von Louisa Zech und Tom Jennissen
Als in den Morgenstunden des 22. Juni 2016 ein Großaufgebot der Polizei das Haus Rigaer Straße 94 in Berlin-Friedrichshain stürmte und die Treppenhäuser und den Dachboden besetzte, kam dies für die BewohnerInnen des Hauses nicht gerade überraschend. Das Haus selbst und der Friedrichshainer Nordkiez insgesamt sind seit geraumer Zeit Objekte zweifelhafter polizeilicher Maßnahmen.
In diesem Jahr hatte es bereits zwei größere Einsätze gegeben, bei denen die Polizei mit fragwürdigen Begründungen in das Haus eingedrungen war. Überraschender als die neuerliche Maßnahme selbst waren ihr vorrangiges Ziel und ihre Begründung: Während die Polizei das Haus weiträumig absperrte und Treppenhäuser und Innenhöfe mit zahlreichen BeamtInnen besetzte, drangen Handwerker unter diesem Schutz in die von einem Verein genutzten Räumlichkeiten der „Kadterschmiede“ ein und begannen mit umfassenden Renovierungsarbeiten. Gegenüber den BewohnerInnen des Hauses und den VertreterInnen des Vereins begründete die Einsatzleitung ihr Vorgehen damit, dass sie zur Gefahrenabwehr tätig werde und lediglich anwesend sei, um die Handwerker vor Angriffen zu schützen. Im Übrigen wurde auf die Pressemitteilung der privaten Hausverwaltung verwiesen, wonach die Räume, in denen bislang vor allem Kneipenabende und politische Veranstaltungen stattfinden, in Wohnungen umgebaut und an Flüchtlinge vermietet werden sollten.
Besonders pikant an diesem Vorgehen war, dass kein Räumungstitel vorlag. Die Polizei handelte also nicht – wie bei regulären Zwangsräumungen – in Amtshilfe für die GerichtsvollzieherIn, die einen Titel vollstreckt, sondern in direkter Unterstützung der eigenmächtig handelnden Hausverwaltung. Dieses Vorgehen war von der Polizeiführung gemeinsam mit dem damaligen Anwalt der Eigentümerin – einer britischen Briefkastenfirma hinter der nach Presseberichten ein Spielhallenbetreiber stecken soll – mit einigem Vorlauf geplant.
Gefährlicher Ort
Schon seit Jahren nutzen die Berliner Polizei und Innenpolitik das Gebiet rund um die Rigaer Straße als Profilierungs- und Experimentierfeld, auf dem sie im großen Stil umstrittene polizeiliche Maßnahmen durchzusetzen versuchen. 2015 wurde dann ein großer Teil des Kiezes von der Polizei als sogenannter gefährlicher Ort eingestuft. Willkürliche Personalienkontrollen sind seither an der Tagesordnung und richten sich entsprechend des propagierten Feindbildes gegen alle, die in den Augen der BeamtInnen irgendwie links oder autonom aussehen.
Die Regelungen, auf die sich die Polizei beruft, sind in § 21 Abs. 2 sowie §§ 34 und 35 des Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetzes (ASOG) normiert. Demnach darf die Polizei an „gefährlichen“ bzw. „kriminalitätsbelasteten“ Orten nicht nur ohne jeglichen Verdacht die Identität einer Person feststellen, sondern diese zur Durchsetzung der Identitätsfeststellung auch auf die Polizeiwache verbringen oder mitgeführte Sachen durchsuchen.
Seit wann genau das Gebiet als „kriminalitätsbelastet“ gilt, ist ebenso unklar wie die Grenzen des „Ortes“, da das Verfahren zur Ausweisung kriminalitätsbelasteter Orte alles andere als transparent ist. Diese erfolgt durch „die Behördenleitung“ nach Vorlage der jeweiligen Polizeidirektionen.[1] Dabei soll es weder Absprachen mit der Senatsverwaltung geben, noch muss eine Einstufung dem Abgeordnetenhaus gegenüber erklärt oder gar gerechtfertigt werden. Eine Veröffentlichung bzw. Bekanntgabe gegenüber AnwohnerInnen findet nicht statt, was eine parlamentarische oder richterliche Kontrolle nahezu unmöglich macht.[2] Als Begründung für die Geheimhaltung wird angeführt, dass „die Örtlichkeit und deren Bewohnerinnen und Bewohner weder stigmatisiert noch deren subjektives Sicherheitsgefühl beeinträchtigt werden soll.“[3] Durch eine Veröffentlichung würden zudem AdressatInnen gewarnt und sich von diesen Orten fernhalten.
Am 13. Mai 2015 erging ein Urteil des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts, das die Rechtsgrundlage für die Ausweisung von Gefahrengebieten in Hamburg für verfassungswidrig erklärte. § 4 Abs. 2 des Hamburger Gesetzes über die Datenverarbeitung der Polizei (HambPolDVG) entspreche nicht den rechtsstaatlichen Anforderungen an die Normenklarheit und -bestimmtheit und sei auch nicht verhältnismäßig. Insbesondere würden weder zeitliche Grenzen für die Ausweisung als Gefahrengebiet statuiert noch existierten Zuständigkeits- und Verfahrensregelungen. Damit habe der Gesetzgeber die Voraussetzungen, Anlass und Grenzen des Eingriffs nicht hinreichend genug bestimmt.[4] Auch wenn die Polizei das Urteil in der Praxis bisher nicht berücksichtigt und munter weiter kontrolliert.[5]
In Berlin zeigt man sich von diesem Urteil unbeeindruckt. Auf eine schriftliche Anfrage an die zuständige Senatsverwaltung für Inneres und Sport, ob man das Urteil zur Kenntnis genommen und eine Überprüfung zur Praxis der „kriminalitätsbelasteten Orte“ vorgenommen habe, erklärte Innenstaatssekretär Bernd Krömer, dass dies nicht notwendig sei, da eine vergleichbare Regelung wie in Hamburg in Berlin nicht existiere. Der § 21 Abs. 2 ASOG entspreche nicht dem vom Gericht beanstandeten § 4 Abs. 2, sondern dem § 4 Abs. 1 Nr. 1a HambPolDVG.[6] Krömer verkennt aber, dass die Hamburger Gefahrengebiete und die Praxis der Berliner Polizei weitgehend identisch sind und sich die Entscheidung des Hamburger Gerichts in zahlreichen Punkte direkt übertragen ließe – etwa bezüglich der fehlenden Verfahrensregeln und zeitlichen Grenzen der Ausweisung. Trotz aller Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Maßnahmen und ihrer Rechtsgrundlage wurde die Praxis der verdachtsunabhängigen Kontrollen im Nordkiez noch einmal massiv ausgeweitet. Allein im ersten Halbjahr 2016 wurden dort mehrere Tausend Personalienfeststellungen durchgeführt, fast 2.000 allein zwischen dem 13. Januar und dem 29. Februar.[7]
Doppelpassspiel von Polizei und Politik
Diese Verschärfung der Kontrollpraxis und die damit verbundene absehbare Eskalation in der Rigaer Straße fielen in den beginnenden Wahlkampf in Berlin. Nicht nur der Innensenator und CDU-Spitzenkandidat Frank Henkel bemühte sich nun durch martialische Rhetorik zu punkten. Auch Innenpolitiker von SPD und Bündnis 90/Die Grünen versuchten sich als bessere Law-and-Order-Kandidaten zu verkaufen.
Unklar ist allerdings, ob die Berliner Polizei dabei einer vom Senator vorgegebenen Linie folgte oder die ihr eingeräumten sehr weiten Spielräume ausnutzte. BeobachterInnen vermuten schon länger, dass eine Gruppe älterer Beamter innerhalb der Führungsebene recht eigenmächtig Entscheidungen trifft und sich darauf verlassen kann, dass dies politisch gedeckt wird. Erkennbar ist eine Art Doppelpassspiel, in dem der Innensenator ein hartes Durchgreifen gegen unliebsame BürgerInnen propagiert und der Polizeiführung den Rücken freihält, während diese ihre zweifelhaften Maßnahmen ausweitet und zugleich Bilder produziert, mit denen der Senator sich in Szene setzt. Henkel selbst sprach in einer Sondersitzung des Innenausschusses von einer „gemeinsamen Linie“, die vor allem darin bestehe „keine rechtsfreien Räume zuzulassen“.[8] In der Praxis bedeutet dies, dass die Polizei sich unter dem Deckmantel der Gefahrenabwehr und unter Berufung auf die polizeirechtliche Generalklausel sehr weitgehende Kompetenzen anmaßt.
Bereits im Januar, wenige Stunden nach einer kleineren Auseinandersetzung auf der Straße, stürmten mehrere Einsatzhundertschaften mit Unterstützung von SEK und Polizeihubschrauber die Rigaer Straße 94. Bei dem Einsatz wurden verschiedene Gegenstände sichergestellt – unter anderem sämtliche Feuerlöscher, die Heizkohlevorräte und reichlich Bauschutt. Die BewohnerInnen wurden stundenlang festgehalten, ihre Wohnräume betreten und Teile des Treppenhauses zerstört. Begründet wurde die Maßnahme, für die kein richterlicher Beschluss vorlag, mit der allgemeinen Gefahrenabwehr, da ja im Haus Gegenstände sein könnten, mit denen Polizisten verletzt werden könnten.[9]
Der Räumungsversuch der Kadterschmiede im Juni bildete den vorläufigen Höhepunkt dieser Entwicklung und zeigte, wohin eine solche Logik der umfassenden Gefahrenabwehr führen kann – insbesondere wenn die Gefahren von einem identifizierten Feind wie der linken Szene in Friedrichshain ausgehen sollen. Bereits Monate zuvor waren hochrangige Vertreter der Berliner Polizei an den Anwalt der Eigentümerin herangetreten, um gemeinsam zu beraten, wie gegen die Rigaer 94 vorgegangen werden könne. Dabei kam auch zur Sprache, dass kein Räumungstitel gegen die NutzerInnen der Kadterschmiede vorliege. Im Mai traf sich der Anwalt der Eigentümerin mit Führungskräften der Polizei, unter anderem deren Justiziar Oliver Tölle. Wenige Tage später fragte die Eigentümerin – wie zuvor besprochen – schriftlich an, ob die Polizei den Einsatz der Bauarbeiter schützen könne, wenn diese sich gewaltsam Zugang zu den Räumen verschaffen würden.[10]
Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Vorgehens wurden auch noch beiseite geschoben, nachdem das Landgericht Berlin in einem einstweiligen Verfügungsverfahren dem Verein, der die Räume nutzte, den Besitz wieder eingeräumt hatte. Im Innenausschuss erklärten Polizeipräsident Klaus Kandt und sein Justiziar, dass als Rechtfertigung des Einsatzes ihrer Ansicht nach ausgereicht habe, dass die Eigentümerin der Polizei irgendwie glaubhaft gemacht habe, dass sie ein Recht an den Räumen hat. Dabei ist die Rechtslage eindeutig, wie auch das Gericht ohne jeden Zweifel feststellte: Die Eigentümerin hatte dem Verein durch verbotene Eigenmacht den Besitz widerrechtlich entzogen, weshalb diesem ein Wiedereinräumungsanspruch zustand. Auch wenn die Eigentümerin gegen den Verein grundsätzlich einen Räumungsanspruch haben sollte, bedarf es zu dessen Durchsetzung eines entsprechenden Titels. Eine Durchsetzung per Faustrecht bleibt illegal – auch wenn die Polizei dieses deckt.
Dass die Polizei auch weiterhin auf der Rechtmäßigkeit ihres Handelns besteht, zeugt nicht nur von einer bedenklichen Vorstellung vom Rechtsstaat, zu dem gerade auch die Verfahrensgarantien des 8. Buches der Zivilprozessordnung und die Eindämmung von Selbstjustiz gehören. Es zeigt auch, dass offensichtlich dort wenig Verständnis dafür besteht, dass es in den Augen vieler AnwohnerInnen zynisch klingen muss, wenn im Namen des Kampfes gegen rechtsfreie Räume zentrale rechtsstaatliche Grundsätze ignoriert und durch polizeiliche Maßnahmen im Rahmen einer umfassenden Gefahrenabwehr ersetzt werden.