folgten – in der Reihenfolge der Prioritäten – die Hilfe bei der Wiederherstellung rechtsstaatlicher Verhältnisse und damit die Entsendung von Personal aus dem (Straf-)Justizbereich, die Unterstützung für zivile Verwaltungen und schließlich die Katastrophenhilfe. Die Gremienstruktur und die Entscheidungsverläufe sind dabei parallel zum militärischen Bereich organisiert:[4]

  • Das PSK ist auch hier die zentrale Arbeitsgruppe des Rates. Es entscheidet – u.a. auf der Basis von Informationen des Frühwarnzentrums –, ob überhaupt ein Handlungsbedarf existiert. Es wählt nicht nur „militärstrategische Optionen“ (MSO), sondern auch polizeistrategische (PSO) oder andere zivile strategische Optionen aus und unterbreitet dem Rat (bzw. dem Ausschuss Ständiger Vertreter) beschlussreife Vorlagen.
  • Dem EUMC auf der militärischen Seite entspricht ein „Ausschuss für die nichtmilitärischen Aspekte der Krisenbewältigung“ (CIVCOM), der im Frühjahr 2000 unter portugiesischer Präsidentschaft eingesetzt wurde. Er berät das PSK und evaluiert im Krisenfall die polizeilichen und zivilen strategischen Optionen, die von den Stäben des Ratssekretariats ausgearbeitet wurden. Zu letzteren gehören:
  • Ein „Mechanismus“ für die Koordination militärischer und nichtmilitärischer Krisenbewältigung, angesiedelt in der für die GASP zuständigen Generaldirektion E des Rates. Dessen Einrichtung war bereits in dem zitierten Aktionsplan des Europäischen Rats von Helsinki beschlossen worden. Er soll u.a. die „säulenübergreifende Kohärenz“ des Krisenmanagements gewährleisten, d.h. den Kontakt zur Kommission halten.
  • Ein Polizeireferat, das im Frühjahr 2001 aufgebaut wurde. Auch dieses ist in der Generaldirektion E angesiedelt. Fragen der Polizeikooperation in der EU sind stattdessen Gegenstand der „dritten Säule“ – Justiz- und Innenpolitik –, deren Arbeiten von der Generaldirektion H des Ratssekretariats unterstützt werden.[5]
  • Im Frühjahr 2001 erhielt auch die Kommission ihren „Krisenreaktionsmechanismus“, der für die schnelle Koordination der einschlägigen Programme der Gemeinschaft sorgen soll. Darin inbegriffen sind durch die Kommission finanzierte Projekte von Nicht-Regierungsor­ga­ni­sa­tionen. Der Krisenreaktionsmechanismus kann u.a. aus­gelöst werden, wenn eine Situation „eintritt oder sich anbahnt“, die „die öffentliche Sicherheit und Ordnung und die Sicherheit der Menschen bedroht“, angesichts der Gefahr eines „bewaffneten Konfliktes“ oder der Destabilisierung eines Landes. Bevor die Kommission „den Beschluss fasst, tätig zu werden“, muss sie gemäß der Verordnung über ihren „Mechanismus“ den Rat, konkret: seinen außen- und militärpolitischen Zweig, konsultieren. Auch bei der „Durchführung ihrer Maßnahme trägt die Kommission der Ausrichtung des Rates gebührend Rechnung, um die Kohärenz des außenpolitischen Handelns der Europäischen Union zu gewährleisten.“[6]

 

Bunyan-Busch, EU-Militär und PolizeiDas humanitäre Hilfsprogramm der Kommission fällt dagegen nur in Ausnahmefällen in die Zuständigkeit des „Krisenreaktionsmechanismus“. ECHO – so erklärte die Kommission in ihrer vorbereitenden Mitteilung – sei „politisch neutral“ und „nur auf die Linderung menschlichen Leids“ ausgerichtet. Nicht berücksichtigt hat der Rat auch das vom Europäischen Parlament bereits in einer Empfehlung vom Februar 1999 geforderte Europäische Zivile Friedenscorps: Dessen Aufgaben hätten „ausschließlich ziviler Art“ sein sollen. Es hätte verhindern sollen, „dass Krisensituationen zu gewaltsamen Konflikten eskalieren, indem es die Möglichkeiten der Zivilgesellschaft voll ausschöpft.“[7]

Militärische „Fähigkeiten“

Das „Planziel“ für die militärischen Kapazitäten der EU gab schon der Helsinki-Gipfel im Dezember 1999 aus: Bis 2003 sollten die Mitgliedstaaten „im Rahmen ihrer freiwilligen Zusammenarbeit in der Lage sein, bei entsprechenden Operationen Streitkräfte bis zur Korpsgröße (d.h. bis zur Stärke von 15 Brigaden bzw. einer Stärke von 50.000 bis 60.000 Personen)“ zu mobilisieren, um die so genannten Petersberg-Aufgaben wahrnehmen zu können – „einschließlich von Aufgaben mit größten Anforderungen“, d.h. von Kampfeinsätzen. „Die Mitgliedstaaten sollten in der Lage sein, … innerhalb von 60 Tagen die Streitkräfte in vollem Umfange zu verlegen und in diesem Rahmen Krisenreaktionskräfte in kleinerem Umgang vorzusehen, die mit einem sehr hohen Bereitschaftsgrad verfügbar und verlegbar sind. Sie müssen in der Lage sein, eine solche Verlegung für mindestens ein Jahr aufrecht zu erhalten.“ Letzteres erfordert eine Reserve von weiteren 100.000 Soldaten. Am Ende dieses Prozesses sollte zwar nicht eine EU-Armee stehen, wohl aber die Möglichkeit, aufeinander abgestimmte („interoperable“) Truppen aus den Mitgliedstaaten unter einem gemeinsamen Kommando in EU-geführte Einsätze zu schicken. „Interoperabilität“, Mobilität, Flexibilität, schnelle „Krisenreaktion“ – diese Stichworte prägen nicht nur die Strategie der NATO nach Ende des Kalten Krieges, sie sollten nun auch der EU autonome militärische Handlungsfähigkeit verschaffen.

Im November 2000 fand in Brüssel eine erste „Beitragskonferenz“ statt, bei der die Mitgliedstaaten Angaben machten, wie viele Soldaten und welche Truppenteile sie für EU-geführte Militäroperationen zur Verfügung stellen könnten. Die Ergebnisse werden seitdem in einem „Streitkräftekatalog“ zusammengestellt, der kontinuierlich fortgeschrieben wird. Im Herbst 2001 soll dieser Pool über 100.000 Soldaten, ca. 400 Kampfflugzeuge und 100 Schiffe umfasst haben. Die größten Kontingente stammten dabei aus Deutschland (13.500 Mann Bodentruppen, 20 Schiffe und 93 Flugzeuge), Großbritannien (12.500 Mann Bodentruppen, 18 Schiffe, 72 Flugzeuge), Frankreich (12.000 Mann Bodentruppen, 15 Schiffe, 47 Flugzeuge) und Italien (12.000 Mann Bodentruppen, 19 Schiffe, 47 Flugzeuge).[8] Im Mai dieses Jahres teilte Bundesverteidigungsminister Peter Struck mit, den in der Zwischenzeit erheblich gestiegenen deutschen Anteil auf 33.000 Soldaten festsetzen zu wollen, von denen 18.000 sofort mobilisierbar sein würden.[9]

Schon auf dem Laekener Gipfel im Dezember 2001 verkündeten die Regierungen der Mitgliedstaaten, die Union sei „nunmehr in der Lage, Operationen zur Krisenbewältigung durchzuführen.“ Tatsächlich hieß das nichts anderes, als dass das in Helsinki gesetzte Planziel quantitativ erreicht war. Dies hatte eine erneute Beitragskonferenz einen Monat zuvor festgestellt. Sie machte aber gleichfalls klar, dass in qualitativer Hinsicht nach wie vor „bedeutende Defizite (bestehen), insbesondere was Einrichtungen und kollektive Fähigkeiten betrifft.“[10]

Im Klartext hieß das, dass die EU hinsichtlich „Transport, Luftbetankungsfähigkeit, Satellitenaufklärung, Abstandswaffen und nicht zuletzt Kommando- und Gefechtsführungssysteme“ auf die von den USA bereitgestellten NATO-Einrichtungen und -Fähigkeiten angewiesen war und vermutlich auch heute noch ist.[11] Um diese Defizite auszugleichen, beschloss der Laekener Gipfel einen „Aktionsplan über die Fähigkeiten“ (ECAP – European Capability Action Plan), auf dessen Grundlage eine Vielzahl von Einzelprojekten in Angriff genommen wurde.

Gleichzeitig verstärkte man die Verhandlungen zwischen PSK und Nato-Rat über die Benutzung von NATO-Ressourcen. Die „Crisis Management Procedures“ der EU sehen daher auch zwei Varianten militärischer Einsätze vor: mit Beteiligung der NATO und ohne.[12] In beiden Fällen sollen sich auch die nicht der EU angehörenden europäischen NATO-Staaten an EU-geführten Militäreinsätzen beteiligen können.

Polizeiliche „Fähigkeiten“

Ihr polizeiliches Planziel formulierte die EU im Juni 2000 auf dem Gipfeltreffen in Santa Marie da Feira: Bis 2003 wollten die Mitgliedstaaten in der Lage sein, „im Rahmen einer freiwilligen Zusammenarbeit bis zu 5.000 Polizeibeamte für internationale Missionen im gesamten Spek­trum von Operationen der Konfliktverhütung und Krisenbewältigung bereitzustellen. Die Mitgliedstaaten haben außerdem zugesagt, dafür zu sorgen, dass sie innerhalb von 30 Tagen bis zu 1.000 Polizeibeamte bestimmen und einsetzen können.“ Auch hier ging es nicht nur um die Quantität. Die EU sollte vielmehr dazu befähigt werden, eigene polizeiliche „Krisenmanagement-Operationen“ zu übernehmen und/oder in UN- oder OSZE-geführten Missionen einen erkennbar eigenständigen Beitrag zu leisten.

Die Teilnahme vor allem an CIVPOL-Missionen der UN war für die EU-Staaten nichts grundsätzlich Neues. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass die Zahl der entsandten Polizisten aus EU-Staaten zum Teil weit unter den Kontingenten mancher Dritte-Welt-Staaten liegt. „Deutschland stellt häufig ausgebildete nichtmilitärische Polizei für Maßnahmen und Missionen der UN, der WEU und der OSZE ab“, hieß es in einer Bilanz des „nicht-militärischen Krisenreaktionsinstrumentariums“, die der Kölner EU-Gipfel im Juni 1999 bestellt hatte. Vor allem der Bundesgrenzschutz, aber auch die Polizeien der Länder beteiligen sich seit 1989 an internationalen Einsätzen. Im Herbst 1999 waren rund 400 deutsche Polizisten in solchen Missionen unterwegs. Dänemark hatte zu diesem Zeitpunkt 80 Beamte entsandt, Schweden 180, die Niederlande 70 Angehörige der dem Verteidigungsministerium unterstellten Marechaussee und eine weitere „Gruppe von Beamten der nichtmilitärischen Polizei“, Spanien 42 Beamte der Policía Nacional und weitere 180 der Guardia Civil. Italien gab an, dass es jährlich „etwa 70“ Polizisten aus den diversen Polizeicorps für internationale Einsätze ausbilde.[13]

Derartige Einsätze haben seit Ende des Kalten Kriegs stark an Bedeutung zugenommen. Im Rahmen der „friedenserhaltenden Maßnahmen“ der Vereinten Nationen hat die Wiederherstellung bzw. Sicherung der inneren Ordnung eines Landes gegenüber dem traditionellen Blauhelmeinsatz in zwischenstaatlichen Konflikten ein erheblich größeres Gewicht erhalten. Dementsprechend verschob sich auch das Verhältnis zwischen den an „peace keeping operations“ beteiligten Soldaten und Polizisten[14]:

Jahr Operationen Soldaten Polizeibeamte
1994 16 67.776 1.153
1999 16 10.582 2.539
2000 19 12.710 4.613
2001 16 29.646 7.957
2002 16 36.908 7.554
2003 15 32.032 5.332

Verändert hat sich auch die Größe der einzelnen Missionen. In Ost-Timor (UNTAET) hatte die UN 1.167 Polizisten im Einsatz, in Bosnien (UNMIBH) 1.622 und in Kosovo (UNMIK) 4.718. In Kosovo bestand das Mandat der internationalen Polizeitruppe erstmals nicht nur in der Überwachung der Einsätze der lokalen Polizei und in deren Schulung. Die UNMIK-Polizei hatte vielmehr die Aufgabe, selbst „Recht und Ordnung“ herzustellen, nachdem die jugoslawische Polizei abgezogen worden war. Auf einem EU-Seminar über „die Rolle der Polizei in friedenserhaltenden Operationen“ Ende Mai 2000 machte der damalige UNMIK-Polizei-Kommissar, Sven Fredriksen, deutlich, dass die exekutiven Befugnisse nicht bei der schrittweise aus „jungen Leuten und ehemaligen UÇK-Mitgliedern“ neu aufgebauten lokalen Polizei lagen, sondern bei der internationalen Polizeitruppe.[15]

„Friedenserhaltend“ war der UNMIK-Polizeieinsatz insofern, als der Krieg bereits beendet war – ein Krieg, der bezeichnenderweise nicht mit UN-Mandat, sondern als NATO-Angelegenheit geführt worden war. Fredriksen belobigte auf dem genannten Seminar denn auch die KFOR für ihren „remarkable job“. Polizei und Militär arbeiteten eng zusammen und zwar „nach dem Vorbild der Joint Security Operations“ von britischer Armee und Royal Ulster Constabulary in Nordirland. Den Zusammenhang von militärischer und polizeilicher Ordnungswahrung betonte bei derselben Gelegenheit auch Bob Gifford, ein Vertreter des US-State Department: „Zwischen der Entsendung von Militär und Polizei sollte keine Lücke entstehen. Die Verlegung polizeilicher Einheiten muss rasch erfolgen und die öffentliche Ordnung so schnell wie möglich wiederhergestellt werden, um eine Ausbreitung von Kriminalität zu verhindern.“ Die Verlegung polizeilicher Einheiten sollte gleichzeitig mit dem militärischen Einsatz geplant werden, so lautete Giffords Empfehlung für die Planung von „Kriseneinsätzen“ der EU.

Der Rat, Militär und Polizei bei internationalen Einsätzen eng zu verzahnen, stieß in der EU auf offene Ohren. Bereits im Januar 2000 hatten sich in Paris Offiziere von Polizeikorps getroffen, die allesamt dem jeweiligen Militärministerium unterstellt sind. Die beteiligten Vertreter aus Spanien, Italien, Portugal und  Frankreich schlugen den Aufbau einer „force européenne de sécurité et investigation“ (FESI) vor, die bei internationalen Missionen zum Einsatz kommen sollte. Dieses Corps sollte zunächst in der Phase der „Intervention“ neben und mit dem Militär handeln, dann in einer Periode des „Übergangs“ schrittweise die Verantwortung für die öffentliche Sicherheit übernehmen und diese schließlich im Rahmen der „Stabilisierung“ an die lokale Kriminalpolizei übergeben. Die FESI sollte sich an dem von der NATO entwickelten und von den italienischen Carabinieri umgesetzten Modell der „Multinational Special Units“ orientieren. „Wo eine legitime Staatsgewalt fehlt, haben paramilitärische Polizeien die Fähigkeit, die öffentliche Ordnung wiederherzustellen. Sie verfügen über die notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten, um in Situationen des Zerfalls als Komponente der Streitkräfte zu agieren.“[16]

In nachfolgenden Dokumenten der EU findet das FESI-Modell zwar keine Erwähnung mehr. Die Beitragskonferenz in Sachen Polizei im November 2001 bekräftigte jedoch, dass „die zugesagten polizeilichen Fähigkeiten sowohl Polizeikräfte mit zivilem Status als auch Polizeikräfte mit militärischem Status vom Typ ‚Gendarmerie‘ (umfassen). Bei einer Operation, bei der militärische und polizeiliche Komponenten zum Einsatz kommen, erfordert das Handeln der EU im Spektrum der Petersberg-Aufgaben eine starke Synergie zwischen den polizeilichen und den militärischen Komponenten einer solchen Operation.“[17]

Auch der Polizei-Aktionsplan, den der Europäische Rat im Juni 2001 in Göteborg verabschiedete, hatte eine enge „zivil-militärische Koordination“ gefordert.[18] Auf der politisch-strategischen Ebene seien Arrangements für die Planung und Führung von Polizeioperationen zu schaffen. Die EU sollte die Fähigkeit zum schnellen Aufbau von Hauptquartieren entwickeln, rasch integrierte Polizeieinheiten aus verschiedenen Mitgliedstaaten auf die Beine stellen und für die notwendigen Schnittstellen zwischen den polizeilichen und militärischen Komponenten sorgen können. Wie bereits im militärischen Bereich so ist auch hier von der „Inter­operabilität“ von Einheiten aus den verschiedenen Ländern die Rede. Dafür sollten insbesondere die gemeinsamen Kriterien für Auswahl, Ausrüstung und Ausbildung von Polizeibeamten sorgen, auf die man sich im Mai 2001 verständigt hatte.[19] Die neugegründete Europäische Polizeiakademie (CEPOL) würde „eine Schlüsselrolle bei der Ausbildung von höheren Polizeibeamten für Krisenmanagement-Operati­o­nen spielen.“

Übung und Realität

Ein ethnischer Konflikt auf einer Insel im Atlantik war Gegenstand der ersten Krisenmanagement-Übung der EU im Mai 2002. Die „CME 02“ sollte dem Vernehmen nach die neuen Entscheidungsstrukturen sowie „Fähigkeiten der EU-Institutionen und der Mitgliedstaaten in Bezug auf alle Instrumente der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik – zivile und militärische – testen.“ Auf dem Gipfeltreffen in Sevilla im Juni 2002 beglückwünschten sich die EU-Mitgliedstaaten wegen des erfolgreichen Abschlusses. „Nachprüfen kann das aber aufgrund der Geheimhaltung keiner,“ lautet der Kommentar der grünen EP-Abgeord­ne­ten Elisabeth Schroedter.[20] Ausfluss des Manövers war ein „Aktionsplan für eine weitere Verstärkung der zivil-militärischen Koordinierung“, den das PSK im Oktober 2002 vorlegte.[21] Für 2003 ist eine gemeinsame Übung mit der NATO angekündigt.

Am 1. Januar 2003 begann die Union ihren ersten Praxistest. Mit einer eigenen Polizeimission (EUPM) übernahm sie die Aufgaben der UN-International Police Task Force in Bosnien-Herzegowina. Daran beteiligt sind 531 Polizeibeamte. 442 kommen aus EU-Staaten, wobei Frankreich mit 85, Deutschland mit 83 und Großbritannien mit 70 Beamten die größten Kontingente stellen. 89 Polizisten kommen aus Nicht-EU-Staaten, insbesondere von den Beitrittskandidaten.[22] Ihre militärischen Fähigkeiten testet die EU zur Zeit in Mazedonien, wo sie den Einsatz von der NATO übernahm, und in der Demokratischen Republik Kongo.

Alle drei Einsätze bewegen sich gemessen an den seit 1999 formulierten Ansprüchen auf einer eher niedrigen Ebene. Die EU führt (noch) keine eigenen Angriffskriege, sondern beteiligt sich – 1999 in Jugoslawien, 2001 in Afghanistan, 2003 im Irak – ganz oder teilweise an denen der USA bzw. der NATO. Ihre Rolle scheint vorerst die des Ausputzers zu sein, der die Aufgabe hat, Nachkriegsordnungen durch militärische und polizeiliche Mittel abzusichern. Dies impliziert jedoch ein „Engagement“, das sich über Jahre hinziehen kann und bei dem eine Verquickung von Militär und Polizei unerlässlich ist. Die Polizei ist zum Instrument einer militarisierten Außenpolitik geworden, auch wenn sie ausschließlich „friedenserhaltend“ tätig ist und die Wahrung der Menschenrechte ganz oben auf ihren Ausbildungsplänen steht.

Tony Bunyan ist Herausgeber von Statewatch in London.
[1]      Die „Schlussfolgerungen“ sämtlicher EU-Gipfeltreffen seit 1994 finden sich unter http://ue.eu.int/de/info/eurocouncil/index.htm
[2]     Luxembourg Declaration, www.weu.int/documents/991122luxen.pdf
[3]     Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften (EG) Nr. L 27 v. 30.1.2001, S. 1-11
[4]     zu den Entscheidungsabläufen siehe Ratsdok. 7116/03 v. 6.3.2003
[5]     Ratsdok. 9005/01 v. 18.5.2001
[6]     Amtsblatt der EG Nr. L 57 v. 27.2.2001, S. 5-9 (6)
[7]     EP-Entschließung AS-0394/2001 v. 13.12.2001
[8]     Klingbeil, L.; Schäfer, P.: Neues vom Aufbau der EU-Militärunion, in: Wissenschaft und Frieden 2001, H. 3, S. 33-35
[9]     Berliner Zeitung v. 20.5.2003
[10]   s. die Darstellung der griechischen EU-Präsidentschaft im ersten Halbjahr 2003, Hellenic Republic, Ministry of Foreign Affairs: European Security and Defense Policy (ESDP), www.mfa.gr/english/foreign_policy/eu/eu_relations/keppa_epaa/epaa.html
[11]    Klingbeil; Schäfer a.a.O. (Fn. 8), S. 34
[12]   Ratsdok. 7116/03 v. 6.3.2003
[13]   Ratsdok. 12323/99 v. 24.11.1999
[14]   vgl. United Nations, Department of Peace Keeping Operations: Monthly Summary of Military and Civilian Police Contribution to United Nations Operations, www.un.org/ Depts/dpko/dpko/contributors/index.htm; Zahlen jeweils bezogen auf den Jahresanfang
[15]   Ratsdok. 9113/00 v. 9.6.2000
[16]   Statewatch-Bulletin vol. 10, 2000, no. 3/4, p. 23
[17]   Ratsdok. 15193/01 v. 11.12.2001
[18]   Anlage 2 zu Ratsdok. 9726/01 v. 8.6.2001
[19]   Ratsdok. 5038/3/01 v. 7.5.2001
[20]  s. www.schroedter-elisabeth.de/meine_themen/sicherheit/d-si-02-07-01.htm; die entsprechenden Ratsdokumente 8373/1/01 v. 8.5.2001 zur „Übungspolitik der Union“ und 11373/02 v. 26.7.2002 zur CME 2002 sind gesperrt.
[21]   Ratsdok. 13480/1/02 v. 29.10.2002
[22]   s. http://ue.eu.int/eupm/homePage/index.asp?lang=DE