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Auch die Vorgeschichte im Blick – Der Thüringer NSU-Untersuchungsausschuss

Interview mit Martina Renner

Die Geschichte des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ beginnt nicht erst mit dem Abtauchen des Trios Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe 1998. Das Gewaltpotenzial der Neonazi-Szene wurde verharmlost. Der Verfassungsschutz agierte mit seinen V-Leuten „rechts- und regellos“, sagt Martina Renner. Heiner Busch befragte die Landtagsabgeordnete der LINKEN und stellvertretende Vorsitzende des NSU-Untersuchungsausschusses.

Was ist der Auftrag des Untersuchungsausschusses?

Der Untersuchungsausschuss wurde im Januar 2012 auf gemeinsamen Antrag aller Fraktionen im Thüringer Landtag eingesetzt. Er soll mögliches Fehlverhalten der Sicherheits- und Justizbehörden des Landes im Zusammenhang mit Aktivitäten rechtsextremer Strukturen, insbesondere des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) und des „Thüringer Heimatschutzes“ (THS), unter die Lupe nehmen. Zum Auftrag des Ausschusses gehört auch die Rolle der zuständigen Ministerien einschließlich ihrer politischen Leitungen sowie der mit den Sicherheitsbehörden zusammenarbeitenden Personen, der so genannten menschlichen Quellen, der V-Leute also.

In Vorgesprächen hatten sich die Fraktionen geeinigt, den gesamten Zeitraum von 1990 bis 2011 in den Blick zu nehmen. Es geht also nicht nur um die Frage, was die Behörden nach dem Abtauchen des „Trios“ im Januar 1998 getan oder unterlassen haben, sondern auch um die Phase davor, um das Erstarken der Neonazi-Szene in Thüringen in den 90er Jahren und die Rolle der Behörden in diesem Kontext. Und schließlich soll der Ausschuss auch Schlussfolgerungen für Gesellschaft, Politik und Behörden diskutieren.

Untersuchungsausschüsse gelten als das schärfste Instrument der parlamentarischen Kontrolle und werden deshalb auch vergleichsweise selten eingesetzt. Wie kam dieser Ausschuss zustande, wer wollte ihn und wer nicht?

Die Forderung nach einem Untersuchungsausschuss kam durch die Fraktion Bündnis90/DIE GRÜNEN relativ schnell nach Auffliegen des NSU und seiner Taten in die Diskussion. Die SPD-Fraktion unterstützte diese Forderung. Die Fraktion DIE LINKE drängte zunächst auf die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses im Bundestag. Und wir machten unsere Unterstützung für einen eigenen Untersuchungsausschuss des Landtages darüber hinaus von Anforderungen an seinen Auftrag und seine Arbeitsweise abhängig. Dabei ging es uns insbesondere um die Einbeziehung des Zeitraums vor 1998 und auch um die Verantwortung der Politik bei der Verharmlosung der neonazistischen Gefahr. Nachdem diese Forderungen erfüllt waren, gab es ein klares Votum der Fraktion für die Einsetzung des Ausschusses. Die Fraktionen von CDU und FDP nahmen in der Diskussion um den Ausschuss eher eine passive Rolle ein.

Der Einsetzung des Ausschusses ging der Auftrag des Innenministeriums an die Schäfer-Kommission voraus. Anfangs schien es so, als sollte damit der Untersuchungsausschuss überflüssig gemacht werden. Wie bewerten Sie den Bericht der Kommission?

Die Schäfer-Kommission wurde durch die Landesregierung mit einer eigenen Untersuchung des Behördenversagens im Zusammenhang mit dem Abtauchen der Neonazis Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe im Januar 1998 und der anschließenden erfolglosen Zielfahndung eingesetzt. Ihr gehörten neben dem ehemaligen Richter am Bundesgerichtshof Gerhard Schäfer auch der frühere Bundesanwalt Volkhard Wache und Georg Meiborg vom rheinland-pfälzischen Justizministerium an. Der Innenminister übertrug der Kommission seine Befugnisse als Dienstherr und ermöglichte so den Aktenzugang und die Anhörung beteiligter Beamter.

Ich würde die Schäfer-Kommission nicht als Versuch der Verhinderung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses bezeichnen, sondern hier fand die Landesregierung die formale Entsprechung ihres mit der Aufdeckung des NSU gegebenen Versprechens, umfänglich und vorbehaltlos aufklären zu wollen. Obwohl der Bericht, insbesondere in seiner Darstellung der parallelen Ermittlungen des Verfassungsschutzes zu denen des Landeskriminalamtes (LKA) und der Rolle der V-Leute, wichtige Fragen aufwirft und klar behördliches Fehlverhalten benennt, hat er in seiner Intention und Wirkung Grenzen. So untersuchte die Schäfer-Kommission lediglich den Zeitraum von 1998 bis 2003 und nahm die politische Ebene an keiner Stelle in den Blick. Weiterhin hat sich die Kommission nur mit der Rolle von drei Spitzeln in der neonazistischen Organisation THS, aus der auch die drei Täter entstammten, befasst. Wichtige Dokumente und Vorgänge wie die „Operation Rennsteig“, an der der Militärische Abschirmdienst, das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) und die Landesämter Bayern und Thüringen beteiligt waren, oder die Einrichtung einer Sonderkommission (SOKO) „Rechte Gewalt“ beim Thüringer Landeskriminalamt (LKA) im Jahre 2000, waren der Kommission unbekannt oder nicht bekannt gemacht worden.

Der Bericht stellt somit eine Arbeitshilfe für den Untersuchungsausschuss dar, kann aber in seinem Ergebnis nicht der Arbeitsrichtung und den Schlussfolgerungen des Parlaments vorgreifen.

Auch im Bundestag und in den Landtagen von Sachsen und Bayern befassen sich Untersuchungsausschüsse mit dem NSU und dem Versagen der Sicherheitsbehörden. Gibt es da eine Zusammenarbeit?

Die Obleute unseres und die des Untersuchungsausschusses (UA) auf Bundesebene haben einen Protokollaustausch vereinbart. Gegenseitig haben wir uns zudem das Recht eingeräumt, an den jeweiligen Sitzungen auch bei nicht-öffentlicher Beratung teilzunehmen. Darüber hinaus wird bei der Abarbeitung der Themenkomplexe darauf geachtet, Gegenstände nicht parallel zu bearbeiten. Gegebenenfalls wird auch auf Zeugenbefragungen verzichtet, wenn der andere Ausschuss sich einer speziellen Fragestellung schon erschöpfend zugewandt hat. Mit dem sächsischen Ausschuss gibt es einen solchen generelle Protokollaustausch und ein gegenseitiges Anwesenheitsrecht nicht, da in Dresden die neonazistische NPD ebenfalls ein Mitglied in den UA entsandt hat. Bei Bedarf und im Einzelfall finden aber Kooperationen statt. Mit dem bayerischen UA wird derzeit eine Zusammenarbeit analog zu der mit dem Bund angestrebt. Inhaltlich finden enge Abstimmungen unter den Abgeordneten und MitarbeiterInnen statt. Dabei reichen die Kontakte in vielen Fällen über die jeweiligen AkteurInnen aus der eigenen Fraktion hinaus.

Wie läuft der Zugang zu Akten und Informationen? Anfangs schienen die Herrschaften von LKA und Verfassungsschutz eher etwas verstockt. Wie aussagewillig sind die ZeugInnen?

Anfangs war die Erfüllung der Aktenvorlage- und Beweisbeschlüsse tatsächlich zögerlich und unvollständig. Inzwischen haben Innenministerium und Justizministerium in Thüringen umfänglich Akten geliefert. Das Aktenstudium ist jedoch oftmals mit der Problematik verbunden, dass die Unterlagen lediglich eingesehen werden können und keine Kopien gefertigt werden dürfen. In Fällen von als vertraulich, geheim oder streng geheim eingestuften Akten müssen sogar unsere eigenen Notizen in der Landtagsverwaltung verbleiben. Der Aktenzugang zu Behörden außerhalb Thüringens erweist sich als zäh und schwierig, zumal von dort oft der Wunsch formuliert wird, vor der Aktenlieferung umfänglich Schwärzungen anzubringen oder gar ganze Aktenbestandteile herauszunehmen. Die ZeugInnen lassen sich grob in zwei Gruppen unterteilen. Auf der einen Seite gibt es jene Beamten, die schon lange das Bedürfnis umtreibt, zu ihren Erfahrungen in den 90er Jahren, ihrer Kritik an Behördenhandeln und Umgang mit den Gefahren durch den Neonazismus endlich Stellung nehmen zu können. Auf der anderen Seite stehen dagegen ZeugInnen, die sich nicht erinnern (wollen) oder in ihrer behördlichen wie politischen Praxis keine Fehler erkennen (können). In der ersten Gruppe berichteten insbesondere Kriminalbeamte über ihre Ermittlungen gegen die gewalttätige Neonaziszene, über Behinderungen bzw. Sabotagen durch den Verfassungsschutz und über die mangelnde Bereitschaft der Justiz, die Verfahren mit Verurteilungen abzuschließen. In der zweiten Gruppe verteidigten fast alle Angehörigen des Inlandsgeheimdienstes dessen Arbeitweise. Totales Blackout umgab die ehemaligen Minister und Staatssekretäre, die kaum inhaltliche Ausführungen machten und sich auch auf Rückfrage nicht an konkrete Vorgänge zu Entscheidungen erinnern konnten oder wollten. Ein Teil der Zeugen, wie zum Beispiel der ehemalige Präsident des Landesamtes, Helmut Roewer, lässt sich durch Anwälte begleiten.

Jüngst hat das Thüringer LfV umfangreiches Aktenmaterial ungeschwärzt an den Bundestagsausschuss übergeben, was in den eigenen Reihen auf heftige Kritik stieß. Wir erklären Sie sich das?

Man muss sich den Vorgang noch einmal vor Augen halten: Thüringen liefert in Erfüllung entsprechender Beschlüsse des Untersuchungsausschusses im Bundestag Akten aus dem Bereich des Landesamtes für Verfassungsschutzes (LfV). Diese Akten werden zum Teil in die Außenstelle des Bundesamtes nach Berlin-Treptow geliefert. Die Innenminister der anderen Länder und der des Bundes berufen mehrere Telefonkonferenzen auch auf Abteilungsleiterebene ein und versuchen, mit vorgeschobenen, rechtlich teils absurden Argumenten die Aktenlieferung zu verhindern. Am Tag des Transportes wird sogar der Versuch unternommen, durch ständige Nachfragen den konkreten Aufenthaltsort des Konvois zu erfahren, um das Material gegebenenfalls zu beschlagnahmen. Die Vorwürfe an das Thüringer Innenministerium reichen von Geheimnis- bis Landesverrat. Die anderen Innenminister vertreten die Auffassung, dass jene Teile aus Thüringer Akten, die durch Zusendungen von anderen Behörden nach Thüringen gelangt sind, vorab zu sichten und gegebenenfalls zu schwärzen seien. Hier wird immer darauf verwiesen, dass den Untersuchungsausschüssen weder Klarnamen von V-Leuten noch von V-Leute-Führern bekannt gemacht werden dürfen. Die Innenminister verkennen, dass die Untersuchungsausschüsse auf gesetzlicher Grundlage ein Recht auf vollständige und zügige Aktenvorlage haben und Geheimhaltsbedürfnissen der Behörden dadurch Rechnung getragen wird, dass die Unterlagen durch die Geheimschutzstellen der Parlamente analog zum Umgang in den entsprechenden Behörden behandelt werden und die Mitglieder der Ausschüsse ebenso Geheimhaltungsverpflichtungen unterliegen.

Das Argument der Gefährdung von V-Leuten und V-Leute-Führern entbehrt also sowohl rechtlich als auch sachlich jeder Berechtigung, weil Repressionen gegenüber enttarnten Spitzeln bisher keine Rolle spielten. Im Gegenteil gehören die Informationen darüber, ob und wie die Sicherheitsbehörden über ihre V-Leute in neonazistische Strukturen verstrickt waren oder sind, zum Kernbereich des Aufklärungsgegenstandes der Untersuchungsausschüsse. Hintergrund der Blockadehaltung scheint entweder ein generelles Misstrauen gegenüber den Parlamenten und ein unbedingtes Geheimhaltungsinteresse des operativen Geschäfts der Nachrichtendienste zu sein; oder es geht darum, dass sich in den Akten weitere Anhaltspunkte für eine enge Verstrickung der Behörden in den Terror der NSU befinden.

Was ist bisher herausgekommen, was nicht bereits im Schäfer-Bericht stand?

Dass der Untersuchungsausschuss im Thüringer Landtag zuerst die Jahre 1990 bis 1998 behandelt, hat sich als richtige Entscheidung erwiesen. Durch die Sachverständigenanhörung und Zeugenvernehmungen konnte präzise herausgearbeitet werden, wie es zu der fatalen Verharmlosung von bewaffneten Neonazistrukturen kommen konnte, in deren Mitte das spätere NSU-Kerntrio und seine Unterstützer aktiv waren – nämlich aufgrund der politisch-ideologischen Vorgabe der damaligen CDU-Lan­desregierung, wonach die Weltanschauung und Handlungen von Neonazis und demokratischer Linker gleichgesetzt wurden. Das Gewaltpotential und die Entwicklung hin zum Rechtsterrorismus wurden unterschätzt und schließlich entsprechende Straf- und Gewalttaten nicht oder nicht entschieden genug mit ausreichender strafrechtlicher Konsequenz verfolgt und geahndet. Daneben agierte das LfV als Geheimdienst rechts- und regellos, insbesondere bei der Führung von V-Leuten. So war es möglich, Neonazi-Anführer und Straftäter als Spitzel für den Staat zu rekrutieren und in einigen Fällen sogar über einen langen Zeitraum zu alimentieren. Dazu beigetragen hat auch, dass gleichzeitig Fach- und Rechtsaufsicht nicht funktionierten oder ausgeschaltet waren. Neben der finanziellen und logistischen Unterstützung, zum Beispiel durch Übergabe von Computertechnik, griff der Verfassungsschutz den Neonazis auch immateriell unter die Arme. So gab es Hinweise auf bevorstehende Polizeimaßnahmen ebenso wie Versuche, auf Staatsanwaltschaften Einfluss zu nehmen. Was die Entstehung des NSU angeht, so steht der Verdacht im Raum, dass das Thüringer Landesamt die Neonaziorganisation THS nicht nur beobachtet, sondern beeinflusst oder gar durch die Steuerung des V-Mannes Tino Brandt mitgegründet hat. Diese Annahme wird durch die Enttarnung weiterer bundesweiter Köpfe der „Anti-Antifa“, wie dem bayerischen Neonazi Kai Dalek, gestützt.

Ein Highlight der Einvernahmen war die des seinerzeitigen LfV-Präsidenten Roewer. War das Thüringer Landesamt unter Roewer nur einfach eine Chaostruppe oder war es eher ein typisches Beispiel für einen Geheimdienst?

Roewer als Zeuge war sicherlich der Punkt in der Ausschussarbeit, wo es schwer fällt, angesichts einer solchen Arroganz und Frechheit ruhig zu bleiben. Aber bei allen Fragwürdigkeiten rund um die Berufung dieses Mannes zum LfV-Präsidenten, bei allen Absonderlichkeiten seiner Amtsführung und auch unter dem Blickwinkel, dass er seine „Erfolgsstory“ jetzt auch noch in einem rechtslastigen Verlag publiziert, darf nicht der Eindruck entstehen, dass der Skandal um den Geheimdienst in Thüringen ursächlich und allein mit dieser Personalie zu tun hat. Vielmehr ist es so, dass eine Reihe von leitenden Beamten in dieser Behörde selbst, aber auch im Innenministerium dafür sorgten, dass der Dienst vollkommen frei und zügellos agierte und in der V-Mann-Führung die Schwelle zur Kumpanei, zur kriminellen Strafvereitelung, aber auch zur Mitschuld am Aufbau militanter Strukturen überschritten war. Ein Geheimdienst wäre kein Geheimdienst, wenn es transparente und wirksame Mechanismen gäbe, derartige Vorgänge innerhalb der Behörde zu thematisieren und abzustellen. Jeder ist dort auf Abgrenzung vom Mitakteur in der Behörde bedacht, hortet seine Informationen und vermeidet Austausch, insbesondere mit der Ebene der parlamentarischen Kontrolle oder mit den entsprechenden Fachabteilungen und -referaten im Ministerium.

Auffallend an dem gesamten Komplex ist in der Tat das Gestrüpp der V-Leute rund um den THS. Der prominenteste Fall ist der des THS-Anführers Tino Brandt. Im Oktober hat der Ausschuss seinen V-Mann-Führer aus dem Thüringer LfV befragt. Was hat die Vernehmung gebracht?

Als der ehemalige V-Mann Führer, Norbert Wießner, erklärte, wieso das Landesamt für Verfassungsschutz den Führungskader des Thüringer Heimatschutzes als V-Mann anwarb und wie das mit den einschlägigen Richtlinien, keine Führungsleute in neonazistischen Strukturen anzuwerben, konform ging, reagierten die ZuhörerInnen mit ungläubigem Kopfschütteln. Einmal behauptete Wiesner, der damalige Chef des THS sei im Verfassungsschutz nicht als Führungsfigur bekannt gewesen. Dann wiederum erklärte Wießner, Tino Brandt sei alleine wegen seiner Führungsfunktion als V-Mann geeignet gewesen und angeworben worden. Und zudem, so Wießner zu den fassungslosen ZuhörerInnen, habe der Verfassungsschutz Tino Brandt doch ständig ermahnt, sein Engagement in Führungspositionen ein bisschen herunterzufahren. Die Ermahnungen führten freilich ins Leere: Der Rudolstädter Neonazi erfreute sich absoluter Narrenfreiheit, stieg weiter auf in der Thüringer und der bundesweiten Neonaziszene, forderte von seinem persönlichen V-Mann-Führer Handys, Computer und Autos, die er häufig zu Schrott fuhr, kassierte mit geschätzten 200.000 Mark in sieben Jahren überdurchschnittlich viel Spitzel-Gehalt und prahlte nach seiner Enttarnung im Jahr 2001 damit, wie er das Amt ausgetrickst hatte und das Geld in die Neonazi-Szene zurückfließen ließ. Dieses Bild wurde in den Vernehmungen der V-Mann-Führer Bode und Zweigert bestätigt. Die Vorgehensweise des Landesamtes im Fall Brandt ist ein kein Einzelfall. Mit Thomas Dienel, Vorsitzender der Deutsch-Nationalen Partei, und Marcel Degner, Sektionschef von Blood&Honour, wurden weitere zentrale Akteure des Neonazismus als Quellen gewonnen, vor Strafverfolgung abgeschirmt und alimentiert.

Die Aufklärung des NSU-Komplexes ist für viele Linke insbesondere in Thüringen eine Wiederbegegnung mit den 90er Jahren: mit der erstarkenden rechten Szene – aber auch mit dem happigen Vorgehen von Verfassungsschutz und Polizei gegen Antifa und Linke. Wird die Geschichte des Landes in den 90ern nun klarer?

In der eigenen Reflexion und Bewertung, auch in der Wut über diese Jahre war sich die Linke einig. Ob kritische GewerkschafterInnen, engagierte Kirchenleute, PDS, Teile von Bündnis 90/Die GRÜNEN, Antifa und unabhängige Recherchepersonen: Viele erinnern sich an die Hetze gegen antifaschistisch Aktive, an halluzinierte bürgerkriegsähnliche Zustände, die durch konservative Politik von CDU und SPD herbeigeredet wurden, wenn überregional zu antifaschistischen Demonstrationen nach Thüringen mobilisiert wurde, an die Verharmlosung von Neonazigewalt als ungeplantes Entladen von Frust oder als Ausdruck von Feindseligkeiten unter „rivalisierenden Jugendgruppen“. Durch die Sachverständigenanhörung im Untersuchungsausschuss, bei der Wissenschaftler, Betroffene und Analysten dieser Vorgänge in den 90er Jahren zu Wort kamen, aber auch durch das Aktenstudium und die Zeugenvernehmungen, kann jetzt eindeutig gesagt werden, dass das, was AntifaschistInnen in den 90er Jahren in Thüringen erdulden mussten, eine dreifache Auseinandersetzung war: mit einer gewalttätigen, organisierten Neonaziszene, die per Gewalt ihren ideologisch motivierten Verdrängungskampf führte, mit einer behördlichen und politischen Ebene, die motiviert aus Totalitarismustheorie und Antikommunismus der Bekämpfung der Linken den Vorrang gab, dem Neonazismus durch akzeptierende Jugend- und Sozialarbeit sogar noch Räume erschloss, und einer Sicherheitspolitik, die auf Seiten der Polizei widersprüchlich agierte und mit dem Geheimdienst die Entwicklung ideologisch wie faktisch befeuerte.

Der Rücktritt von LfV-Chef Sippel ist eine personelle Konsequenz. Aber das kann’s ja nicht gewesen sein. Welche Folgerungen müssten gezogen werden und welche sind durchsetzbar?

DIE LINKE hat im Thüringer Landtag einen Gesetzentwurf zur Auflösung des Landesamtes für den Verfassungsschutz und zur Errichtung eines Dokumentationszentrums für Grund- und Menschenrechte vorgelegt. Die Debatte verlief erwartungsgemäß. Die einen versteckten sich hinter dem Argument, über Schlussfolgerungen zu reden, sei zu früh, und die anderen standen in Nibelungentreue zu einem Verfassungsschutz in Form eines Inlandgeheimdienstes.

Aber die Forderung nach Abschaffung des Verfassungsschutzes darf nicht allein stehen. Es muss um eine aktive Rolle der Gesellschaft in der Auseinandersetzung mit jeder Form von Rassismus, auch als Handlungsmaxime in Behörden gehen. Es muss um die Frage nach einem wirksamen Schutz potentieller Opfer von rechter Gewalt gehen, es muss gefragt werden, wie groß das Netzwerk des NSU ist, ob es weitere Zellen gibt, ob es Anschlagspläne, Waffen und Sprengstoff in der militanten Neonaziszene gibt und wie behördlich und gesellschaftlich hier verfahren werden soll. Und es muss erlaubt sein zu fragen, ob auch Behördenmitarbeiter sich strafbar gemacht haben und wer neben den Präsidenten und Chefs der Geheimdienste noch seinen Hut nehmen müsste. Das, was uns jetzt als Konsequenz präsentiert wird – vorbeugende Rücktritte, neue Dateien, Diskussionen um Superbehörden und scheinbare Anhebung der parlamentarischen Kontrolle der Geheimdienste –, wird uns nicht zufrieden und schon gar nicht ruhig stellen.

Über den Geheimdienst wird zurecht viel geredet. Wie aber steht es um die Polizei?

Die Rolle der Polizei ist ambivalent und im Gegensatz zum Inlandsgeheimdienst liegt hier das Versagen nicht in der Organisationsform, sondern eher in einer Verortung von Akteuren und Methoden in der rassistischen Mehrheitsgesellschaft. Wenn mehr als 50 Prozent der Thüringerinnen und Thüringer nach der jährlichen Erhebung der Jenaer Friedrich-Schiller-Universität als rassistisch eingestellt gelten können, dann macht dies vor der Polizei nicht halt, zumal Faktoren wie Waffentragen, Uniformierung und männerbündische Formierung den Zugang von entsprechend Eingestellten erleichtern. Daher verwundert es nicht, dass es Fälle von Polizisten in Neonaziorganisationen – im Ku-Klux-Klan und im THS – gab, dass Informationen zu bevorstehenden Polizeiaktionen in die rechte Szene gelangten, dass dienstliche Mittel für Belange von Neonazis missbraucht wurden. Es verwundert auch wenig, dass Ermittlungsansätze im Falle der Verbrechen des NSU – ob auf Landes- oder Bundesebene, ob BKA, LKA oder Polizei vor Ort – selbst rassistisch motiviert waren und Hinweise auf einen neonazistischen Täterhintergrund ausgeschlagen wurden. Aber es gab und gibt auf der Ebene der Kriminalpolizeien vor Ort oder in Sonderkommissionen des LKA auch engagierte Beamte, die versuchten, Verfahren von Mehrfachtätern zusammenzuführen, die den organisatorischen wie ideologischen Hintergrund der Taten erkannten und entsprechende Anträge an die Staatsanwaltschaften stellten. Hier verliefen jedoch viele Verfahren im Sande.

Der Bundestagsausschuss wird wegen der 2013 anstehenden Wahlen voraussichtlich bereits im Frühjahr seine Untersuchungen und Befragungen beenden müssen. Wie ist der weitere Fahrplan im Thüringer Ausschuss?

Der Untersuchungsausschuss beschäftigt sich in den nächsten Monaten mit dem Untertauchen des NSU-Kerntrios nach der Durchsuchungsmaßnahme in der Jenaer Garage im Februar 1998 und den Fehlern bei der Zielfahndung. Hier wird zu fragen sein, inwieweit das konzeptlose Eindampfen der Sonderkommission Rechtsextremismus (SOKO Rex) im LKA 1997 eine Rolle bei der ungenügenden Vorbereitung der Zielfahndung gespielt haben könnte und ob und wie die Zielfahndung überhaupt an den Erkenntnissen der verschiedenen Sonderkommissionen und Einsatzgruppen Teil hatte. Weiterhin wird der Untersuchungsausschuss den Vorwürfen nachgehen, nach denen die Landesgeheimdienste in Thüringen und Sachsen die Zielfahndung nur unzureichend, zu spät oder gar nicht über Erkenntnisse aus eigenen Nachforschungen zu dem späteren NSU und seinem Umfeld informierten.

Da der Bundestagsuntersuchungsausschuss die rassistische Mordserie des NSU sowie die Sprengstoffanschläge ausführlich unter die Lupe genommen hat, wird es unter Umständen möglich sein, auf dessen Ergebnisse und Schlussfolgerungen zurückzugreifen und diese Komplexe im Thüringer Landtag zu kürzen. Auf jeden Fall sollte der Thüringer Untersuchungsausschuss wegen des Landesbezugs und der Brisanz noch die Ereignisse und Ermittlungen rund um das Bekanntwerden des NSU am 4. November 2011 erörtern und bewerten.

Bibliographische Angaben: Interview mit Martina Renner: Auch die Vorgeschichte im Blick. Der Thüringer NSU-Untersuchungsausschuss, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 101-102 (1-2/2012), S. 34-43

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