Weltmeister der Inneren Sicherheit – Bilanz der WM 2006

von Anja Lederer

Vom 9. Juni bis 9. Juli 2006 präsentierte sich die BRD als aufgeräumte Gastgeberin für Fußballinteressierte aus aller Welt. Zu handfesten Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Fans kam es kaum. In der Partystimmung nahezu unbemerkt ging die WM mit zahlreichen nicht zu legitimierenden polizeilichen Maßnahmen der „vorbeugenden Gefahrenabwehr“ einher. Die so erreichten Stan­dards der Inneren Sicherheit wirken über die WM hinaus.

Nur 7.212 Straftaten, rund 9.000 – teilweise vorläufige – Festnahmen und rund 870 Verletzte im Zusammenhang mit der Fußballweltmeisterschaft – das vermeldete die polizeiliche Statistik am 11. Juli 2006.[1] „Es war ein großes Fest, und es gibt keine hässlichen Bilder, die wir dabei ignorieren müssen“, äußerte Michael Endler, Leiter der Zentralen Informationsstelle für Sporteinsätze (ZIS) bei der Vorstellung der WM-Bi­lanz.[2] Niedersachsens Innenminister Uwe Schünemann resümierte gar: „Das war nicht mehr als bei einem größeren Schützenfest.“[3] Fast scheint es, als seien Innenpolitiker und Polizei selbst überrascht worden von der Harmlosigkeit dessen, was sich in dem Monat der Fußball-Weltmeister­schaft abgespielt hatte.

Im Vorfeld des Großereignisses waren indessen allenthalben Schreckensszenarien an die Wand gemalt worden – von terroristischen Angriffen, derer man gewärtig sein müsse, bis hin zu Horden marodierender Hooligans, die in die deutschen Innenstädte einfallen würden. Dementsprechend waren die Vorbereitungen: ein massives Aufgebot der Polizei, Alarmbereitschaft für die Bundeswehr, personalisierte mit einem RFID-Chip ausgerüstete Eintrittskarten, massenhafte Sicherheitsüberprüfungen, ausgiebige Datensammlung und präventive Maßnahmen gegen jene in- und ausländischen Fans, die die Polizei für potenziell gewalttätig hielt u.a.m.

Wehrhaft in Habacht-Stellung

AWACS-Aufklärungsflugzeuge der NATO überwachten in Zusammenarbeit mit der Luftwaffe Tag und Nacht den deutschen Luftraum. Mehr als 2.000 SoldatenInnen und zivile MitarbeiterInnen waren nach Angaben von Verteidigungsminister Franz Jung zu jedem Zeitpunkt der WM im Einsatz, mehr als 5.000 standen in permanenter Bereitschaft, um bei möglichen Großschadensereignissen Hilfe zu leisten.[4] Zwar agierte die Bundeswehr während der WM „nur“ als technische Unterstützerin der Polizei bei der leiblichen Versorgung der eingesetzten BeamtInnen und durch die Bereitstellung von Fahrzeugen, SanitäterInnen usw. Originäre polizeiliche Befugnisse der Bundeswehr im Inland waren nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes zum Luftsicherheitsgesetz vom 15. Februar 2006 (noch) tabu. Allerdings nutzte die Bundeswehr die WM, um sich bei den BürgerInnen des Landes auch für echte Einsätze im Innern schon einmal ins Gespräch zu bringen und „Normalität“ zu entwickeln. Nächste Gelegenheit hierfür gab es bereits kurze Zeit nach der WM, als die Bundeswehr im Wege der Amtshilfe für das Innenministerium Mecklenburg-Vorpommerns beim Besuch von US-Präsident George W. Bush zum Einsatz kam, zunächst wiederum als Sanitäts- und Verpflegungsdienstleisterin für die Polizei.

Widersinniger Datenhunger

Für die Fußballfans aus aller Welt deutlich sichtbarer war allerdings das Spektakel um die personalisierten Tickets. Im Rahmen des Bestellverfahrens hatte das WM-Organisationskomitee von den Ticket-Interessierten seit Anfang 2005 Unmengen von an sich entbehrlichen Daten erhoben und gespeichert, angeblich um die Sicherheit der Stadien vor terroristischen Angriffen gewährleisten und den Schwarzmarkt bekämpfen zu können. Beim Passieren der Stadion-Einlasskontrollen hätte der RFID-Chip auf dem Ticket den Aufruf der in der Datenbank gespeicherten Informationen ermöglichen sollen.[5] Praktisch entpuppte sich die Ticketpersonalisierung jedoch als komplette Farce.

Lediglich bei etwa fünf Prozent der StadionbesucherInnen wurde auch nur der Name kontrolliert.[6] Bereits im April hatte das Amtsgericht Frankfurt/Main der Personalisierung faktisch eine Absage erteilt, indem es den Weiterverkauf von WM-Tickets für legal erklärte. Einen Eilantrag gegen die Erfassung der Personalausweisnummer von Ticket-BestellerIn­nen hatte das Gericht zwar zurückgewiesen. Tatsächlich dürfte es jedoch sehr zu bezweifeln sein, dass bei den Einlasskontrollen ein Abgleich der Personalausweisnummern erfolgte. Dagegen spricht nicht nur das Gedränge an den Stadion-Eingängen, das eine solche zeitaufwändige Maßnahme praktisch erschwerte, sondern auch die offenbar zu Beginn der WM an die OrdnerInnen ergangene offizielle Anweisung, jede Person ins Stadion zu lassen, die ein gültiges Ticket vorweisen könne.[7] Angesichts dessen entbehrt die umfassende Datenspeicherung im Vorfeld erst recht jeder Legitimation.

Bemerkenswert ist, dass 300.000 sehr bedeutende Personen (VIPs) von der nicht nur vollkommen überflüssigen, sondern auch rechtswidrigen Datenspeicherung bei Erwerb eines WM-Tickets komplett verschont blieben. Offenbar in Sorge darum, dass ihnen das teure Ticket als „geldwerter Vorteil“ im Nachhinein versteuert werden könnte, hatten sich die VIPs erfolgreich der Personalisierung ihrer Tickets verweigert.[8]

Nachdem im Laufe der WM nicht einmal versuchsweise der Schein gewahrt wurde, dass die Personalisierung der Tickets aufgrund dringender Sicherheitserfordernisse erfolgt sei, ließ der Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium, Peter Hintze, Ende Juni die Katze aus dem Sack: „Wir wollen Weltmeister bei der RFID-Technik werden!“ Deren Weiterentwicklung mit künftig 70 Millionen Euro jährlich kündigte er gleichermaßen an.[9]

Sicherheitsüberprüfungen

Eine Viertelmillion Menschen, die während der Weltmeisterschaft innerhalb der Stadien beschäftigt sein sollte, wurde ebenfalls datenmäßig erfasst und zusätzlich von Landeskriminalämtern, Verfassungsschutz, Bundespolizei und Bundeskriminalamt einer Sicherheitsüberprüfung unterzogen. Formale Grundlage dafür bildeten „freiwillige“ Zustimmungserklärungen. Etwa ein Prozent der Überprüften wurde als „Sicherheitsrisiko“ aussortiert und nicht für eine Tätigkeit im Sicherheitsbereich der Stadien zugelassen. Eine persönliche Information oder gar Mitteilung der Gründe für die Ablehnung war nicht vorgesehen. Lediglich in Nordrhein-Westfalen erfolgte vor der Übermittlung eines ablehnenden Votums an das WM-Organisationskomitee eine Anhörung der betroffenen Person.[10]

Auch gegenüber der Öffentlichkeit schwiegen sich die Behörden darüber aus, welcher Art Sicherheitsbedenken sie zu Tage gefördert ha­ben. Die „taz“ berichtete Anfang Juni von einem Fall, bei dem längst erledigte Ermittlungen wegen einer Auseinandersetzung mit Neonazis für ein ablehnendes Votum ausgereicht hatten. Selbst der gerichtliche Freispruch hat den Betroffenen nicht vor dem negativen Votum geschützt.[11] Darüber, wie viele der rund 2.000 Abgelehnten danach auch für ihre ArbeitgeberInnen als unzuverlässig galten, kann nur spekuliert werden.

Respektable Fans

Die Frage, ob die RFIDisierung der Tickets oder die Sicherheitsüberprüfungen für den enorm friedlichen Verlauf der WM unabdingbar waren, stellten die Sicherheitspolitiker nach dem 9. Juli selbstverständlich nicht. Das Sicherheitskonzept sei hundertprozentig aufgegangen, war der allgemeine Tenor der Einschätzungen. Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble nutzte die positive WM-Bilanz gleich für eine Warnung davor, den friedlichen WM-Verlauf als Indiz für eine verringerte terroristische Bedrohungslage anzusehen, und stellte unmittelbar den Entwurf des sog. Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetzes vor – unter anderem mit vorgesehenen Erweiterungen der bestehenden Auskunftsbefugnisse für den Verfassungsschutz.[12]

Einige Innenpolitiker bekannten zumindest, dass es (auch) an der fröhlichen Stimmung der in- und ausländischen Fußballfans gelegen habe, dass die befürchteten Hooligan-Auseinandersetzungen ausblieben. Dies sahen Fangruppen und -projekte ähnlich: Sie stellten während der WM eine „nie gekannte Freundlichkeit“ der Sicherheitskräfte fest, die sie sich auch im Bundesliga-Alltag wünschen.[13] Vertreter der Koordinationsstelle Fan-Projekte (kos) sahen ihre Erfahrungen bestätigt, dass eine gastfreundliche, die Fans respektierende Atmosphäre die beste Garantie für die sichere Durchführung eines internationalen Fußball-Turnieres ist.

Bei allem Respekt waren allerdings zahlreiche Fans im In- und Ausland bereits im Vorfeld der WM von polizeilichen Maßnahmen nicht eben einladender Art betroffen. Polizeibehörden vor allem aus der EU hatten Daten ihrer Fans geliefert. Die britische Polizei hatte rund 5.000 Ausreiseverbote verfügt.[14] Eine genaue Übersicht über die Präventivmaßnahmen der deutschen Polizei fehlt noch. Bekannt ist aber immerhin, dass in Nordrhein-Westfalen 3.125 und in Baden-Württemberg 1.703 Fans zu Hause oder am Arbeitsplatz „Besuch“ von der Polizei erhielten (sog. Gefährderansprachen). 2.197 Mal wurden allein in Baden-Württemberg Platzverweise bzw. Aufenthaltsverbote ausgesprochen. In Nordrhein-Westfalen standen 1.219 Festnahmen aufgrund eines Straftatverdachts 1.838 Fällen vorbeugenden Polizeigewahrsams gegenüber. Die Anzahl der in der „Datei Gewalttäter Sport“ erfassten Personen stieg während der WM um fast 200 Prozent von 6.200 auf 17.600.[15] Angesichts der registrierten rund 7.000 Gesamtstraftaten mit WM-Bezug, da­runter ein Großteil Diebstähle, erübrigt sich hierzu jeglicher Kommentar.

Wie erheblich die Beschränkungen der Bewegungsfreiheit durch präventivpolizeiliche Verfügungen waren, zeigt etwa ein Bescheid der Stadt Kaiserslautern, der dem betroffenen Fußballfan für den gesamten WM-Monat, ausgenommen jeweils die Zeit von 3.00 Uhr bis 11.00 Uhr, das Betreten und den Aufenthalt im gesamten Stadtgebiet untersagte.[16] Flankiert wurde diese Verfügung durch engmaschige Meldeauflagen, die den Betroffenen zwangen, insgesamt zehnmal, teilweise zweimal pro Tag, bei der örtlichen Polizeiinspektion vorstellig zu werden. Die angebliche Rechtmäßigkeit derartiger Meldeauflagen selbst für solche Fans, die bisher nicht wegen Straftaten bei Fußballspielen verurteilt wurden, sondern lediglich unter der Rubrik „unterstützendes Umfeld“ geführt werden, hatte das Verwaltungsgericht Braunschweig noch in verschiedenen Eilentscheidungen vor der WM festgestellt.[17]

Unverhältnismäßiges polizeiliches Vorgehen kennzeichnete auch die wenigen „Zwischenfälle“ während der WM, etwa in Köln, wo kurz nach Abpfiff des Spiels Schweden gegen England eine Einsatz-Hundertschaft der Polizei eine Kneipe stürmte. Szenekundige Beamte hatten einige der Gäste, die der Hooligan-Szene zugerechnet wurden, zuvor bereits ganztägig observiert. Zu „Randale“ durch die bis dahin ruhigen Fans, die der Einsatz angeblich verhindern sollte, kam es erst nach dem polizeilichen Zugriff. Die vorgeblichen Hinweise auf konkret geplante Aktionen gegen englische Fans, die den Einsatz und die Ingewahrsamnahmen rechtfertigen sollten, vermochte der Einsatzleiter nicht zu präzisieren.[18]

Ein ähnliches polizeiliches Handlungsmuster beobachtete das Komitee für Grundrechte und Demokratie in Dortmund. Nachdem eine Gruppe von Personen inmitten feiernder Fans eingekesselt worden war, kam es hier ebenfalls zu tätlichen Auseinandersetzungen mit der Polizei. In Stuttgart wurden am 25. Juni über 400 Personen, vorwiegend englische Fans, fest- bzw. in vorbeugenden Gewahrsam genommen. Sie wurden über Nacht ohne Sitz- bzw. Schlafmöglichkeiten auf einem überdachten Parkplatz festgehalten.[19]

Angesichts des breiten, nicht nur in Einzelfällen zur Anwendung gebrachten Arsenals präventivpolizeilicher Maßnahmen und technischer Mittel zur Erfassung bzw. Überwachung war die WM nicht nur ein Riesenevent für die Fußballfans in aller Welt, sondern auch für die Verfechter der Inneren Sicherheit.

[1] Kölner Stadtanzeiger v. 11.7.2006
[2] www.tagesschau.de/aktuell/meldungen/0,1185,OID5702024,00.html
[3] www.sportgate.de/fussball-wm-2006/rundumdiewm/sicherheit/99775-WM-Kriminali
taet-nur-auf-Schuetzenfest-Niveau.html
[4] www.tagesschau.de/aktuell/meldungen/0,1185,OID5702024,00.html
[5] siehe padeluun: Trittbrett für Datenkraken, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 83 (1/2006), S. 22-28
[6] Berliner Zeitung v. 29.7.2006
[7] Bündnis Aktiver Fußballfans: Pressemitteilung v. 20.4.2006, Hannoversche Allgemeine Zeitung v. 19.6.2006, www.foebud.org/rfid/wm-tickets-absurd
[8] Süddeutsche Zeitung v. 28.5.2006 u. 30.5.2006
[9] Jungle World 29/2006
[10] www.im.nrw.de/pm/100506_863.html
[11] taz v. 3.6.2006
[12] www.bmi.bund.de/cln_028/nn_662928/Internet/Content/Nachrichten/Pressemitteilungen /2006/07/WM_Bilanz.html
[13] Jungle World 29/2006
[14] Berliner Morgenpost v. 20.5.2006
[15] Die Polizei-Zeitung (dpz) Baden-Württemberg, Sonderausgabe Fußball-WM 2006; www.im.nrw.de/pm/100706_919.html
[16] Informationen des Komitees für Grundrechte und Demokratie 4/2006
[17] www.verwaltungsgericht-braunschweig.niedersachsen.de/master/C21967033_L20_Dol
3747998_h1.html
[18] Kölner Stadtanzeiger v. 21.6.2006
[19] Informationen des Komitees für Grundrechte und Demokratie 4/2006