Nach vier Jahrzehnten werden sechs Isländer*innen vom höchsten Gericht nachträglich vom Vorwurf des Mordes freigesprochen und rehabilitiert. Die Anklageerhebung besorgte damals ein Oberkommissar der „Sicherungsgruppe Bonn“
„Einer der schockierendsten Fehlschläge der Justiz, den Europa je gesehen hat“, schreibt die britische BBC zur Verurteilung von sechs isländischen Staatsangehörigen vor 42 Jahren. Sie wanderten ins Gefängnis, weil sie nach Überzeugung des Gerichts für zwei Morde verantwortlich waren, die Islands Öffentlichkeit damals wie heute in Atem halten. Die Leichen der Vermissten wurden nie gefunden.
In der Nacht vom 26. Januar 1974 verschwand der 18-jährige Gelegenheitsarbeiter Guðmundur Einarsson auf dem Heimweg, zehn Monate später verlor sich die Spur des Baggerfahrers Geirfinnur Einarsson auf ähnlich mysteriöse Weise. Erst der zweite Fall führte zu umfangreichen Ermittlungen der Polizei. Geirfinnur Einarsson wird als Kleinkrimineller mit Kontakten zur organisierten Kriminalität beschrieben, in die auch der damalige Justizministers Ólafur Jóhannesson verwickelt war. Island stand deshalb am Rand einer Regierungskrise.
Verdächtige hatten kein Motiv
Fast zwei Jahre hatte Islands Polizei erfolglos ermittelt. Wegen eines anderen Delikts gerieten die 20-jährigen Sævar Cieselski und Erla Bolladóttir ins Visier der Fahnder, allerdings konnte ihnen kein Motiv nachgewiesen werden und es fehlten Beweise. Das galt auch für die vier weiteren Verdächtigen, die im Lauf der Ermittlungen als Mörder präsentiert wurden.
Unter hohem Erfolgsdruck suchte die isländische Regierung schließlich Unterstützung beim deutschen Bundeskriminalamt (BKA), das zu dieser Zeit von Horst Herold geleitet wurde. Der BKA-Präsident hatte die forensischen Labore seiner Behörde ausgebaut, die Kenntnisse zur Spurensuche und neue, computergestützte Ermittlungsmethoden sprachen sich europaweit herum.
„Kommissar Kugelblitz“
Am Rande eines NATO-Treffens in Athen im Sommer 1976 vermittelte Herold den Kontakt zwischen dem isländischen Staatssekretär Petúr Eggerz und dem gerade pensionierten Karl Schütz. Der 64-jährige „Oberkommissar a.D.“ sollte die Leitung des isländischen Ermittlungsteams übernehmen und für die Ermittlungen die Kapazitäten des BKA nutzen.
Schütz gehörte zur „Sicherungsgruppe Bonn“ und hat unter anderem das bis ins jetzige Jahrhundert gefeierte „Spießbratenfest“ erfunden, bei dem hohe BKA-Beamt*innen mit Innenministern und der Bundesanwaltschaft „gelegentlich zu vorgerückter Stunde Komplotte geschmiedet oder Konspirationen besprochen“ haben sollen. Bekannt wurde Schütz im Rahmen der „Spiegel-Affäre“, als er 1962 die Zentrale des Blattes durchsuchen ließ. Schütz ermittelte auch zu den Soldatenmorden in Lebach, was ihm unter Kolleg*innen den Spitznamen „Kommissar Kugelblitz“ einbrachte. Vor seiner Pensionierung mit 64 Jahren arbeitete er in der Staatsschutzabteilung des BKA und ermittelte zur damals jungen Roten Armee Fraktion.
Verhöre mit Übersetzer
Die isländischen Ermittler hatten alle sechs Verdächtigen bereits dutzendfach verhört und dabei hypnotische und psychoaktive Drogen, Nötigung und Waterboarding eingesetzt. Die Inhaftierten wurden einer Isolationshaft unterzogen, die bei drei der Verdächtigen über 600 Tage andauerte. Unter diesem Druck legten einige von ihnen Geständnisse ab, die sie jedoch später widerrufen haben.
Auch unter der fünf Monate dauernden Leitung von Karl Schütz fanden die Ermittler kein Motiv, keine Mordwaffe und keine Fingerabdrücke, Blut, Haare oder Haut. Schütz, der kein Isländisch sprach und stets von einem Übersetzer begleitet wurde, hatte die Verdächtigen ebenfalls verhört und dabei eine Methode angewandt, die der Forensik-Wissenschaftler Gísli Guðjónsson als „Indian Technique“ beschreibt. Dabei werden die Betroffenen unverhofft und nicht chronologisch nach Vorkommnissen gefragt, um sie in Widersprüche zu verwickeln. Auch diese Technik, die von der Schuld der Verhörten ausgeht, förderte keine neuen Erkenntnisse zutage.
Großes Lob fürs BKA
Trotzdem erklärte Schütz die Ermittlungen im Februar 1977 für beendet und riet zur Anklageerhebung. Einige Monate später wurden die Sechs wegen Mordes verurteilt, zwei von ihnen erhielten lebenslänglich, die anderen mussten zwischen 15 Monaten und 16 Jahren ins Gefängnis. Drei Jahre später hat Islands höchstes Gericht die Urteile bestätigt, das Strafmaß allerdings teilweise gesenkt.
„Sie haben vom isländischen Volk einen Alpdruck genommen“, wurde Schütz daraufhin vom isländischen Justizminister Ogmundur Jonasson gelobt. Die isländische Regierung bedankte sich bei Schütz mit dem Orden „Grand Knight’s Cross“, BKA-Präsident Herold erhielt das noch wertvollere „Grand Cross with a Star”. Auch weitere BKA-Angehörige sowie der Staatssekretär im Bundesministerium des Innern, Siegfried Fröhlich, erhielten Medaillen. Der isländische Staatssekretär Petúr Eggerz, der Schütz als persönlicher Begleiter und (neben Auður Gestsdóttir und Renata Einarsson, den einzigen Frauen im Ermittlungsteam) als Übersetzer zur Seite stand, wurde ab 1978 Botschafter in Bonn.
Elektronisches Register nach BKA-Vorbild
Jahrelang hatten die Verurteilten ihre Unschuld beteuert und die Wiederaufnahme des Verfahrens verlangt. Erst nachdem eine Journalistin die Zweifel an den damaligen Ermittlungen zusammentrug, ordnete der links-grüne Justizminister Ögmundur Jónasson in 2011 eine Überprüfung der Fälle an. Die von ihm eingesetzte Arbeitsgruppe empfahl schließlich die Neuverhandlung, die im September vergangenen Jahres zum nachträglichen Freispruch führte. Für zwei der jahrelang Inhaftierten kam die Rehabilitierung zu spät, sie sind mittlerweile verstorben.
In Island gerät jetzt die Beteiligung des BKA an dem Justizirrtum in den Blick. Schütz hatte zahlreiche Beweismittel zur Analyse nach Wiesbaden geschickt, darunter Teile der Innenausstattung eines bei den angeblichen Morden genutzten VW-Käfers, ein Messer sowie Kleidung der Verdächtigen, Teppichreste und Blutproben. Der „Oberkommissar a.D.“ ordnete außerdem graphologische Untersuchungen an. Sämtliche Untersuchungen blieben erfolglos, jedoch drängte das BKA in Vermerken auf das weitere Verfolgen der eingesandten Spuren.
Schütz hatte außerdem ein elektronisches Register angelegt, um die Erkenntnisse im Geirfinnur-Fall nach Vorbild von Horst Herold mithilfe von Computern zu verarbeiten. Bei der isländischen Polizei sorgte dies zwar für großes Erstaunen, ermittlungsrelevante Erkenntnisse fand Schütz aber nicht.
Anklage trotz Zweifeln
Der deutsche Oberkommissar a.D. führte außerdem ein sogenanntes „Raumraffersystem“ ein, mit der Aussagen in Beziehung gesetzt werden, um „Vernehmungslücken“ zu erkennen. Denn selbst Schütz zweifelte damals an der Beweislage gegen die Beschuldigten und an ihren Geständnissen. Das geht aus einem Vermerk in den online verfügbaren Ermittlungsakten hervor.
Demnach sollten die Ermittler herausfinden, ob der Tathergang überhaupt „mit der zu einer Verurteilung hinreichenden Sicherheit stattgefunden hat“. Wenig später beschreibt er die Aussagen und Geständnisse jedoch als „wahrheitsgemäß berichtet“.
Laut Gísli Guðjónsson haben erst die von Schütz angewandte Vernehmungsmethoden zu den falschen Geständnissen geführt. Der Forensik-Wissenschaftler beschreibt dies als „memory distrust syndrome“, wenn die Beschuldigten in Isolationshaft mit vermuteten Tathergängen konfrontiert werden, bis sie diese schließlich selbst für wahr halten und bestätigen.