von Michael Plöse
Zentrales Merkmal des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit ist der staatsfreie, unreglementierte Charakter von Protesten. Ihnen steht ein in den 50er Jahren verhaftetes, regulierendes und sanktionierendes Versammlungsrecht gegenüber, dessen Vollstreckungsorgane auf dem aktuellen Stand der Überwachungstechnik sind.
Schuhe werden im Internet bestellt, Filme gestreamt, Meinungen gepostet, Petitionen geklickt, aber demonstriert wird immer noch auf der Straße. Auch im Zeitalter der Digitalisierung ist das Bedürfnis nach physischer Präsenz auf der Straße nach wie vor hoch. Die Anzahl angemeldeter und durchgeführter Versammlungen hält sich seit Ende der 90er Jahre auf einem anhaltend hohem Niveau (für Berlin, vgl. Tabelle).
Anlässe für Protestaktionen sind neben ritualisierten Demonstrationsereignissen wie am 1. Mai nach wie vor lokale Missstände, umstrittene Gesetzesvorhaben, gesellschaftliche Veränderungs-, insbesondere Verdrängungsprozesse, und die kontinuierlichen Unternehmungen neofaschistischer Raumbesetzung. Immer öfter entfalten dabei Auseinandersetzungen um symbolträchtige Orte ungeahnte Mobilisierungseffekte mit breiter Anknüpfungsfähigkeit in das bürgerliche Lager – ob es nun um Stuttgart 21 oder um den Hambacher Wald geht. Soziale Medien, oft als Sterbebegleiter des öffentlichen politischen Raumes verrufen, dynamisieren die Organisation demonstrativer Zusammentreffen und erreichen neue, bislang wenig politisierte Gruppen von Nutzer*innen (so gesehen u.a. beim rasanten Aufstieg der Fridays for Future-Bewegung).
Demonstrationen mögen als Spiegel der gesellschaftlichen Widerstandsbereitschaft, als Maß der Politisierung gesellschaftlichen Engagements, ja sogar als Pulsmesser für die Lebendigkeit von Demokratie deklamiert werden. Ein Indiz für den Leidensdruck in der Bevölkerung ist es allemal, wenn sich der bürgerliche Hintern von der Couch auf die Straße bewegt. Dabei verhält sich die Länge des Demonstrationszuges keinesfalls proportional zur Durchsetzungsfähigkeit seiner Forderungen. Um Erfolg zu haben, müssen Proteste gesehen, beachtet und als unbequem, besser noch störend empfunden werden, ohne dass es gelänge, durch eine Verschiebung des Diskurses von den Inhalten auf die gewählten Mittel des Protestes dauerhaft von dessen Positionen abzulenken. Der Erzeugung aufmerksamkeitsheischender, irritierender Momente, die nicht nur Medienpräsenz bewirken, sondern auch Inhalte transportieren, kommt angesichts der Vielzahl von Informationsquellen eine immer größere Bedeutung zu. Nur so kann es ohne eigene Medienmacht gelingen, öffentlich auf den politischen Prozess einzuwirken und als „ein Stück ursprünglich-ungebändigter unmittelbarer Demokratie … den politischen Betrieb vor Erstarrung in geschäftiger Routine zu bewahren“, wie das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in seinem Brokdorf-Beschluss vom 14. Mai 1985 schrieb.[1]
Entwicklung der Versammlungszahlen für Berlin*
Versammlungen | durchgeführt** | angemeldet*** | |
1970 | 59 | ||
1980 | 344 | ||
1990 | 119 | ||
2003 | 3.022 | ||
2010 | 3.428 | ||
2015 | – | 5.023 | 5.537 |
2016 | – | 5.004 | 5.461 |
2017 | – | 4.897 | 5.150 |
2018 | – | 4.771 | 5.231 |
* bis einschließlich 1990 nur Westberlin
** alle behördlich registrierten Versammlungen, nicht nur angemeldete
*** auch abgesagte, umgemeldete, nicht-durchgeführte und verbotene Versammlungen
Quelle bis 2010: Polizeiakademie Berlin; danach: Versammlungsbehörde, LKA 552
Das Gericht betont zwar die Rolle von Versammlungen für das Funktionieren eines parlamentarischen Repräsentativsystems, in dem wirksame Möglichkeiten direkter Mitbestimmung fehlen, ihre Funktion erfüllen sie jedoch weniger als Gleitmittel denn als Sand im Getriebe der politischen Institutionen. Entsprechend innovativ müssen Aktionsformen gewählt werden. Dafür bedarf es eines hohen Maßes innerer Gestaltungs- und Definitionsfreiheit über die Formen und Mittel des Protestes.
Versammlungsfreiheit herrscht nicht
Wesentliches Merkmal der von Art. 8 Abs. 1 GG gewährleisteten Versammlungsfreiheit, die mit den Ritualen bloßer Akklamation politischer Macht bricht, ist daher der staatsfreie, unreglementierte Charakter von Protestereignissen. Staatstheoretisch erweist sich darin ihr in der Volkssouveränität verkörperter Anspruch einer von unten nach oben gerichteten Meinungs- und Willensbildung, die gerade (noch) nicht der Meinung der Mehrheit entsprechen muss. Staatsfrei sind Proteste jedoch nur, wenn ihre Organisation und Durchführung nicht von Versammlungsbehörden und Polizei dominiert werden und sie die Chance erhalten, den Adressat*innen ihrer Kritik gegenüber zu treten, ohne von diesem vereinnahmt zu werden. Staatsfreiheit ist daher ohne ein Mindestmaß an Staatsferne nicht zu haben.
Insofern stellt es einen Eingriff in die innere Versammlungsfreiheit dar, wenn den Teilnehmenden eines Protestereignisses die Definitionsmacht über die Eigenschaft ihrer Aktionsform als Versammlung im Sinne von § 1 Abs. 1 Versammlungsgesetz (VersG) genommen, die Kreativität der Kommunikationsformen und der Gestaltungsmittel kollektiver Meinungskundgabe beschränkt oder deren Anliegen durch ein übertriebenes Aufgebot von Polizeikräften diskreditiert wird. Der Staatsfreiheit widerspricht auch die Anwesenheit von (uniformierten oder zivil gekleideten) Polizeibeamt*innen ohne gewichtigen Grund, da sie potentielle Demonstrant*innen abschrecken können.[2]
Von Staatsferne kann auch dann nicht mehr gesprochen werden, wenn eine mit 215.000 Euro vom Senat bezuschusste Protestverhinderungsveranstaltung wie das MyFest am 1. Mai in Berlin-Kreuzberg den politischen Straßenkampf durch bierselige, musikalische Hipsterfolklore verdrängt,[3] wenn die Anwesenheit der Teilnehmenden mit technischen Mitteln registriert oder der „staatsfreie unreglementierte Charakter durch exzessive Observationen“ verändert wird.[4] Zur Versammlungsfreiheit gehört aber nicht nur „die Möglichkeit der Kollektivwerdung“ in der Öffentlichkeit, „um in der manifesten Präsenz des Versammlungskörpers aufzugehen“.[5] Ihre Bedeutung als Kommunikationsgrundrecht verlangt vielmehr – über die bloße Wahrnehmbarkeit des politischen Anliegens mittels tontechnischer Verstärkung am Versammlungsort[6] oder Transparenten von ausreichender Länge[7] hinaus – einen minimalen Schutz der medialen Selbstinszenierung im virtuell erweiterten öffentlichen Raum sozialer Medien.
Von einem Eingriff in die Versammlungsfreiheit ist daher auch dann auszugehen, wenn die Polizei mit ihren personellen und technischen Ressourcen die öffentliche Wahrnehmung der Versammlung dominiert, etwa indem sie noch im Verlauf des Protestereignisses per Twitter selektiv Botschaften verbreitet (über Unfriedlichkeiten, Verhaftungen oder Polizeistärke o.ä.) oder dessen Anliegen durch die Überbetonung der Teilnahme gewaltbereiter Aktivist*innen in den Hintergrund treten lässt.[8] Das staatliche Neutralitätsgebot verlangt nicht nur sachliche Korrektheit und Zurückhaltung in wertenden Betrachtungen, vielmehr lässt sich aus Art. 8 Abs. 1 GG ein Recht der Veranstalter*innen „auf kommunikativen Erstschlag“ ableiten, das es ihnen erlaubt, ihr Anliegen in einem angemessen zeitlichen Rahmen zunächst selbst darzustellen.
So gesehen schützt Versammlungsfreiheit einen typenoffenen, kontingenten Prozess gesellschaftlicher Reflexion und Selbstvergewisserung in Form gemeinschaftlicher Verkörperung dissentierender Positionen. Der durch Versammlungsgesetze gesetzte Rahmen, der den Behörden die Befugnis für reglementierende Eingriffe zur Durchsetzung wie zur Beschränkung von Demonstrationen verschafft, kann folglich nie ein „Versammlungsfreiheitsgesetz“ sein,[9] sondern ist immer ein Versammlungsfreiheitsbeschränkungsgesetz.
Macht der Straße vs. Herrschaft des Rechts
Protestereignisse sind mit dem ihnen innewohnenden Potential „ursprünglich-ungebändigter unmittelbarer Demokratie“ auf Veränderung, Wandel und Infragestellung des Bestehenden angelegt. Demgegenüber ist das Versammlungsrecht auf die Bewahrung von Ruhe, Ordnung und Landfrieden programmiert. Es orientiert sich an den Realitäten von 1953, als das Versammlungsgesetz des Bundes erstmals erlassen wurde und Versammlungen vorwiegend von Parteien, Gewerkschaften oder Verbänden in ordentlicher Marschformation unter Verwendung von Ordnern mit weißer Binde abgehalten wurden. Der normierte Normalfall des VersG atmet noch ganz den Odem einer Staatsveranstaltung: mit einem Leiter an der Spitze, der bis teilweise in die 90er Jahre hinein noch als Beliehener betrachtet wurde, der öffentliche Amtsgewalt ausübe und dessen Anweisungen zu befolgen seien (vgl. § 10 VersG).
1968 stellten Alfred Dietel, Kurt Gintzel und Michael Kniesel – drei hohe Polizeibeamte aus Nordrhein-Westfalen – im Vorwort zur ersten Auflage ihres Kommentares zum Versammlungsgesetz fest: „Das Versammlungsrecht ist lange Zeit ausschließlich als negatives Statusrecht betrachtet worden. Seine Ausübung wurde geduldet, nicht gewünscht. Der Gebrauch der Versammlungsfreiheit galt als potentiell gefährlich, besonders, wenn es um politische Aussagen ging. Von dieser Grundauffassung ist viel geblieben.“[10] Dem wollten die Autoren mit einer freiheitsbetonten Kommentierung entgegenwirken, die von einer „Ausgangsvermutung für die Zulässigkeit von Versammlungen und Demonstrationen“ ausgeht. Eine Denkweise, welche das BVerfG den Behörden im Brokdorf-Beschluss 17 Jahre später mit dem „Vorbild friedlich verlaufener Großdemonstrationen“ zum Ausgangspunkt exekutiver Gefahrenbewertung machte.[11] Die Vorgabe des Ersten Senats, „die grundrechtsbeschränkenden Gesetze stets im Lichte der grundlegenden Bedeutung (der Versammlungsfreiheit) im freiheitlichen demokratischen Staat auszulegen“ und behördliche Eingriffe auf ein Maß zu beschränken, das „zum Schutz gleichwertiger Rechtsgüter notwendig ist“, prägt auch heute noch die rechtlichen Auseinandersetzungen um die Zulässigkeit von Protesten.[12]
Gleichwohl dominieren polizeiliche Setzungen die gerichtlichen Verfahren: Das beginnt mit der Gefahrenprognose, mit der die Versammlungsbehörde Verbote oder Auflagen begründet. Es setzt sich fort in der Ermessensbetätigung der Polizei, was sie für (noch) zulässigen, wenn auch ärgerlichen oder lästigen Protest erachtet und was schon als Gefahr für die öffentliche Sicherheit. Und es reicht bis zur strafrichterlichen Beweiswürdigung und zu präventiven Maßnahmen der Freiheitsentziehung (Sicherungs- oder Rückführungsgewahrsam). Versammlungsrechtliche Streitigkeiten vor den Verwaltungsgerichten sind ganz überwiegend Eilrechtsschutzverfahren. Ihre anwaltliche und richterliche Bearbeitung steht unter enormem Zeitdruck. Nicht selten werden Auflagenbescheide erst wenige Tage oder gar Stunden vor Versammlungsbeginn bekannt gegeben, so dass für die Beschreitung des Rechtsweges – oft durch mehrere Instanzen – kaum Zeit bleibt. Die Qualität verwaltungsgerichtlicher Kontrolle lebt von den Möglichkeiten umfassender Sachverhaltsaufklärung und dialogischem Rechtsgespräch in der mündlichen Verhandlung – beides findet im Eilverfahren nicht statt. Die Möglichkeiten des Gerichts, die Richtigkeit der von der Behörde als gefahrbegründend präsentierten Tatsachen zu überprüfen, sind gering. In zeitlichen Stresssituationen kommt zudem den in Schriftsätzen formulierten Einwendungen, mit denen Anwält*innen die Gefahrenprognose der Polizei hinterfragen, nur ein geringes Gewicht zu. Demgegenüber wirken Gefahren bestätigende oder erhöhende Informationen selbst dann noch fort, wenn sie sich als falsch, fehlerhaft oder unverwertbar herausstellen.[13]
Mit der gerichtlichen Entscheidung ist das Ringen um das und mit dem Versammlungsrecht in der Regel nicht abgeschlossen. Es setzt sich vielmehr auf der Straße fort: in der Interaktion der Protestierenden, dem Agieren der Polizei und dem Kampf um die Deutungsmacht. Dabei hat sich gezeigt, dass Versammlungen ihre Positionen dann am besten zur Geltung bringen können, wenn sich die Polizei zurückhält, auf den Raumschutz begrenzt und dabei transparent und vorhersehbar agiert. Demgegenüber schrecken eskalative Einsatzkonzepte (frühzeitiges Behelmen mit Sturmmasken, Präsentation von Wasserwerfern, Räumfahrzeugen, neuerdings auch militärischer Bewaffnung) und widersprüchliches Agieren (z.B. Durchsetzen von Verboten entgegen gerichtlicher Gestattung) nicht nur potentielle Teilnehmer*innen vom Protest ab, sondern tragen selbst zu einer möglichen Eskalation der Lage bei.
Gleichwohl ist auch die Brokdorf-Demonstration 1981 trotz des vom BVerfG bestätigten Verbots und gegen die polizeiliche Verpflichtung zur Auflösung (§ 15 Abs. 4 VersG) im Zusammenwirken von Protestierenden und Polizei durchgesetzt worden. Ebenso die Proteste gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm 2007. Die notwendigen gesetzlichen Änderungen für eine entkriminalisierte und damit auch der Polizei mehr Duldsamkeit ermöglichende Handhabung von Protesten fehlt trotz mancher Liberalisierung in den neuen Landesversammlungsgesetzen bis heute. Demgegenüber wurden die Strafen für Widerstandshandlungen gegen die Polizei eigens für den G20-Gipfel unerträglich verschärft (§§ 113 ff. StGB) und die Polizei rüstet sowohl bei der Verwendung von Überwachungs- als auch von Waffentechnik auf.
Kampf ums Versammlungsrecht
Auseinandersetzungen um das Versammlungsrecht sind Kämpfe um den Erhalt, die Selbstaneignung und Rückerschließung des öffentlichen Raumes – auch und gerade angesichts zunehmender Privatisierung, Gentrifizierung und Kommerzialisierung öffentlicher Begegnungs- und Lebensräume. Für diese Nutzungskämpfe hat das BVerfG mit seinem Fraport-Urteil vom 22. Februar 2011 und dem Beschluss zum „Bierdosen-Flashmob für die Freiheit“ vom 18. Juli 2015 ein „öffentliches Forum“ offen gehalten, „auf dem Bürger ihre Anliegen besonders wirksam in die Öffentlichkeit tragen und hierüber die Kommunikation“ auch dann „anstoßen können“, wenn der Raum, in dem der Protest stattfinden soll, längst privatisiert ist. Verbote könnten nicht auf den Wunsch gestützt werden, „eine ,Wohlfühlatmosphäre‘ in einer reinen Welt des Konsums zu schaffen, die von politischen Diskussionen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen frei bleibt.“ Nicht weniger programmatisch als 1985 stellt das Gericht klar: „Ein vom Elend der Welt unbeschwertes Gemüt des Bürgers ist kein Belang, zu dessen Schutz der Staat Grundrechtspositionen einschränken darf.“[14]
Nichts anderes kann für den Wunsch des Wochenendbummlers gelten, in öffentlichen Grünanlagen unbeschwert und ungestört von Protestcamps flanieren zu können. Denn mit ihrem Camp schaffen die Zeltenden nicht nur notwendige physische Voraussetzungen für die Teilnahme an Protestereignissen, sondern eröffnen durch ihre vorgelebten Praktiken selbst einen „symbolischen Raum …, in welchem (diese Praktiken) einen genuin politischen Sinn erhalten“ und schon durch ihre Existenz zur Gegenöffentlichkeit werden.[15]
Bei alledem kommt dem juristischen Kampf um das Versammlungsrecht eine strategisch bedeutende Rolle zu. Von der Polizei wird erwartet, dass sie ein von der Politik identifiziertes Problem mit den Mitteln löst, die ihr zur Verfügung stehen. Allein das Recht bestimmt, ob und wie die verfügbare Technik und personelle Überlegenheit eingesetzt wird und wie viel Selbstorganisation und Staatsferne der Versammlung dann noch verbleibt. Es ist damit zugleich ein Korsett für das polizeiliche Handeln, das je enger geschnürt, der Polizei auch eine Chance lässt, ihrer „Erfolgsverpflichtung“ zu entfliehen und auf den Einsatz bestimmter Mittel von vornherein zu verzichten. Dauerhafte Erfolge können hierbei nicht erwartet werden – solange sie nicht auf der Straße erkämpft und verteidigt werden.