von Fabian Jobard
Von November 2015 bis November 2017 befand sich Frankreich im Ausnahmezustand. Die Notstandsgesetze erlaubten der Polizei u.a., Wohnungen von Aktivist*innen zu durchsuchen und Hausarreste zu verhängen. Wie ist die Staatsgewalt mit den Notstandsbefugnissen umgegangen? Eine Bilanz.
„Frankreich ist das Land des Ausnahmezustands und der Polizeiwillkür, der Islamophobie und des Rechtsnationalismus, der Ausländerghettos und der Massenarbeitslosigkeit“, hieß es 2016 in einem Leitartikel der taz.[1] Nach den von IS-Terroristen verübten Massakern in Paris und Saint-Denis im November 2015 hatte der damalige Staatspräsident François Hollande den Ausnahmezustand ausgerufen, der dann vom Parlament mehrmals verlängert wurde und erst im November 2017 außer Kraft trat. Ein Jahr später, am ersten Dezember-Wochenende 2018 forderten mehrere französische Polizeiorganisationen, den Ausnahmezustand wiedereinzuführen – diesmal vor dem Hintergrund der Demonstrationen der „gilets jaunes“ (Gelbwesten).
Frankreich ist ein Land des Ausnahmezustands, aber eben nicht das einzige. Im Programm der CILIP-Jubiläumskonferenz steht zurecht der Plural. Allein für die letzten drei Jahre und in der näheren Umgebung finden wir neben dem französischen Beispiel zwei weitere: In der Türkei rief die Regierung Erdogan im Juli 2016 den Ausnahmezustand aus – zunächst für drei Monate, er galt dann insgesamt zwei Jahre. Die italienische Regierung erklärte im August 2018 nach dem Einsturz der Morandi-Brücke einen Ausnahmezustand für Genua – und zwar gleich für ein ganzes Jahr.
Die Folgen des Ausnahmezustandes in der Türkei bestehen unter anderem in Massenfestnahmen und Säuberungswellen im öffentlichen Dienst, aber auch in militärischen Interventionen in den kurdischen Gebieten. Wir sollten uns auch daran erinnern, dass der Ausnahmezustand in Algerien, der nach der Stornierung der Kommunalwahlen 1992 erklärt worden ist, das nordafrikanische Land in den schlimmsten Bürgerkrieg seit der Unabhängigkeit geführt hat. Hinter dem Begriff Ausnahmezustand verstecken sich also alle möglichen Situationen – von der erleichterten Anwendung besonderer Befugnisse der Staatsmacht über die Staatswillkür und den Staatsstreich bis hin zum Bürgerkrieg. Es ist deshalb auch nicht verwunderlich, dass der Begriff bei bestimmten Autor*innen – und ich denke dabei unter anderem an Giorgio Agamben[2] – zu einer unbändigen Faszination führt.
Vom kolonialen zum antiterroristischen Notstand
Der erste Punkt über den Ausnahmezustand in Frankreich, den man sich unbedingt in Erinnerung rufen muss, ist, dass er seine Wurzeln in der Kolonialzeit hat. Der Ausnahmezustand bzw. Notstand (état d’urgence) wurde erst 1955 als Eingriffsmöglichkeit des Staates oder der staatlichen Behörden gesetzlich eingeführt. Man wollte die Situation in Algerien – den damaligen drei südlichen Departements Frankreichs – in den Griff bekommen, ohne sich dabei auf das Kriegsrecht, den Belagerungszustand (état de siège), zu berufen, der schon seit 1849 zum rechtlichen Repertoire Frankreichs gehört.
Mit dem Gesetz von 1955 wurden eine Reihe möglicher Eingriffsmittel fixiert, die im Notstand erlaubt sein sollten – und zwar gegen Personen, deren Tätigkeit die Sicherheit und die öffentliche Ordnung gefährdet. Zu diesen Mitteln zählen die Einschränkung der Presse- und Kunstfreiheit bzw. generell der Meinungsfreiheit, die Einsetzung der Militärjustiz, Platzverweise gegen Demonstrationen und Ansammlungen, Hausarreste, die durch den Innenminister verhängt werden konnten, die Auflösung von Vereinen und NGOs, die der Ministerrat als ganzer anordnen konnte, Schließung oder Verbot von öffentlichen Räumen und Gebetsorten und natürlich das Verbot von Demonstrationen, sobald – so steht es im Gesetz – die Polizei annimmt, dass sie die Ordnung nicht gewährleisten könne, und schließlich Wohnungsdurchsuchungen ohne richterliche Anordnung.
Es war genau dieses Gesetz von 1955, auf das sich Präsident Hollande stützte, als er in der Nacht des 14. November 2015 nach den Massakern im Ostteil von Paris und in Saint-Denis den Notstand erklärt hat. Im Zentrum des präsidialen Dekrets stand der Unmittelbarkeitsbegriff, d. h. der Notstand wurde erklärt wegen der „unmittelbaren Gefahr“ terroristischer Anschläge. Gemäß dem Gesetz von 1955 muss das Notstandsdekret des Präsidenten innerhalb von zwölf Tagen durch das Parlament in Form eines Gesetzes bestätigt werden. Das geschah dann auch mit dem Gesetz vom 20. November 2015. Laut Darstellung des Innenministeriums war dies das schnellste Gesetzgebungsverfahren seit Inkrafttreten der Verfassung im Jahre 1958.
Nach dem Gesetz von 1955 bezog sich der Notstand auf Personen, deren Tätigkeiten die öffentliche Ordnung und Sicherheit gefährden; nach dem Gesetz von 2015 geht es um das Verhalten von Personen, das die öffentliche Ordnung bedroht. Der erste wesentliche Unterschied zwischen den Notstandsgesetzen von 1955 und 2015 besteht darin, dass die Eingriffsschwelle für die staatlichen Behörden stark herabgesetzt wurde. Anders als 1955 spielte die Militärjustiz 2015 keine Rolle, zu Zeiten von Twitter und Facebook machen auch Eingriffe in die Pressefreiheit keinen Sinn mehr. Alle weiteren Elemente des Notstandes – von den Hausarresten über die polizeilichen Wohnungsdurchsuchungen ohne richterliche Kontrolle bis zum Verbot von Versammlungen – blieben erhalten.
Nach dem Gesetz vom November 2015 folgte eine ganze Serie von Verlängerungen. Schon vor dem ersten Verlängerungsgesetz, das das Parlament im Februar 2016 verabschiedete, erklärte der damalige Premierminister Manuel Valls, dass der Notstand in Kraft bleiben sollte, „bis wir mit Daesh fertig sind“, was natürlich im krassen Gegensatz zum Unmittelbarkeitsbegriff steht.[3]
Das zweite Verlängerungsgesetz folgte im Mai 2016 und sollte u. a. die Sicherheit der Fußball-EM und der Tour de France gewährleisten, das dritte im Juli 2016 kurz nach dem LKW-Anschlag in Nizza, bei dem 80 Menschen starben. Im Dezember 2016 wurde der Notstand angesichts der bevorstehenden Wahlen für weitere sechs Monate verlängert. Die letzte Verlängerung erfolgte im Juli 2017. Gleichzeitig erarbeitete die Regierung ein „Gesetz zur Verstärkung der inneren Sicherheit und der Bekämpfung des Terrorismus“ (loi renforçant la sécurité intérieure et la lutte contre le terrorisme), mit dem eine Reihe von Befugnissen aus dem Notstand ins gewöhnliche Recht überführt wurden – allerdings mit viel höheren Eingriffsschwellen für die Exekutive. Das Gesetz 2017-1510 wurde am 30. Oktober 2017 verabschiedet.
Die Umsetzung
Wie haben die Behörden die Notstandsbefugnisse 2015-2017 genutzt? Insgesamt gab es rund 4.500 Wohnungsdurchsuchungen – 200 schon in der ersten Nacht (von Samstag, 14. November, auf Sonntag, 15. November), weitere 3.000 bis Mitte Februar 2016. Das ist ein massiver Einsatz der Polizeikräfte, der Police National und der Gendarmerie. Weitere Zahlen: 755 Hausarreste, 600 Platzverweise, die sich hauptsächlich gegen Protestierende, darunter Umweltschutz-Aktivist*innen, richteten, 20 Schließungen oder Verbote von Gebetsorten und 4.000 Erlasse zu Identitätskontrollen – und das obwohl Police Nationale und Gendarmerie auch unter gewöhnlichem Recht mehr oder weniger immer und überall anlasslos Identitätsfeststellungen durchführen dürfen.[4]
Gegen 1.400 Personen wurden strafrechtliche Ermittlungen geführt, die aber nur in 50 Haftbefehle mündeten. 60 Personen wurden verurteilt. In fast allen Ermittlungen ging es um Verstöße gegen das Betäubungsmittel- und das Waffengesetz. Anders ausgedrückt: die Kriminalpolizei nutzte den Notstand, um sich einige Freiheiten in Strafverfahren herauszunehmen, einfach in Wohnungen reinzustürzen, dort die Leute mitzunehmen, die sie schon lange mal mitnehmen wollten, und damit gewisse Straftaten festzustellen.
Das heißt nicht, dass sich die Terrorismusbekämpfung nicht in der Strafpraxis niederschlagen würde: Vom Anschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo im Januar 2015 bis Mitte 2017 wurden 400 Personen wegen „Verherrlichung des Terrorismus“ verurteilt, darunter auch Minderjährige. Mit dem Anschlag auf Charlie Hebdo und den koscheren Supermarkt begann auch – in gewissen sozialen Räumen und unter bestimmten Bedingungen – eine Phase der Verfolgung von Gesinnungen und Meinungsäußerungen.
Ausnahmezustand und Rechtsordnung
Für Agamben ist die Erklärung des Ausnahmezustandes gleichbedeutend mit einer Suspendierung der Rechtsordnung. Nun hat Manuel Valls im November 2015 als Premierminister vor dem Parlament erklärt, dass ihm die mögliche Anrufung des Verfassungsgerichts sehr ungelegen käme und dass man so schnell wie möglich das Notstandsgesetz verabschieden sollte. Das Gesetz ging wie bereits angemerkt innerhalb einer Woche über die parlamentarische Bühne. Valls befürchtete weiter, dass die Verfassungsjustiz die 786 Wohnungsdurchsuchungen, die zu diesem Zeitpunkt bereits erfolgt waren, und die 150 schon verhängten Hausarreste für verfassungswidrig erklären könnte. Tatsächlich hat es jedoch kein einziges Mitglied der Nationalversammlung oder des Senats gewagt, das Verfassungsgericht anzurufen.
Das heißt aber nicht, dass das Recht ganz abgeschafft worden sei. Erstens gab es durchaus eine parlamentarische Kontrolle, die eine gewisse Rolle spielte. Allerdings haben die Berichterstatter*innen des permanenten Untersuchungs- oder Informationsausschusses des Parlaments schon sehr früh darauf hingewiesen, dass sie nicht in der Lage seien, die praktischen Bedingungen der Wohnungsdurchsuchungen zu ermitteln. Zweitens waren auch die Verwaltungsgerichte nicht ganz inaktiv. Zwar hat es bis Mitte Januar 2016 kein französisches Gericht gewagt, sich den Behörden und der Polizei in den Weg zu stellen. Erst danach hat sich die Verwaltungsgerichtsbarkeit in Erinnerung gerufen: Insgesamt wurden 20 Prozent der angefochtenen Hausarreste entweder ganz aufgehoben oder beendet. Allerdings waren die Verwaltungsgerichte bei Hausdurchsuchungen, die innerhalb weniger Stunden über die Bühne gehen und auch bei Platzverweisen machtlos.
Das Verfassungsgericht spielte erst nach sechs Monaten eine ernstzunehmende Rolle. So hat es zum Beispiel daran erinnert, dass eine Freiheitsbeschränkung kein Freiheitsentzug ist. Der Unterschied scheint minimal, hatte aber erhebliche Konsequenzen. So hatte der Premierminister ins Auge gefasst, alle als „Gefährder“ eingestuften Personen schlicht und einfach wegzusperren. Dabei geht es um 10.000 Leute, die in der S-Kartei erfasst sind. Eine solche Internierung ohne Anklage und Prozess hat es während des Algerienkrieges 1954-1962 tatsächlich gegeben – auch auf französischer Seite des Mittelmeers. Angesichts der Pläne des Premiers hat das Verfassungsgericht klar gemacht, dass der Notstand zwar eine Freiheitsbeschränkung in Form des Hausarrestes erlaubt, aber keine Inhaftierung und keinen Freiheitsentzug.
Das Verfassungsgericht hat zudem eine genaue Prüfung der Anlässe verlangt, die einem Hausarrest zugrunde lagen. Die ersten Anordnungen bestanden aus ein paar Sätzen des Polizeipräfekten – nach dem Motto: Wir gehen davon aus, dass diese Person sich im Umkreis einer terroristischen Organisation bewegt. Es dauerte mehrere Monate, bis fast die Hälfte dieser Hausarreste storniert wurden.
Drei soziale Räume
Bei der Analyse der Umsetzung des Ausnahmezustandes müssen wir zwei Unterscheidungen treffen: erstens zwischen individuellen Situationen einerseits und kollektiven Zusammenhängen, Protesten andererseits. Zweitens können wir drei verschiedene soziale Räume auseinander halten: Da sind zunächst die Privaträume vor allem von Familien mit arabischer Herkunft, in denen sich die 4.500 Durchsuchungen abspielten. Es herrschten Rücksichtslosigkeit, Demütigung, Gewalt, Unterdrückung und Rassismus. Das gab der Innenminister auch indirekt zu: In einem Brief vom 25. November 2015 – gerade einmal zehn Tage nach der Erklärung des Notstandes – wies er die Polizeikräfte noch einmal darauf hin, dass der Notstand nicht den Rechtsstaat beende und dass die Durchsetzung des Notstandes streng verhältnismäßig zu verlaufen habe. Um eine Tür zu öffnen, solle man erst einmal klingeln und nicht die Tür einfach eintreten. Gewalt sei die Ultima Ratio. Dieses Schreiben macht letztlich klar, wie diese Hausdurchsuchungen tatsächlich abgelaufen sind.
Zweitens wurde der Ausnahmezustand genutzt, um die sozialen Bewegungen einzuschüchtern und zu disziplinieren. Das geschah zunächst rund um den Klimagipfel, der Ende November/Anfang Dezember 2015 in Paris stattfand. Damals wurden in Paris Demonstrationen untersagt. Diejenigen, die sich auf dem Place de la République aufgehalten haben, wurden festgenommen. Es wurden massiv Platzverweise erteilt, einige Aktivist*innen erhielten auch Hausarrest. Ähnliches erlebten die Leute, die in Nantes und Rennes gegen den geplanten neuen Flughafen (Notre Dame des Landes) protestierten. Inzwischen hat die Regierung das Flughafenprojekt aufgegeben.
Schließlich gibt es auch noch einen dritten, den sozialen politischen Raum. Es ist der Raum jener sozialen Proteste, die von den Gewerkschaften in Frankreich geführt werden. Sie wurden nicht verboten. Sie konnten nicht verboten werden, weil hier die Kräfteverhältnisse einfach völlig andere waren.
Ausnahmezustand und Normalität
Gibt es eine Normalisierung des Ausnahmezustands, wie es Agamben prophezeit hat? Festzuhalten ist zunächst, dass das Gesetz 2017-1510 vom 30. Oktober 2017 wesentliche Befugnisse aus dem Notstand ins gewöhnliche Recht überführt – aber mit einem wichtigen Unterschied: Das Gesetz richtet sich gegen Personen, bei denen es ernsthafte Gründe für die Annahme gibt, dass sie in Beziehung zu einer terroristischen Organisation stehen. Und die Exekutive darf die Befugnisse ausschließlich zum Zweck der Prävention von Terroranschlägen anwenden („aux seules fins de prévention d’actes de terrorisme“) – eine Einschränkung, die es in den Notstandsgesetzen von 1955 und von 2015 eben nicht gab. Das spricht gegen die von eiligen Philosoph*innen urbi et orbi vertretene These von der glatten Normalisierung des Ausnahmezustands.
Zwar erlaubt Artikel 1 des Gesetzes 2017-1510 die verschärfte Kontrolle von Demonstrationen und Ansammlungen, wenn die Kundgebungsorte „dem Risiko eines Terroranschlags ausgesetzt sind“. Die Polizei darf dann alle Personen und Fahrzeuge durchsuchen. Sie kann Personen, die eine Durchsuchung verweigern, den Zugang zu dem Ort verwehren bzw. sie von den Orten entfernen. Von generellen Platzverweisen und Hausarresten sind wir hier aber weit entfernt. Bezeichnenderweise wurde während der Ausschreitungen im Kontext der Gelbwesten-Proteste von diesem Gesetz keinerlei Gebrauch gemacht (s. Nachtrag).
Um das Verhältnis von Normalität und Ausnahme zu begreifen, lohnt sich ein kurzer Blick auf die glorreiche Geschichte des französischen Staates. Karl Marx schrieb im „18. Brumaire des Louis Bonaparte“,[5] dass „alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen … das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.“ Und das scheint sich auch hier zu bestätigen. Tatsächlich war die erste Durchsetzung des Ausnahmezustandes in Algerien ein Freibrief für das Militär und die Sicherheitskräfte – mit zahlreichen Konsequenzen für die Zivilbevölkerung. Die kolonialistischen Wurzeln des Ausnahmezustandes zeigen sich auch an der Erklärung des Notstands anlässlich der Aufstände in den Vorstädten 2005, aber da eher als Farce. Denn kein Polizeipräfekt hat damals von den Notstandsbefugnissen Gebrauch gemacht.
Der Blick in die Geschichte zeigt auch, dass es für staatliche Gewaltexzesse keines Ausnahmezustandes bedarf: Im Herbst 1961 war es die Pariser Polizei, die das größte Massaker in der Stadt seit der Niederschlagung der Commune im Jahre 1871 verübte: Im September und Oktober 1961 starben ca. 200 Algerier*innen. Sie wurden erstickt, erschossen oder zu Tode geprügelt. Der Ausnahmezustand galt zu dieser Zeit nur in den algerischen Gebieten. 1988 erschossen Mitglieder einer Spezialeinheit der Gendarmerie Nationale in Neukaledonien, einer französischen Kolonie ungefähr 20.000 Kilometer von hier entfernt, während einer Geiselnahme 19 Angehörige der Kanak-Befreiungsfront – auch das ohne Ausnahmezustand.
Polizei und Sicherheitskräfte brauchen in Frankreich leider keinen Ausnahmezustand, um ihre Gewaltmittel anzuwenden. Die Bewaffnung der französischen Polizeien, insbesondere im Zusammenhang mit Demonstrationen, wäre in Deutschland unvorstellbar.[6] Von Ende der 1990er Jahre bis zum Anfang der Gelbwesten-Bewegung im November 2018 haben über 20 Personen durch Hartgummigeschosse ein Auge verloren. Blend- und Schockgranaten gehören in Deutschland nur zum Arsenal von Spezialeinsatzkommandos, die Polizei in Frankreich nutzt sie regelmäßig auch bei Demonstrationen. Die Gendarmerie nutzte lange Zeit auch sog. Offensivgranaten; sie wurden erst nach dem Tode des Aktivisten Rémi Fraisse Ende Oktober 2014 abgeschafft.
Im Zusammenhang mit den Protesten gegen das Flughafenprojekt Notre Dame des Landes wurden 2018 in nur zehn Tagen ungefähr 11.000 Granaten diverser Typen eingesetzt: darunter z.B. „grenades de désencerclement“ (engl. „sting ball grenades“), die gewissermaßen die „weniger tödliche“ Version der Splitterhandgranaten darstellen; sie explodieren mit einem lauten Knall und verschleudern dabei (statt Schrapnellen aus Metall) Hartgummischrot. Die GLI (grenade lacrymogène instantanée/instant tear gas grenade) F4 wiederum werden nicht geworfen, sondern verschossen. Sie enthalten 25 Gramm des Sprengstoffs TNT und 10 Gramm CS-Gas. Auch sie produzieren einen lauten Knall sowie einen „Blitz“ und setzen dabei das CS-Gas frei. All diese Waffen werden zwar als „weniger“ oder gar als „nicht tödlich“ verkauft, haben aber in den letzten Jahren und insbesondere in den letzten Monaten immer wieder für schwere Verletzungen gesorgt: abgerissene Hände, Knochenbrüche, ausgeschossene Augen etc. Für den Einsatz dieses Instrumentariums brauchen Polizei und Gendarmerie keinen Ausnahmezustand.
Ähnliches gilt für die Strafjustiz: Auch die gewöhnliche Strafjustiz bedient sich außerordentlicher Mittel. 1983 wurde in Frankreich ein besonders beschleunigtes Verfahren eingeführt: Leute werden auf der Stelle festgenommen, in Polizeigewahrsam gesteckt und innerhalb von 48 Stunden vor Gericht gebracht und abgeurteilt. Währenddessen haben sie sich vielleicht zehn Minuten, um sich mit ihrer Anwält*in zu unterhalten. Die Verteidigung hat in diesem Verfahren fast keinen Aktenzugang. Das ist, was man „traitement en temps réel“ (Aburteilung in Echtzeit) bzw. „comparution immédiate“ (unmittelbare Vorführung) nennt. Am ersten Dezember-Wochenende wurden in Paris über hundert Demonstrant*innen in einem solchen Verfahren verurteilt (s. Nachtrag). Mit dieser Aufstellung polizeilicher und justizieller Instrumente aus dem Normalzustand will ich unterstreichen, dass man dem Begriff des Ausnahmezustandes seine Faszination nehmen muss.
Eine verselbständigte Polizei
Wozu taugt der Ausnahmezustand? Was sind seine Zwecke und Folgen? Erstens wurden bei den Durchsuchungen derart viele Materialien, Unterlagen, aber auch massenweise Computer beschlagnahmt, dass man nicht ausschließen kann, dass der Ausnahmezustand tatsächlich zur Gewinnung von polizeirelevanten Informationen im Bereich der Terrorismusbekämpfung beigetragen hat. Ein Nachweis dafür wurde der Öffentlichkeit jedenfalls bisher nicht erbracht. Mir ist kein Fall bekannt, wo es tatsächlich erwiesen ist, dass ein*e Täter*in oder gar ein Netzwerk als Folge der Anwendung der Notstandsbefugnisse gefunden oder enttarnt worden ist.
Zweiter Punkt: Die Erklärung des Ausnahmezustandes hat sehr viel mit der Panik vor dem Kontrollverlust durch die Politik zu tun. Der Ausnahmezustand erscheint hier als ein Kommunikationsmittel, mit dem die Regierung versucht, die Bevölkerung nach den Anschlägen und den Massakern in Paris zu beruhigen. Premierminister Manuel Valls hat die Notstandserklärung auch in diesem Sinne gerechtfertigt.
Und weiter? Der Notstand hat auf jeden Fall zur Beschleunigung und Vereinfachung von Strafverfahren im Bereich Betäubungsmittel und Waffen beigetragen. Er hat eine Verfestigung des kolonialen Charakters der Polizeipraxis und der Polizeikultur bewirkt. Er stellte den Versuch dar, sozialen Protest zu disziplinieren – was aber nicht dauerhaft von Erfolg gekrönt war, wie die Proteste der Gelbwesten zeigen.
Der Ausnahmezustand ist auch ein Zeichen der Brutalisierung der politischen Machtausübung, des Sprachregisters, der Art und Weise, wie man sich als Politiker*in der Öffentlichkeit präsentiert, wie man Polizei und Sicherheit an die erste Stelle rückt. Unter dem gewaltigen Einfluss von Nicolas Sarkozy gab es seit Anfang der 2000er Jahre eine gewisse Martialisierung des politischen Geschäftes in Frankreich.
Und das führt letztlich zu der Frage: Wie weit hat sich die Polizeigewalt in Frankreich verselbständigt? Nachdem drei ihrer Kollegen mit einem Molotow-Cocktail angegriffen worden waren, zogen im Oktober 2016, also mitten im Ausnahmezustand, hunderte Polizist*innen in Uniform, mit Polizeifahrzeugen und Blaulicht über die Champs-Élysées – unangemeldet und damit illegal. Es besteht die Gefahr, dass die Polizei in Frankreich die politische Macht für sich beansprucht. Das ist keine unbegründete Vorstellung, das hat sie schon einmal, nämlich im März 1958, getan. Die Polizei hat damals vor dem Parlament demonstriert und wollte ins Parlament vorrücken, das von der Gendarmerie verteidigt wurde. Das Vorrücken der Polizei war jedoch ein klares Zeichen, dass das Regime der Vierten Republik zu Ende war. Ein Militär wurde zur Rettung der Republik gerufen – Général de Gaulle, der dann eine neue Verfassung zur Volksabstimmung brachte.
Nachtrag: Staat und soziale Bewegung im Kontext des Gelbwesten-Protestes
Seit dem 17. November 2018 hat sich in Frankreich eine komplexe soziale Bewegung entwickelt, die der sog. Gelbwesten. Komplex ist sie deshalb, weil sie eine Mischung unterschiedlicher, teils gegensätzlicher Forderungen erhebt: weniger Staat, weniger Steuer, mehr soziale Leistung und öffentliche Einrichtungen … Komplex ist sie auch, weil ihre Erscheinungsformen neu und schwer kontrollierbar sind. Auf die gewandelten Protestformen reagiert der Staat mit einer Verschärfung der Gewalt und einem neuerlichen Versuch, die Straße als Ort des politischen Protests in Frankreich zu disziplinieren – ein Versuch, der schon im Falle des Protestes gegen die Arbeitsrechtsreform während des Ausnahmezustandes gescheitert ist.
Neu an den Gelbwesten-Bewegungen ist insbesondere ihre Ablehnung der Repräsentation. Sie verlangen unmittelbare Verhandlungen mit den Machthaber*innen und weigern sich, mit den üblichen Gesprächspartner*innen in Kontakt zu treten; auch Gespräche mit der Polizei über den Weg und den Ablauf der Demonstrationen werden abgelehnt. Mobilisiert wird über unterschiedliche Aufrufe via Facebook. Die Gelbwesten erweisen sich damit als die erste massive und dauerhafte Bewegung ohne feste bzw. mit mehreren Führungen („leaderless movement“) in Frankreich. Einig sind sich die Gelbwesten-Bewegungen auch darin, dass traditionelle Protestformen zum Scheitern verurteilt seien und der politische Protest in störenden bzw. zerstörerischen Aktionen bestehen müsse: Zu ihrem Repertoire gehören Straßen- und Kreisverkehrsblockaden, unangemeldete Demonstrationen, der direkte Marsch zum Elysées-Palast oder Demo-Routen, die traditionell verboten werden (etwa auf den Champs-Elysées) und letztendlich auch – zumindest für einen wesentlichen Teil der Demonstrierenden – die Anwendung von Gewalt.
In mehreren Städten wie Toulouse und Paris haben die Polizeikräfte mit aller Kraft und erheblichen Mitteln auf die Proteste reagiert. Sogar im Mai 1968 war die Zahl der schweren Verletzungen niedriger. Vom 17. November 2018 bis zum 16 April 2019 kam es zu 240 Kopfverletzungen. Fünf Menschen verloren eine Hand durch eine explodierende Granate, 23 Augen wurden durch Hartgummigeschosse ausgeschossen. In Marseille starb die 80-jährige Zineb Redouane durch eine Gasgranate, die ihr unmittelbar ins Gesicht geschossen wurde.
Allein am 1. Dezember wurden in Paris wurden ca. 10.000 Granaten verschossen bzw. geworfen: In 8.000 Fällen waren das „einfache“ Gasgranaten. Hinzu kommen jedoch die gefährlicheren Varianten: 340 Blendgranaten, 800 „grenades de désencerclement“ (siehe oben). Darüber hinaus wurden 780 Hartgummikugeln verschossen. Hartgummigeschosse stehen im Zentrum heftiger Debatten: Sie waren zunächst 1995 als Sonderwaffe für Polizeikräfte in den Banlieustädten eingeführt worden, stellen aber heute ein übliches Einsatzmittel bei Demonstrationen dar. Am 14. Februar 2019 verabschiedete das EU-Parlament eine Resolution gegen den Einsatz unverhältnismäßiger Gewalt bei Demonstrationen. Am 26. Februar forderte die Menschenrechtskommissarin des Europarats, auf den Einsatz von Gummigeschossen bei Demonstrationen zu verzichten. Und am 6. März schließlich rief die UNO-Kommissarin für Menschenrechte die französische Regierung zu einem besonnenen Vorgehen bei Demonstrationen auf und forderte eine eingehende Untersuchung der Fälle von Polizeigewalt. Es versteht sich fast von selbst, dass die polizeiliche Repression auch die Protestgruppen weiter motivierte.
Die Polizeigewerkschaften andererseits hatten schon früh auf die Erschöpfung der Beamt*innen aufmerksam gemacht. Seit 2015 wurden sie im Kontext der terroristischen Angriffe immer wieder zur Sicherung von öffentlichen Plätzen und Einrichtungen mobilisiert. 2016 wurden sie vier Monate lang auf die Straße geschickt, um die massiven Proteste gegen die Änderung des Arbeitsrechts einzudämmen, und seit Herbst 2018 schließlich sollten sie der Gelbwesten-Bewegung entgegentreten. Nachdem im November und Dezember 2018 Polizeibeamt*innen mit der inoffiziellen Bewegung „policiers en colère“ (wütende Polizisten) ihren eigenen Protest auf die Straße trugen, bemühte sich die Regierung, die Gefahr einer rebellischen Polizei schnell zu bannen: Kurz vor Weihnachten gewährte sie den Beamt*innen von Polizei und Gendarmerie eine Reihe von Sozialleistungen, die für die nächsten Monate für Ordnung in den Reihen sorgten. Tatsache ist jedoch, dass Regierungen in solchen Kontexten immer häufiger von den Polizeikräften abhängig werden.
Auf die Gelbwesten-Bewegung hat der Staat nicht nur mit neuen Formen und einer intensiveren Repression reagiert, sondern auch mit neuen Formen der Kontrolle. Am 8. Dezember 2018 wurde Paris zu einer immensen Testfläche für präventive Maßnahmen gegen mögliche Demonstrationen und Proteste. Bis zum Ende des Tages waren in Paris allein 920 Personen festgenommen worden (weitere 465 in anderen französischen Städten). Grundlage für diese Massenfestnahmen war ein 2010 neu eingeführter Straftatbestand, der zur Abwehr banlieutypischer Ansammlungen von Jugendlichen gedacht war. Nach diesem Art. 222-14-2 des Strafgesetzbuchs macht sich strafbar, wer „sich bewusst an einer … Gruppe beteiligt, von der Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie Gewalt gegen Personen oder die Zerstörung oder Beschädigung von Eigentum vorbereitet“. Am 8. Dezember nahm die Polizei systematisch Leute fest, die sich in einer Gruppe von mindestens zwei Personen im Umkreis von ein paar Kilometern um den Champs-Elysées herum bewegten und irgendein mögliches Abwehr-, Schutz- oder Angriffsmittel bei sich hatten – angefangen bei einer Bierflasche. Nicht nur die polizeiliche Bewaffnung, sondern auch ihre rechtlichen Mittel „wandern“ also von den Banlieues, der Peripherie, hinein in die Stadtzentren, vom Rand der französischen Gesellschaft in ihre Mitte.
Mit der Übernahme eines Gesetzentwurfs konservativer Senator*innen versuchte die Regierung, eine Reihe neuer präventiver Eingriffsmöglichkeiten einzuführen. Die Polizeipräfekten sollten die Befugnis erhalten, bestimmten Personen die Teilnahme an Demonstrationen für mehrere Wochen zu verbieten. Inspiration dafür war diesmal nicht etwas, was man zuvor in Banlieustädten ausprobiert hatte, sondern Maßnahmen, die man in den 1990er Jahren gegen Sportfans eingeführt hatte. Am 4. April qualifizierte das Verfassungsgericht diesen Artikel 3 des „Anti-Randalierer-Gesetzes“ („loi anticasseurs“, Gesetz 2019-290) als unverhältnismäßig und damit verfassungswidrig. Im Gesetz verblieben sind ein verschärftes Vermummungsverbot (Art. 431-9-1 StGB) und erleichterte Identitätskontrollen sowie Durchsuchungen von Personen, ihrem Gepäck und von Fahrzeugen im Umfeld der Demonstration.
Hinzufügen muss man schließlich die bisherige Bilanz der Strafjustiz: Bis Ende März 2019 wurden Prozesse gegen 2.000 Personen aus dem Kontext der Gelbwesten-Bewegung abgeschlossen, meistens im Rahmen eines „besonders schnellen Verfahrens“ (s. oben). 1.800 Personen warten noch auf ihre Verhandlung. Gegen mehrere Dutzend Personen wurde Untersuchungshaft angeordnet. In 1.700 Fällen haben die Staatsanwält*innen die Betroffenen ohne Verfahren freigelassen und lieferten damit den Beweis dafür, dass die Polizei eine große Zahl von Festnahmen ohne ersichtlichen strafrechtlichen Grund vorgenommen hat. Von den 2.000 abgeschlossenen Verfahren endeten 400 in Freiheitsstrafen ohne Bewährung.
Und wie nach dem G-20-Gipfel in Hamburg setzen Polizei und Strafverfolgungsbehörden nun viele Ressourcen dafür ein, Verdächtige auf im Internet zugänglichen Bildern und Videos zu identifizieren. Diese gibt es zu Hauf: Die Bewegung, die mit Aufrufen via Internet startete, erzählt ihre Geschichte auch weiterhin zu einem großen Teil im Netz.