von Otto Diederichs
Wer das staatliche Gewaltmonopol preist, der legitimiert auch die staatliche Gewaltanwendung. Das Töten von Menschen im Polizeidienst stellt die extremste Form dieser Gewaltanwendung dar. Demokratien unterscheiden sich erheblich darin, wie häufig PolizistInnen töten und wie die Staaten damit umgehen.
Dass bei US-amerikanischen PolizistInnen die Waffen recht locker sitzen, ist kein Geheimnis. Möglicherweise ist das auch ein Grund dafür, weshalb es an einer systematischen Erfassung des polizeilichen Schusswaffengebrauchs fehlt und man auf Pressemeldungen zurückgreifen muss. Nach einer Erhebung der Washington Post töteten US-PolizistInnen 2015 bereits in den ersten fünf Monaten 385 Menschen. Im gesamten Jahr sollen es 1.172 gewesen sein.[1] Für das erste Dreivierteljahr 2016 wird eine Zahl von 706 angegeben.[2]
Eine kleine Erhebung[3] für die Jahre 2014 bis 2016 zeigt, dass die europäischen Polizeien – trotz deutlicher nationaler Unterschiede – an solch hohe Zahlen nicht herankommen.
Deutschland
Für die Bundesrepublik gibt es mit der Schusswaffengebrauchsstatistik eine offizielle Erfassung. Die einzelnen Bundesländer sind aufgefordert, zu Beginn eines Jahres ihre Zahlen des polizeilichen Schusswaffengebrauchs des Vorjahres an die Deutsche Hochschule für Polizei zu melden. Diese Meldungen werden anschließend im Auftrag der Innenministerkonferenz zu einer anonymisierten Gesamtstatistik zusammengefasst. Danach kam es 2014 bundesweit zu insgesamt 133 Fällen von Schusswaffengebrauch in Zusammenhang mit Personen. Rechnet man hier die Warnschüsse (65) und jene gegen Sachen – wobei es sich dabei zumeist um Fluchtfahrzeuge handelt (22) – heraus, so bleiben letztlich 46 gezielte Schüsse auf Menschen. Hierbei kam es zu sieben Toten.[4] Für das Jahr 2015 ergibt sich folgende Situation: Bei einer Gesamtzahl von 101 Schussabgaben handelte es sich bei 48 um Warnschüsse und bei 13 um Schüsse gegen Sachen. 40 Schussabgaben richteten sich gezielt gegen Menschen und führten in 10 Fällen zum Tode.[5]
Großbritannien
Solch detaillierte Daten stehen für das Vereinigte Königreich nicht zur Verfügung. Laut dem von JournalistInnen und WissenschaftlerInnen betriebenen web-Archiv „Special Branch Files“ liegt dies überwiegend daran, dass die Offenlegung von Informationen nach dem im Jahre 2000 eingeführten Informationsfreiheitsgesetz anfänglich zwar bereitwillig gehandhabt, aber bald wieder eingestellt wurde.[6] Somit ist man hier auf halboffizielle und wenige offiziell zugängliche Materialien angewiesen. Dessen ungeachtet ist die britische Bilanz weitaus positiver. Nach den vorliegenden Informationen wurde in Großbritannien 2014 lediglich ein Mensch durch die Polizei erschossen, 2015 waren es drei und 2016 vier. Insgesamt wurden in den Jahren 1990 bis 2016 62 Menschen von der Polizei erschossen.[7] Die vergleichsweise wenigen tödlichen Schüsse in Großbritannien werden gemeinhin darauf zurückgeführt, dass britische PolizistInnen in der Regel ihren Dienst unbewaffnet versehen. Zum Vergleich: Nach den jährlichen CILIP-Statistiken wurden im Zeitraum von 1990 bis 2015 in der Bundesrepublik 237 Menschen durch PolizistInnen erschossen.
Frankreich
Im Vergleich zum Vereinigten Königreich sind die Informationen in Frankreich noch spärlicher. Offizielle Zahlen waren vom französischen Innenministerium trotz wiederholter Anfrage bis Redaktionsschluss nicht zu erhalten. Die nachfolgenden Angaben stützen sich daher ausschließlich auf eine Mitteilung des Sozialwissenschaftlers Fabien Jobard. Nach seiner Auskunft kam es 2014 in Frankreich zu insgesamt fünf tödlichen Polizeischüssen und in einem weiteren Fall zu einem Schusswechsel, bei dem nicht klar ist, von welcher Seite der tödliche Schuss auf eine Frau abgefeuert wurde. Für 2015 verzeichnet Jobard sieben Tote durch Polizeischüsse: In sechs Fällen fielen die Schüsse im Zusammenhang mit den Anschlägen auf die Redaktion des Satiremagazins Charlie Hebdo im Januar 2015 und die Diskothek Bataclan im November desselben Jahres.[8]
Belgien
Gerade unter dem Aspekt der islamistischen Anschläge wären vermutlich Informationen aus Belgien aufschlussreich gewesen. Aber auch das belgische Innenministerium hat sich trotz Nachfragen ebenso bedauerlich wie gewohnheitsmäßig nicht geäußert, so dass hierzu keine Angaben gemacht werden können.
Niederlande
Dank des Politikwissenschaftlers Jaap Timmer, der sich seit Jahren mit Polizeigewalt beschäftigt, sind die Zahlen für die Niederlande um einiges aussagekräftiger. Nach seinen Angaben wurde in den Jahren 2014 und 2015 kein Mensch durch Polizeischüsse getötet, es gab lediglich Verletzte (2014: 33 und 2015: 30).[9] Ergänzend hierzu ist der offiziellen Polizeizeitschrift „Politie“ zu entnehmen, dass 2014 von der niederländischen Polizei in insgesamt 158 Fällen von der Schusswaffe Gebrauch gemacht wurde, wobei es sich in 70 Fällen um Warnschüsse und in 61 um gezielte Schüsse handelte – worunter hier auch Schüsse zum Töten aggressiver oder kranker Tiere fallen. In mindestens vier Fällen lösten sich darüber hinaus unbeabsichtigte Schüsse aus Dienstwaffen; der Rest bleibt auch in „Politie“ unklar.[10] Die letzten Toten in Zusammenhang mit Polizeieinsätzen gab es mit fünf Fällen im Jahr 2012.[11] Insgesamt kam es – nach Timmers Erkenntnissen – in den Jahren von 1978 bis 2015 in den Niederlanden durch polizeilichen Schusswaffengebrauch zu 107 Toten und 619 Verletzten.[12]
Schweiz
Vom „Kompetenzzentrum Polizeitechnik und Informatik“ der Konferenz der Kantonalen Polizeikommandanten (KKPKS) waren auf Anfrage lediglich einige statistische Zahlen über Schusswaffeneinsätze zu erhalten. Danach kam es 2015 landesweit zu 15 und 2014 zu 11 Schussabgaben (2013: 9 / 2012: 11 / 2011: 25 / 2010: 29).[13] Angaben über Gründe oder Folgen der Polizeischüsse wurden nicht gemacht.
Österreich
Ähnlich dünn sind auch die Angaben zum polizeilichen Schusswaffengebrauch im Nachbarland Österreich. Ohnehin reichen die Unterlagen des Innenministeriums hier nur 20 Jahre zurück. Nach Presseberichten, die sich auf das Innenministerium berufen, wurden seit 1995 in der Alpenrepublik insgesamt 2.564 Polizeischüsse abgegeben. Davon waren Dreiviertel Warnschüsse oder Schüsse auf Fahrzeugreifen. Insgesamt wurden in diesem Zeitraum 23 Menschen durch PolizistInnen im Einsatz erschossen.[14]
Polen
Angesichts der vorstehend geschilderten Probleme bei der Informationsbeschaffung ist die schnelle Reaktion des polnischen Innenministeriums erstaunlich. Nach dessen Angaben kam es 2014 in Polen zu insgesamt 115 Fällen von polizeilichem Schusswaffeneinsatz, wovon zwei als nicht zulässig galten. In 25 Fällen wurden die Waffen gegen Personen eingesetzt, wodurch zwei Menschen starben und 17 verletzt wurden. Ähnliche Angaben macht das Ministerium für 2015: Es kam zu insgesamt 124 Schussabgaben, von denen wiederum zwei als nicht gerechtfertigt eingestuft wurden. In 18 Fällen wurde dabei auf Personen geschossen; hierbei wurden 13 Menschen verletzt und einer getötet; in vier Fällen blieb die Schussabgabe folgenlos.[15]
Schlussbemerkungen
Polizeiliche Todesschüsse in europäischen Ländern
2014 2015 Deutschland: 7 10 Großbritannien: 1 3 Frankreich: 5 7 Belgien: keine Angaben Niederlande: 0 0 Schweiz: keine Angaben Österreich: keine Angaben Polen: 2 1 |
2009 wurden die Ergebnisse eines europäischen Vergleichs für die Jahre 1995–2005 veröffentlicht. Das Projekt ermittelte einen jährlichen Mittelwert von polizeilich Getöteten und setzte ihn ins Verhältnis zur Gesamtbevölkerung: Auf eine von der Polizei erschossene Person kamen in Deutschland 14 Mio., in den Niederlanden 5 Mio., in Dänemark 7 Mio. und in Portugal 8 Mio. EinwohnerInnen.[16] Unabhängig von der schmalen empirischen Basis scheint der Bezug auf die Einwohnerzahl beliebig. Um die auch in den hier repräsentierten Zahlen deutlich werdenden Unterschiede verstehen und erklären zu können, müssten erheblich mehr Faktoren einbezogen werden – eine methodisch aufwendige Untersuchung, die dringend aussteht, wenn man sich nicht daran gewöhnen will, dass PolizistInnen in dem einen Land mehr töten als in anderen.