von Heiner Busch
Anlässlich des G8-Gipfels in Evian erlebte die Schweizer Armee ihren größten Einsatz seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Alternative zum militärischen Einsatz im Innern kann aber nicht in der Aufrüstung der Polizei bestehen.
Schön und doch praktisch, mögen sich die französischen Behörden gedacht haben, als sie Evian zum Ort der G8-Jahrestagung kürten. Nach vorne den Genfer See, nach hinten die Berge, leicht abzuriegelnde Zufahrten – von Evian nach Genf ist es nicht weit, aber dazwischen ist Wasser und drum herum ein dünn besiedeltes Grenzgebiet. Die acht Herren und ihre Entourage blieben von Protesten unberührt. Die blieben in der Schweiz und im Niemandsland der Grenze hängen, wo sich am 1. Juni zwei Demonstrationszüge trafen – einer aus Genf und einer aus dem französischen Annemasse kommend, zusammen rund 100.000 Personen. Grenzüberschreitender Protest stand einer multinationalen Ordnungsmacht entgegen.
Die Schweiz und Frankreich hatten schon im April ein Abkommen „über die Zusammenarbeit anlässlich des Gipfels von Evian“ geschlossen.[1] Die Polizeien entsandten Verbindungsbeamte auf die jeweils andere Seite, organisierten Treffen im Vorfeld sowie den Austausch nicht nur von Lageanalysen, sondern auch von personenbezogenen Daten. Das gemeinsame Kommissariat an der Grenze wurde zum Kristallisationspunkt der Polizeizusammenarbeit, deren Ergebnis u.a. in Einreisesperren bestand. Militärisch wollte man vor allem bei der Luftraumüberwachung über dem Genfersee-Gebiet kooperieren, deren „worst case“ der „Abschuss von Luftfahrzeugen“ gewesen wäre.
„25.000 Ordnungskräfte rund um den Genfersee im Einsatz“, meldete die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) eine Woche vor dem magischen Datum.[2] Auf französischer Seite waren rund 15.000 Polizisten und Soldaten im Einsatz. Auf Schweizer Seite beteiligten sich am Fest der Uniformen
- 800 PolizistInnen aus den Genfersee-Kantonen Waadt, Wallis und Genf
- 870 PolizistInnen aus anderen Kantonen
- 000 PolizistInnen aus Deutschland, die aufgrund des deutsch-schweizerischen Polizeivertrags nach Genf entsandt wurden, darunter 250 als Besatzung der mitgebrachten 15 Wasserwerfer
- und schließlich 4.380 Soldaten der Schweizer Armee. Aufgeboten waren ursprünglich 5.600; über Tausend hatten jedoch ein „Dienstverschiebungsgesuch“ eingereicht – ein Schritt, zu dem im Vorfeld die „Gruppe Schweiz ohne Armee“ (GSoA) aufgerufen hatte.[3]
Der Einsatz am Genfersee wurde zum größten, den die Schweizer Armee seit dem Zweiten Weltkrieg erlebt hat. Der zweitgrößte hatte im Januar 2003 stattgefunden, als ca. 1.500 Armeeangehörige einen Assistenzdienst für die Sicherheit des Davoser Weltwirtschaftsforums (WEF) leisteten.[4] Sowohl in Davos als auch in Genf hatte man ständig betont, dass Soldaten nicht in die Auseinandersetzung mit DemonstrantInnen einbezogen würden. Vielmehr waren die Berufssoldaten des Festungswachtkorps (FWK) für Personenschutzaufgaben ausersehen – ausgerüstet mit Maschinenpistolen, Pfefferspray und Schlagstock. Normale Milizsoldaten sollten bewaffnet mit dem armeeüblichen Sturmgewehr für den Objektschutz sorgen. Der Gebrauch der Waffe war nur zur Notwehr und Nothilfe zugelassen. „Im Rahmen eines Assistenzdienstes zu Gunsten des Gipfels von Evian lautet Ihr Auftrag: ‚Überwacht einen Raum oder eine Einrichtung‘“, hieß es im Einsatzbefehl, der wenige Tage vorher an die Öffentlichkeit gelangt war. „Sie stellen durch Beobachten und Horchen Aktivitäten oder Veränderungen in einem Raum oder an Objekten fest, um die Führung vor Überraschungen zu schützen.“
Für Überraschungen sorgten nicht die Soldaten, sondern Armee-Chef Christophe Keckeis, der im Vorfeld des Gipfels und der Proteste verlauten ließ, dass in Genf mit Toten zu rechnen sei.[5] Die gab es glücklicherweise nicht. Auch die Großdemonstration blieb friedlich. Die große Hysterie, an der nicht nur Keckeis, sondern auch bürgerliche PolitikerInnen insbesondere aus Genf mitgestrickt hatten, blieb jedoch nicht ohne Folgen. Viele Demonstrationswillige blieben zu Hause. Obwohl große Teile der Genfer Innenstadt abgesperrt waren, sorgten Kleingruppen in mehreren Nächten für Sachbeschädigungen und lieferten sich Auseinandersetzungen mit der Polizei, die ähnlich chaotisch agierte wie ihre politische Führung. Auf das zurückhaltende Vorgehen während der Demonstration folgte eine sinnlose Härte und die damit verbundenen Übergriffe. Armeeangehörige kamen tatsächlich nicht mit den DemonstrantInnen in Kontakt.
Vor allem die Einsätze in Davos und Genf haben dazu geführt, dass die Armee im ersten Halbjahr 2003 rund 300.000 Diensttage vorweisen kann, etwa gleich viel wie im ganzen Jahr 2002.[6] Davon entfielen allein 77 Prozent auf „subsidiäre Sicherungseinsätze“ für die zivile Polizei. Der Rest verteilt sich auf „friedensfördernde Einsätze“, sprich: die SWISSCOY-Mission im Kosovo (15 Prozent), auf die Katastrophenhilfe (ein Prozent) sowie auf so genannte Unterstützungsdienste (sieben Prozent), bei der die Armee sowohl zivilen Verwaltungen als auch privaten Organisationen unter die Arme greift. Paradebeispiel hierfür war die Ski-Weltmeisterschaft in St. Moritz im Februar, bei der Soldaten wieder einmal Pisten stampfen mussten. 24 Prozent aller Diensttage leistete das Festungswachtkorps (FWK).
Vom Kalten Krieg zu „neuen“ Bedrohungen
Die Schweizer Armee ist eine Milizarmee. Männer werden im Regelfall mit 20 Jahren zur Rekrutenschule (Grundausbildung, derzeit 15 Wochen) und dann bis zum 42. Lebensjahr alle zwei Jahre zu einem Wiederholungskurs (WK) eingezogen. „Durchdiener“, die die Wehrpflicht in einem Stück ableisten, gibt es erst seit kurzem. Der Anteil der Berufssoldaten ist gering und reduziert sich auf bestimmte Funktionen im Generalstab, in der Luftwaffe sowie auf das FWK, das ursprünglich in der Tat nur zur Bewachung von Armeeeinrichtungen, darunter eben die Festungen in den Alpen, vorgesehen war. Zwischen den WKs stehen alle anderen Armeeangehörigen im normalen Berufsleben, ihre Armeewaffe – das Sturmgewehr samt Munition – lagert derweil im häuslichen Schrank.
Das Jahr 1989 markierte die bisher tiefste Krise der Armee. Am 26. November legten 35 Prozent der Abstimmenden ein „Ja“ für die Volksinitiative „für eine Schweiz ohne Armee und eine umfassende Friedenspolitik“ in die Urne. Immerhin ein Drittel der Stimmbevölkerung dokumentierte damit, dass für sie zwei Wochen nach der Öffnung der Berliner Mauer der Kalte Krieg definitiv zu Ende war und damit auch das Instrument dieses Krieges seine Daseinsberechtigung verloren hatte. Bis zu diesem Zeitpunkt schien die Armee sowohl als Sozialisations- und Karriereförderungsinstanz (bzw. für die Nicht-Dienenden als Karriereverhinderungsinstrument) als auch in ihrem verlogenen politischen Leitbild, der „bewaffneten Neutralität“, unangefochten. Dass der Feind dieser angeblichen Neutralität im Osten zu suchen war, stand außer Frage. Der „Fichenskandal“, der ebenfalls Ende 1989 das politische Leben der Schweiz erschütterte, zeigte darüber hinaus, dass der militärische Geheimdienst, die Untergruppe Nachrichtendienst und Abwehr (UNA), der vermeintlichen „fünften Kolonne“ dieses äußeren Feindes auch im Innern nachgestellt hatte – teilweise in Personalunion, immer aber in ideologischer Eintracht mit den zivilen Schnüfflern der Bundespolizei. Listen von Personen, die im „Ernstfall“ in Lagern interniert werden sollten, waren parat. Projekte für eine Geheimarmee (P 26) und einen geheimen Nachrichtendienst (P 27) – noch geheimer als der offizielle militärische Geheimdienst – waren aus dem Haushalt des Militärministeriums (damals noch Eidgenössisches Militärdepartement, EMD – heute Verteidigungsdepartement, VBS), finanziert worden.
Das Ende des Warschauer Pakts besiegelte die Tatsache, dass der Feind nicht mehr existierte und dass auch kein neuer in Sicht war. Damit hatte auch das klassische Konzept der Landesverteidigung ausgedient. Das Militär und seine bürgerlichen Freunde begaben sich auf die Suche nach neuen Bedrohungen und neuen Aufgaben.
Die reichhaltigen Funde, auf die man dabei stieß, lassen sich gesammelt im Bericht der „Studienkommission Brunner“ von 1998 bewundern.[7] Die vom Militärministerium zusammengerufene Kommission aus VertreterInnen der politischen Parteien und der „Zivilgesellschaft“ präsentierte ein Panoptikum neuer Bedrohungen – von Krisen an allen möglichen Ecken und Enden der Welt über die Proliferation von Massenvernichtungswaffen, „Störungen im Informatikbereich“, organisierte Kriminalität, Terrorismus und extremistische Randgruppen bis hin zu „unkontrollierten Migrationsbewegungen“. Die Kommission war sich zwar darüber im Klaren, dass zur Abwehr dieser Bedrohungen „nicht primär militärische Mittel nötig“ sind. Trotzdem empfahl sie nicht die systematische Abmagerung oder gar die Schlachtung der heiligen Kuh Armee. Diese sollte vielmehr an neuen Stellen Fett zulegen, sich an (bewaffneten) Auslandseinsätzen beteiligen und sich für den inneren Einsatz an der Seite der Polizei rüsten – gegen etwaige terroristische Aktivitäten, gegen innere Unruhen und auch bei der Abwehr von Flüchtlingen an der Grenze.
Die Kommission schrieb nur einen Trend fort, der bereits Anfang der 90er Jahre begonnen hatte. In Übungen Mitte der 90er Jahre probte die Armee den Einsatz gegen fiktive Revolten von Arbeitslosen, Bauern und Eisenbahnern, gegen Angreifer aus Padanien und gegen über die Südgrenze eindringende serbische Terroristen.[8] „Die nördlichen Nachbarn werden seit drei Wochen von einer massiven Flüchtlingswelle überrollt. In den betroffenen Gebieten kommt es zu Plünderungen und gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Immigranten und der Zivilbevölkerung bzw. Ordnungskräften. Ein großer Teil der Flüchtlinge bewegt sich in Richtung Schweiz.“ Dieses und andere ähnlich abstruse Szenarien hatte sich die Vereinigung schweizerischer Nachrichtenoffiziere (VSN) in einem 1995 publizierten Kompendium über „Armeeeinsätze unterhalb der Kriegsschwelle“ einfallen lassen.[9]
Am 30. September 1996 legte das EMD den Kantonsregierungen und der Öffentlichkeit Entwürfe für drei Verordnungen vor, die die Regelungen des Militärgesetzes von 1995 für den „subsidiären Sicherungseinsatz“ im Innern konkretisieren sollten.[10] Als besonders kontrovers erwies sich die Verordnung über den Ordnungsdienst, die „ultima ratio“ des inneren Einsatzes, bei dem das Militär bei der „Wiederherstellung der inneren Sicherheit“ eingesetzt wird. Für diesen Notstandsfall sollten sowohl das professionelle FWK, als auch das Militärpolizeibataillon ausgebaut werden. Letzteres ist eine Miliztruppe, die sich aber aus Männern zusammensetzt, die im Zivilberuf bei der Polizei oder privaten Sicherheitsdiensten arbeiten. „Erst in zweiter Linie kämen, gestützt auf einen politischen Führungsakt, weitere besonders geeignete Truppen in Betracht“ – normale WK-Soldaten, die bei Bedarf „auf Anordnung der politischen Behörden“ kurz ausgebildet werden sollten.
Dass es keineswegs nur um die rechtliche Seite ging, belegte eine „Kurzstudie“ über anzuschaffendes „Material für subsidiäre Sicherungseinsätze“, die das EMD den Verordnungen beigegeben hatte. Zu Ausbildungszwecken hatte die Armee bereits „polizeitypische“ Waffen im Wert von 350.000 Franken bestellt. Nun wollte man gleich 118 Millionen Franken investieren – in Tränengas und Gummischrot, die zu deren Abschuss erforderlichen Gewehre, Schlagstöcke, Schutzschilder und Handfesseln. Entsprechende „Materialsätze“ sollte die Armee in den diversen Kasernen einlagern und den kantonalen Miliztruppen zur Verfügung stellen. Das Vorhaben scheiterte vor allem am Widerstand der Westschweizer Kantone, denen der Ordnungsdienst des Militärs im Mai 1932 noch in Erinnerung war, bei dem Milizsoldaten 13 Demonstranten erschossen hatten. Die „redimensionierte“ Verordnung trat am 1. Oktober 1997 in Kraft, die Großbestellung wurde storniert.
Nicht der Ordnungsdienst, also der Notstandsfall, sondern der Assistenzdienst entwickelte sich zum Türöffner für den militärischen Einsatz im Innern. Die Verordnungen – „über den Truppeneinsatz zum Schutz von Personen und Sachen“ und „für den Grenzpolizeidienst“ gelten ebenfalls seit Oktober 1997. Ein Vierteljahr zuvor, im Juni 1997, begann mit der Entsendung von 20 Festungswächtern an die Grenze im Tessin ein Assistenzdienst zur Unterstützung des Grenzwachtkorps, der mittlerweile sechs Jahre andauert. Anfangs ging es dabei um die Abwehr erwarteter „Migrationsströme“ aus Albanien, heute ist die Nationalität der Abzuwehrenden gleichgültig. Das militärische Kontingent wuchs kontinuierlich. Derzeit sind 150 Soldaten – FWK und „Durchdiener“ – im Einsatz.[11] Im August 1997 ließ das EMD 730 Soldaten beim Basler Zionistenkongress antraben, um den eingesetzten 800 Polizisten zu assistieren. Dies war der erste Einsatz zum Konferenzschutz, weitere –bei jährlichen Treffen des World Economic Forum in Davos, bei der WTO in Genf etc. – sollten folgen. Ab Oktober 1998 „betreuten“ Soldaten Asylsuchende aus Kosovo. Die Kurdenproteste gegen die Entführung von Abdullah Öcalan im Februar 1999 gaben den Anlass für den nächsten Assistenzdienst: Ab Mai 1999 bewachten Soldaten Konsulate und Botschaften – insbesondere der Türkei, Griechenlands und der USA – in Bern, Genf und Zürich. Nach dem 11.9.2001 wurde der militärische Schutz ausländischer Vertretungen erneuert. Der Anschlag auf das Zuger Kantonsparlament – ebenfalls im September 2001 – bescherte dem FWK einen Einsatz zur Verstärkung der Sicherheitsvorkehrungen im Berner Bundeshaus. Das Eindringen des Militärs in Bereiche der zivilen Polizei scheint unaufhaltsam.
Polizei statt/oder/und Militär?
„Die innere Sicherheit ist primär eine Aufgabe der zivilen Behörden“, so beginnt – scheinbar gegen den Trend gerichtet – eine der „strategischen Thesen“, die die Projektgruppe USIS in ihrem zweiten Bericht vom September 2001 aufstellte.[12] USIS – kurz für „Überprüfung des Systems der inneren Sicherheit“ – war im November 1999 als Gemeinschaftsprojekt des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements (EJPD, Justizministerium) und der Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren (KKJPD, vergleichbar der deutschen Innenministerkonferenz) ins Leben gerufen worden. Die zitierte These offenbart ihre Bedeutung allerdings erst, wenn man die nachfolgenden Sätze liest: Die zivilen Behörden müssten „über die nötigen Mittel verfügen, um die normale und die besondere Lage zu bewältigen. Erst nach der Ausschöpfung der zivilen Mittel soll die Armee im Bereich der inneren Sicherheit zum Einsatz kommen.“ Im Klartext hieß dies: Damit die Armee nicht zum Zuge kommt, müsse die Polizei aufgestockt werden.
Seit ihren ersten Stellungnahmen formulierte die Projektgruppe ein „Kernproblem Lücke“: „Dem Bund fehlen eigene Kräfte zur Erfüllung seiner sicherheitspolizeilichen Aufgaben, weshalb er auf die Kantone und Städte zurückgreifen und sie für diese Einsätze bezahlen muss.“ Die Bereitschaft und Fähigkeit der Kantons- und der Stadtpolizeien Zürichs und Berns schrumpfe aber, weil sie selbst wegen wachsender Sicherheitsaufgaben ans Limit gestoßen seien. Für Botschaftsbewachungen und den Schutz internationaler Konferenzen – beides Bundesaufgaben – müssten sie daher immer häufiger auf die Hilfe der Armee zurückgreifen. Das gelte auch für „besondere Gefährdungslagen“, die mit diesen internationalen Konferenzen verbunden seien.
Tatsächlich verfügt das EJPD mit dem Bundesamt für Polizei zwar über einen kriminalpolizeilichen und staatsschützerischen Apparat, aber nicht über eine eigene Sicherheitspolizei. Das Grenzwachtkorps (GWK) untersteht der Oberzolldirektion und damit dem Finanzministerium, das FWK dem Verteidigungsdepartement (VBS). Der Aufbau einer Bundessicherheitspolizei und damit eines starken bereitschaftspolizeilichen Arms der Bundesexekutive, war im Dezember 1978 an einem von links initiierten Referendum gescheitert.
Je länger die Projektgruppe analysierte, desto tiefer schien die „Lücke“ zu klaffen. Von einem Unterbestand von 800 bis 1.000 Polizisten (sowie weiteren mindestens 200 Beamten beim GWK) war die Rede – eine absurde Rechnung, angesichts der Tatsache, dass ein großer Teil der kantonalen und städtischen Polizeien es nicht einmal schafft, das im jeweiligen Budget bereits bewilligte Personalsoll zu erreichen.
Für die Stopfung der angeblichen Lücke präsentierte die Projektgruppe verschiedene Varianten: Die KKJPD befürwortete im November 2001 die Variante „Kantone“, d.h. eine Aufstockung der kantonalen Polizeikräfte, finanziert durch den Bund. Das EJPD favorisierte dagegen den „Mix“, der es ihm erlaubt hätte, eine eigene „sicherheitspolizeiliche Einsatzreserve des Bundes“ aufzubauen und sich das GWK sowie unter Umständen auch das FWK einzuverleiben. Die Kritik, das sei doch nichts anderes als der alte Plan der BUSIPO, wies Justizministerin Ruth Metzler stets weit von sich. Von nichts anderem hatten EJPD-Leute jedoch schon bei Lancierung des Projekts geschwärmt. „Wir sind weit hintendran,“ hatte im November 1999 der damalige Chef des Bundesamtes für Polizei, Anton Widmer, geklagt. „Deutschland beispielsweise verfügt mit dem Grenzschutz über eine schlagkräftige Truppe, die innert kürzester Zeit aufgeboten werden kann und für solche Einsätze (gemeint waren die „extremistischen“ Kurdenproteste, HB) bestens gerüstet ist.“[13]
Nach einem Jahr der Auseinandersetzung zwischen Bund und Kantonen präsentierte die Projektgruppe in ihrem dritten Bericht Anfang Oktober 2002 eine Kompromissvariante „Mix minus“: den Aufbau einer Bundestruppe von 600 Personen sowie die Finanzierung von bis zu 300 neuen Kantonspolizisten durch den Bund. GWK und FWK wären zwar in ihrem bisherigen organisatorischen Kontext verblieben, das EJPD hätte aber immerhin den ausbaufähigen Grundstock für eine eigene Truppe erhalten.
Nur einen Monat später beförderte der Bundesrat sämtliche Pläne in den Orkus. „Zur Kehrtwende“, so berichtete der Tagesanzeiger am 7. November 2002, „hat die prekäre Lage der Bundesfinanzen geführt, die sich in den vergangenen Monaten dramatisch verschlechtert hat.“ Die angebliche Lücke sollte wie bisher von der Armee gestopft werden.
Falsche Alternativen
Die Finanzlage mag vorerst dem Aufbau einer „Sicherheitspolizeilichen Einsatzreserve des Bundes“ entgegen stehen. Dennoch ist die Idee einer BUSIPO mit oder ohne diesen Namen nicht vom Tisch. Im Kontext des G8-Einsatzes erhielten diese Forderungen neuen Auftrieb.[14]
Die Armee spielt trotz der dummen Sprüche ihres Generalstabschefs bei all ihren Einsätzen die zweite Geige einer mit Sturmgewehr bewaffneten Wachpolizei. Eine polizeiliche Bundestruppe wäre dagegen nicht auf den bloßen Objektschutz festgelegt, sondern könnte ähnlich dem deutschen Bundesgrenzschutz unmittelbar an der politischen Erziehung von DemonstrantInnen durch Tränengas, Gummischrot und Knüppel mitwirken. So paradox es auch scheinen mag: Wer das Militär im Innern durch eine solche zivile Polizei ersetzen will, der rüstet nicht ab, sondern auf.
Die Alternative zu beiden Übeln wäre eine tatsächliche innere Abrüstung: ein demokratischer Umgang mit Demonstrationen, eine offene Asyl- und Einwanderungspolitik und der Verzicht auf sinnlose Hetzjagden in den städtischen Drogenszenen. Von diesem Ballast befreit, reicht die föderalistische Polizeiorganisation allemal aus.