Bundeswehr im Inneren – Innerer Notstand auf dem Kleinen Dienstweg

von Stefan Gose

Der Damm ist gebrochen, doch kaum jemand hat es bemerkt: In den neuen „Verteidigungspolitischen Richtlinien“ vom 21. Mai 2003 erklärt das Bundesverteidigungsministerium (BMVg) die Bundeswehr für viele Aufgaben im Inneren der Bundesrepublik zuständig, ohne sich auf Genaueres festzulegen.[1]

Was Unionspolitiker seit Ende des Kalten Krieges als neue Existenzbegründung für die Bundeswehr immer wieder forderten, führt die rot-grüne Regierung nun unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung ein: das Ende der historisch begründeten klaren Trennung von Polizei und Militär.

„Angesichts der gewachsenen Bedrohung des deutschen Hoheitsgebiets durch terroristische Angriffe gewinnt der Schutz von Bevölkerung und Territorium an Bedeutung und stellt zusätzliche Anforderungen an die Bundeswehr bei der Aufgabenwahrnehmung im Inland und demzufolge an ihr Zusammenwirken mit den Innenbehörden des Bundes und der Länder,“ schreibt der Verteidigungsminister in seiner neuen Geschäftsgrundlage. „Darüber hinaus müssen die Streitkräfte – eingebettet in gesamtstaatliches Handeln – zu einem angemessenen Beitrag zur Verhinderung, Abwehr und Bewältigung von terroristischen Anschlägen und zum Schutz Deutschlands vor asymmetrischen Angriffen von außen im Rahmen der geltenden Gesetze befähigt sein.“

Die „humanitäre Salamitaktik“ über Hochwasserhilfe, Suche nach Vermissten, Wachschutz oder Luftüberwachung hat die öffentliche Akzeptanz für die Bundeswehr auch im Inneren der Republik erheblich gesteigert. „Deutschlands Sicherheit“ werde „auch am Hindukusch verteidigt“, erklärt Peter Struck. Wenn die Bundeswehr in Afghanistan oder Djibouti Terroristen jagen kann, so die Logik des Militärministers, warum sollten die 280.000 deutschen Soldaten dann nicht auch zu Hause helfen?! Das Militär wird als gemeinnützige Universalversicherung präsentiert und niemand fragt, ob es diese Ansprüche auch nur annähernd erfüllen kann. Von den Einsätzen im fernen Kabul, in Kuwait und selbst auf dem Balkan bleibt der heimischen Öffentlichkeit lediglich das regierungsoffizielle Bild der „humanitären Mission“. Nüchterne Bilanzen werden keine erstellt. Sie würden die Hilfskompetenz der Bundeswehr – erst recht die im Inland – in einem fragwürdigen Licht erscheinen lassen.

Soldaten als Terrorfahnder

Beispiel Terrorbekämpfung: Seit Februar 2002 kreuzt eine deutsche Flotte im Rahmen von „Enduring Freedom“ am Horn von Afrika auf der Suche nach „Terroristen“. Wen sie suchen, wissen die Soldaten nicht. Und wenn sie ein „verdächtiges Boot“ entdecken, dürfen sie es außerhalb der nationalen Zwölf-Meilen-Zonen nur kontrollieren, wenn sich das „verdächtige Boot“ freiwillig dazu bereit erklärt – alles andere wäre Piraterie. Entsprechend haben die etwa 1.200 Matrosen in 18 Monaten noch keinen Terroristen entdeckt, ebenso wie ihre mittlerweile 2.300 Kameraden in Kabul oder die gut 5.000 Bundeswehrsoldaten auf dem Balkan. Wie in vielen Konfliktregionen mutieren auch dort „Terroristen“ etwa im Jahrestakt zu Verbündeten und wieder zu Terroristen. Wer aktuell zu den Guten, wer zu den Bösen zählt, ist eine politische Definitionsfrage, die das Militär überfordert. Nicht zufällig setzten Terrorismusvorwürfe in der bundesdeutschen Rechtsvergangenheit umfangreiche Ermittlungen von Polizei und Staatsanwaltschaft voraus, zu denen die Bundeswehr nicht in der Lage ist.

Sollten deutsche Soldaten tatsächlich einmal einen aktenkundigen Terroristen treffen, wäre ungewiss, ob sie ihn festnehmen oder selbst Reißaus nehmen würden. Zumeist riskiert es die militärische Führung nicht einmal, die Bundeswehr zur Entwaffnung der Zivilbevölkerung einzusetzen. Zahlreiche vergebliche Hilfeersuchen des Den Haager Balkan-Gerichtshofes an die SFOR-Truppen zur Festnahme und Auslieferung mutmaßlicher Kriegsverbrecher legen nahe, dass polizeiliche Zielfahnder solche Festnahmen mit weniger Aufwand erfolgreicher durchführen würden. Dass Militär ein geeignetes Instrument zur „Verhinderung“ von oder zum „Schutz“ vor Terrorismus sei, ist überdies eine waghalsige Behauptung. Ein Blick auf die tagtäglichen Nachrichten aus Israel oder dem Irak genügt zu der Erkenntnis, dass militärische Präsenz und Gewalt Gegengewalt provoziert, dass also Terrorismus nur durch politische Veränderungen und zivile Strafverfolgung einzuhegen ist.

Luftkampf über Deutschland

Beispiel Luftverteidigung: Gegenwärtig erarbeitet die Bundesregierung ein Luftraumüberwachungsgesetz, nach dem die Luftwaffe als polizeiliches Hilfsorgan bei der Abwehr von Flugzeugen eingesetzt werden soll, die in bedrohlicher Absicht von ihrem Kurs abweichen. Als Hintergrund wird neben den Anschlägen des 11. September 2001 jener Luftzwischenfall vom 5. Januar 2003 genannt, als ein entwendetes Sportflugzeug fast eine Stunde über den Banktürmen von Frankfurt/Main kreiste. Vorgesehen ist, dass künftig Phantom-Alarmrotten der Bundeswehr verdächtige Flugzeuge zur Landung auf den Flugplätzen Frankfurt-Hahn, Hannover-Langenhagen oder Leipzig-Schkeuditz zwingen sollen. Das stellt die Bundeswehr-Piloten zunächst vor drei praktische Probleme:

Erstens ist die notwendige Reaktionszeit von mindestens fünf Minuten zwischen bemerkter Kursabweichung und Alarmstart zu lang, um im engen deutschen Luftraum einen Flugzeuganschlag zu verhindern. Um etwa den vorgeschriebenen Sicherheitsabstand von 1.500 Metern zu einem Atomkraftwerk zurückzulegen, benötigt eine kleine Cessna-172 etwa 35 Sekunden. Eine Boeing 737 oder ein Airbus könnte schon nach fünf bis sechs Sekunden Kursabweichung auf eine solche Gefahrenanlage stürzen. Zur Kommunikation mit den Piloten bliebe keine Zeit, entsprechend wären irrtümliche Abschüsse vorprogrammiert.

Zweitens wird ein Militärjet, wenn er zur Gefahrenabwehr ein verdächtiges Flugzeug abschießt, eine Katastrophe im dicht besiedelten Industrieland Bundesrepublik mit großer Wahrscheinlichkeit nur vergrößern. Und drittens wird sich ein Selbstmordattentäter nicht von der Bundeswehr auf einen Abfangflughafen eskortieren lassen.

Der Einsatz der Bundeswehr im heimischen Luftraum könnte zur Gefahrenabwehr also nicht mehr beitragen, als die zivilen Fluglotsen es derzeit tun. Allerdings würde die Luftwaffe erhebliche zusätzliche Risiken bei gewollten und irrtümlichen Abschüssen schaffen. Ein Polizeiauto, das mit Blaulicht durch die Innenstadt rast, kann Verkehrsunfälle produzieren. Die Schäden, die ein 22-Tonnen-Phantom-Jet anrichten kann, wenn er auf schnellstem Weg ein potentielles Anschlagsflugzeug erreichen soll, sind in dem mit ca. 5 Mio. Flugbewegungen pro Jahr dichtesten Flugraum Europas erheblich größer.

Grundgesetz ausgehebelt

Weitere künftige Einsatzszenarien der Bundeswehr im Inneren – etwa beim Grenzschutz, der Küstenwache, im Wachschutz, bei Ordnungs- und Patrouillendiensten oder bei Baumaßnahmen – bergen das gleiche praktische Problem: Die hohe Zahl der verfügbaren Soldaten und ihr Besitz von Kriegswaffen qualifiziert das Militär nicht für diese Tätigkeiten. Stattdessen würden bei vermindertem Leistungsniveau zu überproportionalen Kosten weite Teile des zivilen Lebens militarisiert. Was dies politisch bedeutet, soll zuletzt anhand des juristischen Rahmens für den Einsatz der Bundeswehr im Inneren beleuchtet werden.

Das Grundgesetz (GG) nennt in Artikel 87a die Landesverteidigung als Existenzgrundlage der Bundeswehr. Seit dem „out-of-area-Urteil“ des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Juli 1994 gelten auch Auslandseinsätze nach Art. 24 Abs. 2 GG als verfassungskonform.[2] Der Einsatz des Militärs im Inneren ist in Friedenszeiten (außer zur Katastrophenhilfe nach Art. 35 GG) nur bei einem „inneren Notstand“ nach Art. 87a Abs. 4 GG zulässig: „Zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitlich demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes kann die Bundesregierung … Streitkräfte zur Unterstützung der Polizei und des Bundesgrenzschutzes beim Schutz von zivilen Objekten und bei der Bekämpfung organisierter und militärisch bewaffneter Aufständischer einsetzen.“ Die Bundesregierung kann diesen Notstand erklären, Bundestag und Bundesrat können Notstands­maßnahmen jederzeit aufheben. Andere Situationen erlauben den Einsatz des militärischen Gewaltapparates im Inneren nicht.

Doch in ihrem Vorhaben, die Bundeswehr im Inneren einzusetzen, sind sich Regierung und Opposition ebenso weitgehend einig, wie beide wissen, dass es keinen Anlass gibt, den „inneren Notstand“ zu verkünden. Für die Erklärung des Spannungs- oder Verteidigungsfalles wäre nach Art. 80a GG gar eine Zweidrittelmehrheit des Bundestages erforderlich.

Deshalb soll der „Kleine Dienstweg“ der „Amtshilfe“ nach Art. 35 GG bemüht werden. Wenn die Polizei keine bewaffneten Jets besitzt, so die Logik, dann hilft eben die Bundeswehr bei der Luftraumüberwachung aus. Zwar sind die Streitkräfte im Art. 35 GG nur für die Katastrophenhilfe (Abs. 2 und 3) und gerade nicht für die „Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung“ vorgesehen. In der Amtshilferegelung des Abs. 1 werden nur die Behörden des Bundes und der Länder genannt, die Bundeswehr nicht. Doch wenn sich Regierung und Opposition einig sind, wird die Ausnahme zur Regel, es werden Notstandsbedingungen eingeführt, ohne dass öffentlich ein „innerer Notstand“ erklärt oder begründet wird.

Militär ersetzt Politik

Und sobald die Bundeswehr den deutschen Luftraum widerstandslos erobert hat, kann damit gerechnet werden, dass sie „in humanitärer Mission“ weitere Bereiche des zivilen Lebens dauerhaft besetzt.

Dass dies nicht zum sachlichen Vorteil des jeweiligen Einsatzbereiches geschieht, ist nachrangig. Was zählt, sind schnelle Verfügbarkeit und symbolische Präsenz. Uniformen sollen die Botschaft vermitteln, dass die Regierung handelt und hier und überall Verantwortung übernimmt. Zehn Jahre deutscher Auslandseinsätze illustrieren den Kern dieser symbolischen Politik, die Flaggen hisst, statt die Probleme politisch zu lösen. Da Militär zur Konfliktlösung nicht taugt, wird es immer ausgiebiger zur Konfliktverdrängung eingesetzt. Offenbar hält die Politik diese Abschreckungs- oder Valium-Strategie mittlerweile auch für die Krisenregion Deutschland angemessen. Wer den Einsatz von Kriegsgerät und Soldaten im eigenen Land scheibchenweise zulässt, gibt in gleichem Maße zivile Konfliktbearbeitung auf. Soldaten im Stadtbild sind nicht Ausweis von gelebter Demokratie, sondern ein Abbild des gestörten Verhältnisses zwischen Staat und Bevölkerung.

Stefan Gose ist Politologe und Redakteur der Monatszeitschrift „antimilitarismus information“.
[1] www.bmvg.de/pic/sicherheit/030521_VPR_text.pdf
[2] BVerfGE 90, S. 286 ff.

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