Polizeirecht durch die Bremer Brille – Zum Einsatz beim Hamburger Schanzenfest

von Helmut Pollähne

Die Bremer Polizei hält es für „verhältnismäßig“, festgenommene DemonstrantInnen nicht nur zu fesseln, sondern ihnen zur Desorientierung auch abgedunkelte Brillen aufzusetzen.

Samstag, 9. September 2006: Die Hamburger Polizei hat vorsorglich um Unterstützung aus den benachbarten Bundesländern gebeten. Beim Fußball-Pokalschlager St. Pauli gegen Bayern muss sie die Fans betreuen, und nebenan steigt das alljährliche Schanzenfest. Dort macht eine Bremer Festnahmeeinheit von sich reden, die den Festgenommenen nicht nur, wie üblich, die Hände auf dem Rücken in Plastikfesseln legt: Sie setzt ihnen zusätzlich abgedunkelte Brillen auf, um sie bis zum Abtransport zu „desorientieren“.

Der Vorgang hat einiges öffentliches Aufsehen erregt und Nachfragen im politischen Raum provoziert. Es laufen nicht nur interne Ermittlungen der Hamburger Polizei, gegen die Verantwortlichen ist auch Strafanzeige erstattet worden. Die Ermittlungen gestalten sich offenbar schwierig, die Rechtslage soll sich aber – jedenfalls durch die Brille der Bremer Polizei betrachtet – einfach gestalten.

Auf Anfrage der Grünen in der Bremer Bürgerschaft beteuerte das Innenressort zur Rechtfertigung des Einsatzes der verharmlosend „Sicht­schutzbrille“ genannten binokularen Augenbinde: Sie werde von der Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit (BFE) der Bereitschaftspolizei Bremen „ausschließlich gegen besonders gewalttätige und häufig bewaffnete Teilnehmer von Versammlungen“ eingesetzt und diene „der Durchsetzung von Festnahmen und Zuführungen im Rahmen besonders konfliktreicher und gewaltorientierter Einsatzsituationen“. Der Einsatz werde „immer im Einzelfall geprüft und sehr restriktiv“ entschieden. Seit dem Jahre 2003 habe man dieses Mittel bei sechs von 80 BFE-Einsätzen gegen insgesamt 34 Personen gebraucht – „stets nur für einen Zeitraum von wenigen Minuten“. Die Maßnahme sei nicht nur „einsatztaktisch notwendig und effektiv, um das rasche und möglichst konfliktfreie Verbringen von besonders gewalttätigen Personen aus einer Personenansammlung heraus zum Ein­satzfahrzeug zu realisieren“, sie vermeide zudem die „ansonsten häufig notwendige Anwendung zusätzlicher körperlicher Gewalt“ und wirke in der Regel „eher deeskalierend“.

Der einsatztaktische Wert der Dunkelbrille wird wie folgt auf den Punkt gebracht: „Durch seine kurzzeitige Desorientierung wird der Betroffene sowohl an weiterem Widerstand und einem Fluchtversuch als auch an einer Kontaktaufnahme zu anderen Störern gehindert. Somit wird einerseits ein Solidarisierungseffekt unterbunden, andererseits dem Gebot der Eigensicherung der eingesetzten Polizeikräfte Rechnung getragen.“ Nach allem handele es sich nicht nur um ein geeignetes, sondern auch „den Betroffenen kaum beeinträchtigendes Mittel zur erfolgreichen Gefahrenabwehr und Eigensicherung“.[1]

Hamburger Ermittlungen

Ob die vom Bremer Innenressort beschworenen „Grundsätze der Verhältnismäßigkeit“ in Hamburg verletzt wurden, müssten die weiteren Ermittlungen ergeben, heißt es abschließend. Das dürfte spannend werden, denn einiges deutet darauf hin, dass gleich mehrere der vorgeblich „immer“, „ausschließlich“ und „stets“ geltenden Grundsätze missachtet wurden. Überraschend ist, dass über derartige Polizeipraktiken bisher nichts an die Öffentlichkeit gedrungen ist, und zwar weder in Bremen noch andernorts.[2] Auch die Bundesregierung erklärt, „eine solche Praxis und Ausstattung“ sei ihr unbekannt und „bei den zahlreichen bisherigen Einsatzbeobachtungen“ nicht aufgefallen.[3]

Die Ermittlungen in Hamburg waren bei Redaktionsschluss noch nicht abgeschlossen, denn selbst die Dienststelle Interne Ermittlungen (DIE) hat sich bisher vergeblich um eine Kopie des Bremer Einsatzvideos bemüht. Für die interne Legitimation des Einsatzes wäre dieses aber von besonderer Bedeutung, soll sich daraus doch ergeben, ob es sich tatsächlich um „besonders gewalttätige und häufig bewaffnete“ Demonstranten gehandelt hat und nach Festnahme und Fesselung weiteren Widerstands- und Fluchtversuchen zu begegnen war, um die dadurch bedrohte Eigensicherung der eingesetzten Polizisten zu gewährleisten. All das wird von Seiten der Demon­stranten durchaus bestritten – nicht auszuschließen, dass das Videomaterial deshalb unauffindbar ist.[4]

Bestritten wird auch, dass der Brilleneinsatz nur „wenige Minuten“ gedauert habe: Selbst nach Angaben der Bremer Polizei waren es mindestens zwanzig Minuten. Zudem steht die Aussage zweier Beamter des Gefangenentransportkommandos im Raum, einer der Beschuldigten habe die Brille auch „während seines Transportes“ getragen, der insgesamt rund drei Stunden dauerte.[5] Die „taz nord“ wiederum zitierte am 12. September einen Anwalt mit der Aussage, sein Mandant habe „mit dieser Brille eine Dreiviertelstunde lang orientierungslos auf der Straße stehen müssen“. Von „wenigen Minuten“ kann offenkundig keine Rede sein. Und für die Betroffenen ist ohnehin entscheidend, dass sie ja auch hinsichtlich der Dauer „desorientiert“ sind – sie haben nur geduldig darauf zu hoffen, dass sie irgendwer irgendwann aus der Dunkelheit befreit.

Derweil können sich die Festgenommenen nicht von der Stelle bewegen, ohne Kollisionen und Stürze zu riskieren – und damit ist man schließlich zur Frage gelangt, ob es sich tatsächlich um ein „kaum beeinträchtigendes Mittel“ gehandelt hat, wobei die mehr oder weniger lang andauernde „Desorientierung“ der Betroffenen ja gar nicht bestritten, vielmehr explizit bezweckt wird (s.o.). Dem zitierten Anwalt zufolge habe sein Mandant „unter Übelkeit und Panikanfällen gelitten“.

Zur Rechtslage (mit und ohne Bremer Brille gesehen)

Der Zweck des Einsatzes blieb zunächst unklar: Einer ersten Stellungnahme der Bremer Polizei zufolge sollten die Festgenommenen mit den Brillen „separiert“ werden, um „Gespräche oder Augenkontakt zu verhindern“, damit sie „ihre Aussagen gegenüber der Polizei (nicht) absprechen“.[6] Die Betroffenen wurden festgenommen wegen des Verdachts des Landfriedensbruchs (Flaschenwürfe gegen Wasserwerfer)[7] – offenbar wurden sie aber auch in Gewahrsam genommen zur Unterbindung weiterer Störungen.

Über die Art und Weise der Durchführung einer vorläufigen Festnahme schweigt sich die Strafprozessordnung (in § 127) aus, allgemein wird aber angenommen, dass die Grenzen der Festnahmemittel durch das jeweilige Polizeirecht bestimmt werden, insbesondere durch die Vorschriften über die Anwendung unmittelbaren Zwangs; für die Ingewahrsamnahme gilt dasselbe. Darauf berufen sich auch die Polizei-Justiziare in Bremen und Hamburg: Bei den Brillen handele es sich um sonstige „Hilfsmittel körperlicher Gewalt“, die gesetzlich (z.B. in § 18 Abs. 3 des Hamburger Sicherheits- und Ordnungsgesetzes, HmbSOG) zwar nicht explizit vorgesehen seien, von dem nicht abschließenden Katalog aber erfasst würden; unter Beachtung der Verhältnismäßigkeit bestünden gegen den Einsatz „keine rechtlichen Bedenken“.[8]

Dem ist zu widersprechen, denn Bedenken bestehen (jedenfalls nach dem derzeitigen Stand der Ermittlungen) hinsichtlich des konkreten Hamburg-Einsatzes nicht nur in puncto Verhältnismäßigkeit, sondern auch im Grundsätzlichen: Selbstverständlich sind nicht alle Hilfsmittel erlaubt, nur weil die Polizei sie für „einsatztaktisch notwendig und effektiv“ hält. Dass weder solche Brillen noch vergleichbare Mittel in irgendeiner polizeirechtlichen Vorschrift oder in einem der einschlägigen Kommentare oder Handbücher Erwähnung finden, sollte skeptisch machen.[9] Erniedrigende und unmenschliche Methoden haben jedenfalls auszuscheiden, ebenso „seelische und körperliche Misshandlungen“ (Art. 104 Abs. 1 S. 2 Grundgesetz), damit aber auch Hilfsmittel, denen das Risiko solcher Methoden und Misshandlungen von vorneherein immanent ist. Gerade deshalb begegnet der Einsatz jener Dunkelbrillen erheblichen Bedenken, denn sie beinhalten unkontrollierbare Risiken für die physische und psychische Integrität der Festgenommenen.

Riskant und unverhältnismäßig

Ungeachtet dessen ist fraglich, ob überhaupt die gesetzlichen Voraussetzungen dieser Form des unmittelbaren Zwangs beachtet wurden: So kann insbesondere von der vorgeschriebenen Androhung unmittelbaren Zwangs[10] nur abgesehen werden, wenn „die sofortige Anwendung des Zwangsmittels (hier also: Einsatz der Dunkelbrille nach Ingewahrsamnahme und Fesselung, d. Verf.) zur Abwendung einer unmittelbar bevorstehenden Gefahr notwendig ist“ (§ 22 Abs. 1 HmbSOG). Die bisherigen Ermittlungen geben das nicht her: Ob die besonderen Voraussetzungen für eine Fesselung vorlagen (gemäß § 23 HmbSOG) mag hier dahinstehen, dass es aber nach der Fesselung ohne weitere Androhung eines sofortigen Dunkelbrilleneinsatzes bedurfte, erscheint doch fraglich.

Jenseits prinzipieller Bedenken und juristischer Detailprobleme liegt schließlich auch eine Verletzung des Verhältnismäßigkeitsprinzips nahe, selbst wenn die Polizei versucht, genau das Gegenteil zu belegen: Die Brille sei gewissermaßen als milderes Mittel eingesetzt worden, denn damit werde die „ansonsten häufig notwendige Anwendung zusätzlicher körperlicher Gewalt“ vermieden.[11] Das klingt zunächst plausibel, entbehrt bei näherer Betrachtung aber nicht einer perfiden Logik, zumal völlig offen bleibt, ob „zusätzliche körperliche Gewalt“ überhaupt notwendig und verhältnismäßig gewesen wäre: Die Dunkelbrillen werden aber offenbar vorsorglich eingesetzt.

Maßnahmen zur Gefahrenabwehr dürfen „keinen Nachteil herbeiführen, der erkennbar außer Verhältnis zu dem beabsichtigten Erfolg steht“ (§ 4 Abs. 1 HmbSOG). Dass es jenseits der Fesselung und in Anbetracht der Übermacht hochgradig geschützter Polizeibeamter überhaupt weiterer Maßnahmen zur Eigensicherung bedarf (bzw. in Hamburg bedurfte), erscheint bereits mehr als zweifelhaft – die damit herbeigeführten oder doch zumindest in Kauf genommenen Nachteile auf Seiten der Festgenommenen sind inakzeptabel.

Etwas von Folter?

In den öffentlichen Debatten nach dem Hamburger Einsatz stand schnell der Folter-Vorwurf im Raum, zumindest handele es sich um „folterähnliche“ Methoden, die an Guantánamo Bay und Abu Ghraib erinnerten.[12] In der Tat fragt man sich, was denn den Einsatz binokularer Augenbinden unterscheidet vom sog. „hooding“ (Sack oder Kapuze über den Kopf), mediale Ästhetik einmal beiseite gelassen (Dunkelbrillen sehen definitiv „cooler“ aus). Es sei daran erinnert, dass jegliche Form der Dunkelhaft gemäß Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) streng verboten ist.[13] Sollte sich die Bremer Brille von solchen „unmenschlichen oder erniedrigenden“ Behandlungen nur durch die Dauer des Einsatzes[14] unterscheiden, ist der Polizei von dem Einsatz einer menschenrechtlich derart riskanten Methode dringend abzuraten.

[1]      Antwort des Innenressorts in der Fragestunde der Bremischen Bürgerschaft am 11.10.2006 in Anlehnung an eine Stellungnahme des Leiters der Fachdirektion Recht und Personal der Bremer Polizei vom 12.9.2006 an die Hamburger Innenrevision
[2]     Ausnahme sind allerdings mittlerweile Vorführungen Tatverdächtiger per Hubschrauber bei der Bundesanwaltschaft, die mit Augenbinde und Ohrenstöpsel erfolgen; exemplarisch nach der Festnahme zweier Verdächtiger am 20.4.2006 wegen des vermeintlich rechtsradikalen Überfalls auf einen Schwarzafrikaner in Potsdam.
[3]     Antwort auf eine Schriftliche Frage von Ulla Jelpke (Linksfraktion), BT-Drs. 16/2812 v. 29.9.2006, S. 6 f.
[4]     Einem DIE-Schreiben vom 12.9.2006 zufolge waren „den bisher vorliegenden Berichten … Hinweise auf Widerstandshandlungen … nicht zu entnehmen“.
[5]     DIE-Bericht v. 10.9.2006
[6]     taz nord v. 12.9.2006; eine andere – nicht weniger bedenkliche – Methode wählte die Hamburger Polizei am Rande der Proteste gegen einen Naziaufmarsch am 14.10.2006: Festgenommenen wurde kurzerhand der Mund zugehalten, junge Welt v. 26.10.2006.
[7]     Pikantes am Rande: Mindestens eine der Flaschen, die in den Reihen der Polizei landeten, wurde offenbar von einem MEK-Kollegen in Zivil geworfen, der mit weiteren Beamten jenseits der Barrikaden angeblich privat auf Zechtour war, taz nord v. 18.9.2006.
[8]     so die Rechtsabteilung der hamburgischen Polizei in einer äußerst knapp gehaltenen Stellungnahme an die DIE v. 12.9.2006
[9]     exempl. Alberts, H.W.; Merten, K.; Rogosch, K.J.: Gesetz zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung (SOG) Hamburg, Stuttgart 1996, § 18 Rn. 3 f.; Schmidt, R.: Bremisches Polizeigesetz, Grasberg 2006, § 41 Rn. 4; Rachor, F.: Polizeihandeln, in: Lisken, H; Denninger, E. (Hg.): Handbuch des Polizeirechts, 3. Aufl. München 2001, Rn. F 784 ff.
[10]   vgl. Rachor a.a.O. (Fn. 9), Rn. F 803 ff.
[11]    Ähnlich die empörte GdP in einer Stellungnahme als Reaktion auf die öffentlichen Debatten: „Meine Kollegen könnten nach dem PolG auch Pfefferspray anwenden oder die Arme der oft um sich schlagenden Tatverdächtigen auf den Rücken drehen. Der kurzzeitige Einsatz einer Dunkelbrille, die Tobende orientierungslos werden lässt, ist das deutlich mildeste Mittel“, zit. nach Weser-Kurier v. 15.9.2006.
[12]   vgl. taz nord v. 14.9.2006 und junge Welt v. 26.10.2006
[13]   Eine entsprechende Konkretisierung des Art. 3 EMRK („Niemand darf gefangengehalten werden und einem Übermaß an … Dunkelheit … ausgesetzt werden, so dass er darunter psychisch leidet“) wurde nicht über­nommen, weil die Bestimmung vom später in Kraft getretenen Text „unmenschliche oder erniedrigende Behandlung“ mit erfasst ist; siehe Frowein, J.; Peukert, W.: EMRK-Kommentar, Kehl, Straßburg, Arlington 1996, Art. 3 Rn. 17 m.w.N.; vgl. auch Europäisches Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT): Die Standards des CPT, Straßburg 2004 (Europarat: CPT/Inf/E (2002) 1 – Rev. 2004, (www.cpt.coe.int/ lang/deu/deu-standards-s.pdf)), S. 26 (Kap. 2 – Gefängnishaft, Auszug aus dem 11. Jah­resbericht 2001, Abs. 30); siehe ferner § 115 Abs. 2 S. 4 Jugendgerichtsgesetz (JGG).
[14]   Im Fall Öcalan billigte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)(Urteil vom 12.3.2003 – Beschw.-Nr. 46221/99) den mehrstündigen Transport mit Handschellen und Augenbinde nur in Anbetracht der besonderen Gefährlichkeit der Beschuldigten; verhaltene Kritik daran bei Kühne, H.H.: Die Entscheidung des EGMR in Sachen Öcalan, in: Juristenzeitung 2003, H. 13, S. 670-674 (671); vgl. zur Folter-Übung mit Bundeswehr-Rekruten im Jahre 2004 den Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm vom 25.7.2006 (Az.: 4 Ws 172-188/06, dok. in juris) u.a. zu §§ 30, 31 Wehrstrafgesetz (Misshandlung und entwürdigende Behandlung Untergebener).

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