Die Konsequenz ist Widerstand: Antirassismus kontra deutsche Leitkultur

Migrantifa Berlin

Vier Jahre sind seit dem grausamen Attentat in Hanau vergangen, verändert hat sich in Deutschland nichts. Wir legen den Finger in die Wunden, die uns diese Gesellschaft seit jeher tagtäglich zufügt. Es ist längst überfällig, die Zusammenhänge eines Systems anzugehen, das seit Jahrhunderten Rassismus in seiner DNA trägt. Die Staatspolitik von Berlin-Neukölln bis nach Gaza zeigt: Rassifizierte Leben sind weniger wertvoll. Dagegen organisieren wir uns, denn Hanau war kein Einzelfall.

Der 19. Februar 2020 steht wie kaum ein anderes Datum für das „Versagen“ sogenannter staatlicher „Sicherheitsbehörden“. Bei einem rassistischen Terroranschlag ermordet ein Rechtsextremer nach vorheriger Ankündigung seiner Tat neun Personen: Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov. Diese Namen wurden durch die Arbeit von Hinterbliebenen und zahlreichen antifaschistischen und antirassistischen Gruppen deutschlandweit bekannt. Auch weil sich im ganzen Land vor allem junge migrantisierte Menschen, die unter dem vorherrschenden rassistischen System in Deutschland leiden, unter dem Label „Migrantifa“ zusammenschließen und sich für migrantisch-antifaschistischen Selbstschutz gegen rechte Strukturen und Polizei organisieren. Denn die Polizei, die sich zwar selbst als „Sicherheitsorgan“ versteht, konnte die Tat weder verhindern noch den Schaden begrenzen. In der Logik des Polizeiapparates lag das an sogenannten „Ermittlungspannen“[1]. Dabei ist nicht erst seit der Arbeit der Hinterbliebenen der Morde an Oury Jalloh oder durch die Opfer des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) bekannt, dass der Gefahrenherd Polizei – wie auch in Hanau – immer wieder eine zentrale Rolle in rassistischen Morden spielt. So verhinderte der verschlossene Notausgang, der ebenfalls auf polizeiliches Einwirken zurückgeht, die Flucht der Gäste der Arena-Bar vor dem Attentäter und nicht, wie angedacht, vor Razzien. Ähnlichen Motiven folgt die Berichterstattung über Hanau, die noch in derselben Tatnacht u.a. mit Bild-Livestreams und rassistischen Erzählungen von einer „Milieutat”, für die „die Russen” verantwortlich seien, beginnt. Schlagzeilen, die an die Morde des NSU erinnern, bei denen ebenso wenig ein rechtsextremer Tathintergrund in Betracht gezogen wurde. Die für die Dominanzgesellschaft einzig ersichtliche Möglichkeit: kriminelle Ausländer unter sich.

Stattdessen reiht sich das Attentat in die lange Tradition rechten Terrors in Deutschland ein, der nicht nur rassifizierte, sondern auch linke und besitzlose Menschen trifft. Antisemitische Vorfälle stiegen schon Ende der 50er wieder massiv an und erreichten 1970 mit dem Brandanschlag in München einen vorläufigen Höhepunkt. In der Folge kam es unter anderem zum Oktoberfestattentat 1980 und rassistischen Pogromen in Hoyerswerda 1991, Rostock-Lichtenhagen und Mölln 1992 oder Solingen 1993. Wirkliche Konsequenzen, wenn es beispielsweise um Aufarbeitung oder konsequenten Schutz geht., bleiben aus. Diese Geschichte setzt sich mit den Anschlägen von Halle 2019 und Hanau 2020 nahtlos fort. Erneut wird deutlich, was der Migrantifa vorhergehende Generationen in Deutschland bereits seit vielen Jahrzehnten erleben und diskutieren:[2] Das Ineinandergreifen von fest in der Gesellschaft verankerter rechter Ideologie und staatlichen Behörden.[3] Die deutsche Gesellschaft, hetzende Medien und die offen menschenverachtende neoliberale Politik der letzten Jahrzehnte schufen den Nährboden für eine Tat, die sich jederzeit wieder ereignen kann und die mörderische Geschichte fortschreibt. Denn das sogenannte Behördenversagen ist keins – alles funktioniert genauso, wie es soll.[4] Nur eben nicht für, sondern gegen uns. Alles ganz normal für einen rassistischen Status Quo, der am heftigsten diejenigen trifft, die arm oder links sind – oder beides. Dass das die einzig logische Konsequenz ist, erschließt sich, wenn wir Rassismus als ein materielles und strukturelles Verhältnis verstehen, das notwendig für kapitalistische Ausbeutung ist – entgegen aller liberalen Auffassungen, die Rassismus vor allen Dingen als individuelles Vorurteil begreifen.[5]

Rassismus als deutsche Staatsräson

Rassismus als pseudowissenschaftliches System entstand durch die koloniale Ausbeutung des globalen Südens und die Naturalisierung der Sklaverei.[6] Kapitalistische Produktionsweisen spielten also eine zentrale Rolle in der  Universalisierung von Rassismus.

Koloniale Enteignung ging Hand in Hand mit gewaltvoller Unterwerfung. Beispielhaft dafür steht der verübte Genozid Deutschlands an den Herero und Nama, der die repressive Antwort auf Aufstände gegen das Kolonialregime war[7] und bis heute durch fehlende Aufarbeitung und Reparationen in Deutschlands Innen- und Außenpolitik offenliegt. Widerstand gegen kapitalistische Politik gab es also schon immer, ob in den ehemaligen Kolonien oder in kommunistischen Organisierungen, deren Kämpfe international vielfach verwoben waren.[8] Nach der Shoa und dem Porajmos (NS-Genozid an Sinti*zze und Rom*nja) verändert sich Rassismus in Deutschland mit dem Mythos der Entnazifizierung. Ab Mitte der 1950er Jahre manifestiert sich Rassismus im Wiederaufbau der BRD vor allem durch die Überausbeutung von Gastarbeitenden, die die nun fehlende Arbeitskraft der Zwangsarbeiter*innen im Dritten Reich ersetzen. Zu Deutschland gehören sie wegen ihrer „anderen“ Kultur aber trotzdem nicht. Was früher durch Rassen begründet wurde, ersetzen jetzt Differenzen, die entlang von Kultur- oder Migrationsfragen gezogen werden. Ausländer gelten als Gefahr, anstatt als schützenswerter Teil der Gesellschaft. Die Antwort auf diese Entmenschlichung sind immer wieder spontane Streiks der Arbeiter*innen.[9] Den Soundtrack liefert Cem Karaca, Sänger der Band „Die Kanaken“ und singt 1984 über Gastarbeiter*innen: „es wurden Arbeiter gerufen, doch es kamen Menschen an“. Zum Dank für das „Wirtschaftswunder“ ist der deutsche Staat nur stiller Beobachter als Nazis Migrant*innen angreifen und rassistische Gewalt in den Folgejahren, spätestens aber in den 90ern völlig eskaliert. Die Polizei schützt eben nur das Eigentum derjenigen, die ohnehin von der kapitalistischen Produktionsweise  und dem rassistischen Normalzustand profitieren.

Der Rest soll gehörig die Schwerstarbeit verrichten, für die man sich selbst zu schade ist – ob in der Kohle- oder Autoindustrie, als Pfleger*innen gegen den Fachkräftemangel, auf dem Bau oder in der Landwirtschaft – in Leiharbeit, als Tagelöhner oder komplett ohne offiziellen Arbeitsvertrag, geschweige denn ordentlichen Arbeitsschutz. So kommt es, dass Ausländer einfach „übersehen” werden, sei es am Tatort oder, weil sie sich außer Sichtweite im Niedriglohnsektor zu Tode arbeiten.[10] Migrant*innen sind, egal wie integriert, nie Teil der Gesellschaft und dürfen nie dieselbe Sicherheit genießen – egal ob auf der Arbeit oder auf der Straße.[11] Sei es bei der Bewerbung um Arbeitsplätze oder Wohnraum, beim Zugang zum Gesundheits- und Bildungssystem oder durch Kriminalisierung und Illegalisierung gesamter Existenzen und Gruppen durch Politiken der Stigmatisierung. Die organisierte Verwahrlosung[12] unserer Kieze wird durch die Haushalts- und Sparpolitik des Staates auf die Spitze getrieben, befeuert Armut und verunmöglicht ein (Über)Leben in Deutschland. Die deutsche Geschichte zeigt, dass Rassismus im Laufe der Zeit sich immer wieder dynamisch verändert, mal mehr, mal weniger offen auftritt, letztendlich aber immer im Interesse der Reichen und des Nationalstaates selbst funktioniert.[13] Die Polizei prügelt diese Ordnung zurecht und wird regelmäßig selbst zum Täter.[14] 

Yallah Migrantifa!

So lang wie Rassismus in der deutschen Geschichte existiert, so lang existiert der Widerstand dagegen und genau an diese Tradition wollen wir als Migrantifa Berlin anknüpfen. Wir sind eine eigenständige Gruppe und gleichzeitig Teil des Netzwerkes von lokalen Migrantifa-Gruppierungen im ganzen deutschsprachigen Raum. Anders als bei vielen migrantischen Selbstorganisierungen vor uns liegt unser Fokus auf den Kämpfen vor unserer Haustür. Diese können jedoch nicht getrennt von globalen Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnissen verstanden werden, da wir sonst der Komplexität des kapitalistischen Systems nicht gerecht werden, gegen das wir uns organisieren. Das, was vor unserer Haustür passiert, ist auch ein Spiegel der globalen Verhältnisse und die Fortsetzung imperialer Bestrebungen des Staates mit anderen Mitteln. Deshalb sehen wir uns in der Verantwortung internationalistische Kämpfe in Bezug zu den Verhältnissen hier vor Ort in Deutschland setzen, um im selben Zuge auch diese anzugreifen und zu verändern.

Auch das unterscheidet Migrantifa von Antifa-Gruppen, da diese viel zu häufig nicht-weißen Perspektiven nicht die nötige Aufmerksamkeit einräumen. Wir nutzen unsere kollektiv geteilte Rassismuserfahrung produktiv für unsere materialistische Gesellschaftsanalyse, auf Basis derer wir langfristig essentialisierende Identitätskategorien überwinden wollen. Denn unser antirassistischer Kampf dreht sich nicht um Partikularinteressen, sondern ist ein universalistischer Kampf für die Emanzipation aller und die Abschaffung kapitalistischer Verhältnisse überall. Dieser beruht auf einer Analyse der spezifisch historisch gewachsenen Gesellschaftsform. Darunter fällt zum Beispiel auch ein Bewusstsein für (historische) Verhältnisse wie z.B. zu Osteuropa und der damit zusammenhängenden Ausbeutung von Migrant*innen im Niedriglohnsektor und folglich der Strukturierung des Arbeitsmarktes sowie der gesamten Gesellschaft.[15]

Staatlicher Kontrollwahn im migrantischen Berlin

Als Mittelpunkt unserer Organisierung sehen wir den Berliner Stadtteil Neukölln, welcher wie kein anderer Ort für die rassistische Stimmung in Politik, Medien und Gesellschaft in Deutschland steht. Der wohl bekannteste Stadtteil der Bundesrepublik ist Projektionsfläche für die staatliche Unsicherheitspolitik, wobei diese sich vor allem rhetorisch an Neukölln abarbeitet, anstatt sich an den tatsächlichen Gegebenheiten vor Ort und den Bedürfnissen der Anwohnenden zu orientieren.[16]

So stellen Politiker*innen und Medien Community-Orte von migrantisierten Menschen wie Shisha-Bars durch den Komplex vermeintlicher „Clankriminalität” unter rassistischen Generalverdacht und beschuldigen damit gesamte Bevölkerungsgruppen der Kriminalität.[17] Das Allheilmittel dagegen: eine „Politik der tausend Nadelstiche“ (Martin Hikel, SPD-Bürgermeister Neukölln, Berlin) mit ständigen Durchsuchungen von bis an die Zähne bewaffneten Spezialeinsatzkommandos, gern in freundlicher Begleitung der Springer-Presse inklusive Live-Schalte. Für Hikel bedeutet in der zweiten Reihe Parken die Missachtung des Staates – und Zeit in Shisha-Bars verbringen ebenso.[18] Systematisch weitergesponnen werden diese rassistischen Diskurse bei jeder Gelegenheit: Silvester-Krawalle, Massenschlägereien in Freibädern, Ausnahmezustände auf der Sonnenallee – alles verbunden mit den großen moralischen Paniken von „kriminellen Großfamilien“, „Parallelgesellschaften“ und „der Islamisierung Deutschlands“. Doch damit nicht genug: ob am Hermannplatz, am Kottbusser Tor oder in der Hermannstraße, die Polizei hat in den migrantischen Stadtteilen Berlins durch die Einstufung als kriminalitätsbelastete Orte (kbO) den Freifahrtschein zur Schikane rassifizierter Personen.[19] Alles, um der Polizei großzügig außerordentliche Befugnisse einzuräumen und noch mehr Mittel für eine härtere Law & Order Politik zu rechtfertigen.[20] Weil das nicht ausreicht, soll der Görlitzer Park nun auch noch eingezäunt und nachts abgeschlossen werden.

Ob ein oder -ausgesperrt, der Knast ist längst nicht der einzige Ort, in dem Menschen hinter Gittern weggesperrt und tyrannisiert werden. Selbst wenn Stacheldrahtzäune an den europäischen Außengrenzen überwunden werden und Menschen es anschließend aus den Lagern herausschaffen, der Kontroll- und Strafwahn des deutschen Staates geht weit über die Mauern von Gefängnissen hinaus und setzt sich im alltäglichen Leben von Rassifizierten fort. Sinnbild dessen: Der verschlossene Notausgang in Hanau.

Unsere Praxis für lokale Widerstandsfähigkeit

In unseren Kiezen wollen wir uns mit Strukturen, die sich an den real existierenden Lebensrealitäten und unseren Interessen orientieren, selbst unterstützen. Viele junge migrantische Menschen sind bereits geprägt durch ihre eigenen Erfahrungen beim Themenkomplex Rassismus durch staatliche Diskriminierung und Polizeigewalt.  Sie wissen, dass Sicherheitsbehörden keine Sicherheit bringen, sondern die Polizei rufen oft mit weiteren Gefahren verbunden ist. Genau da knüpft unsere Gegenerzählung von Unterdrückung und Ausbeutung an und schafft ein gemeinsames Verständnis, das die Grundlage für kollektive Emanzipation ist. Im Kiez auf Kundgebungen oder Demonstrationen sowie auf Social Media verorten wir die Perspektiven junger migrantischer Menschen in einem größeren Kontext linksradikaler Politik, um uns mit der Nachbarschaft zu verbinden und zumindest ein erstes Gefühl der Zugehörigkeit zu einer größeren gegenhegemonialen Bewegung auf- und auszubauen. Denn wir müssen als Nachbarschaft sowie als Community zusammenwachsen und die Probleme unserer Nachbar*innen strukturell auch als unsere eigenen Anliegen begreifen, um sie kollektiv angehen zu können.

Durch den Austausch über Geschehnisse im Kiez und unsere eigenen Veranstaltungen mit Gewerbetreibenden und Anwohnenden auf Kiezspaziergängen, werden wir mittlerweile wiedererkannt und gefragt, wo wir so lange waren ohne vorbeizuschauen. Damit wir auch selbst erreichbar sind, organisieren wir unseren eigenen Anlaufpunkt und Begegnungsort für die Nachbarschaft gemeinsam mit dem Stadtteilkomitee Neukölln und dem kommunistischen Jugendbund im Stadtteilladen „Rote Lilly“. Mit regelmäßigen offenen Cafés, Rechtsberatungen und Events stärken wir die soziale Basis für kollektive und politische Selbstorganisierung. In der „Lilly“ finden regelmäßig auch Demo-Trainings für unseren eigenen Schutz auf Demonstrationen statt. Mit der Zeit konnten wir so einen kollektiven Lernprozess anstoßen, der auf der diesjährigen Demo anlässlich des ersten antirassistischen Kampftags zum vierten Jahrestag des Anschlags in Hanau im Verhalten der Ordner*innen zum Ausdruck kam. Als die Polizei versuchte gezielt Einzelpersonen aus dem Demonstrationszug zu verhaften, hinderten die Ordner*innen und Teilnehmende die Polizei am Eingreifen, indem sie sich selbstständig kollektiv dazwischen stellten, beieinander einhakten und schützende Ketten bildeten, obwohl dies überhaupt nicht ihre Aufgabe war.

Genau wie die Ordner*innen wollen wir mit unserer Selbstorganisierung der Gefahr von Vereinzelung entgegenwirken. Nur wenn wir aufeinander achten und einschreiten, wenn Cops, Nazis oder Kontrolleur*innen uns belästigen, können wir uns selbst schützen. Bewaffnete Cops, Grenzschutz und Waffenexporte werden niemals Probleme lösen, sondern heizen diese im Gegenteil nur weiter an. Daher gilt es nicht nur, unterdrückende Strukturen und deren Verstrickungen mit staatlicher Herrschaft, Strafen und gesellschaftlichem Ausschluss zu bekämpfen, sondern Alternativen aktiv gemeinsam zu organisieren und zu leben. Da unsere eigenen, wie auch alle anderen gesellschaftlichen Strukturen nicht frei von Macht- und Gewaltverhältnissen sind, versuchen wir uns Methoden von Kritik und Selbstkritik sowie Transformative Justice anzueignen und dadurch mit- und aneinander zu wachsen.

Unsere Stadtteilarbeit ist inspiriert von der Arbeit der Black Panther und der Stadtteilgewerkschaft „Solidarisch in Gröpelingen“. Wir müssen aber auch festhalten, dass über den Laden hinaus unsere Basisarbeit der letzten vier Jahre den gesellschaftlichen Verhältnissen sowie unseren Ansprüchen und Strukturen nicht gerecht werden konnte. Den aufwendigen Beziehungsaufbau bei Essensausgaben oder Hausaufgabenhilfen konnten wir nur selten in eine gemeinsame politische Praxis übersetzen.[21] Trotzdem sind wir davon überzeugt, dass wir uns vor Ausbeutung und Unterdrückung nur selbst schützen können, wenn wir uns gemeinsam organisieren – in unseren Häusern, unseren Kiezen, unseren Arbeitsstätten. Nicht, um uns in das bestehende System zu integrieren oder einzeln aufzusteigen, sondern mit dem Ziel kollektive Gegenmacht für ein Gefühl der Sicherheit in unseren Kiezen und Handlungsfähigkeit zur Durchsetzung und Befriedigung unserer Interessen aufzubauen.

Politisierung von Hanau als abolitionistische Praxis

Der unermüdlichen Arbeit zum Trotz solidarisiert sich der Staat, wenn überhaupt, nur symbolisch mit Angehörigen rassistischer Anschläge. Was bleibt sind keine Konsequenzen, keine Gerechtigkeit. Als Migrantifa Berlin sind wir nie davon ausgegangen, dass das Appellieren an solch einen Unrechtsstaat Gerechtigkeit mit sich bringen wird und zudem verhindern kann, dass eine derartige Katastrophe sich wiederholt. Im Gegenteil: Der Staat hat überhaupt kein Interesse an strukturellen Veränderungen zur Lösung unserer Probleme und die Dominanzgesellschaft ist mitschuldig.

Wir sagen schon lange: Gedenken an die Opfer bedeutet Kämpfen für die (noch) Lebenden. Deshalb war es nur logisch den ersten antirassistischen Kampftag Deutschlands am vierten Jahrestag des Terroranschlags in Hanau auszurufen. Die ständige rassistische Gewalt vor unserer Haustür, die Illegalisierung von Geflüchteten, die Unterdrückung kritischer jüdischer Stimmen oder die Kriminalisierung der kurdischen oder Palästina-solidarischen Bewegung ist die Fortsetzung imperialistischer Profitinteressen und Kriegen auf der ganzen Welt. Deshalb müssen wir „Erinnerung, Aufklärung, Gerechtigkeit, Konsequenzen“ global verstehen. Wir kämpfen gegen Entmenschlichung hier und überall! Aktuell setzt sich insbesondere die Dehumanisierung in Palästina durch die aktive Kriminalisierung unserer Kieze fort, indem es die „Gefährder“ von dort auch hier markiert und so versucht für die Politik in beiden Kontexten eine sich gegenseitig begründende Legitimität zu konstruieren. Anstatt Menschen wegzusperren, zu verurteilen und unsichtbar zu machen, müssen die Ursachen also national und international bekämpft werden. Eine Demo, welche die Geschehnisse in Hanau nicht in den Kontext der aktuellen rassistischen Politik Deutschlands stellt, wäre der Situation in unseren Kiezen nicht gerecht geworden – vor allem nicht dem rassistischen Diskurs, der unseren palästinensischen Geschwistern das Recht auf Leben und Schutz abspricht, der alle von anti-muslimischem Rassismus Betroffenen mitmeint und den unverhältnismäßigen Repressionen gegenüber den Palästina-solidarischen Bewegungen.

In der ach so unabhängigen Presselandschaft, die die Staatsräson unkritisch mitträgt, war uns daher schlechte Presse bereits im Vorhinein sicher. Das eigentlich Wesentliche – Rassismus in Deutschland – spielte in der Berichterstattung kaum eine Rolle. Bereits Tage vor dem 19. Februar 2024 zerrissen Politiker*innen und Medien sich das Maul darüber, wie das Gedenken an Hanau auszusehen hätte und welche Form des Gedenkens angemessen wäre. Ein gefundenes Fressen für die Institutionen der Politik, um von den eigenen Fehlern abzulenken.

Wer meint, Deutschland mache Fortschritte mit Diversity-Trainings, Antirassismus-Workshops und Kritischem Weißsein, der hat das eigentliche Problem nicht verstanden. Die Annahme, es würde reichen lediglich unser Verhalten und Denken zu verändern, um rassistische Verhältnisse effektiv bekämpfen zu können, ist der Versuch der Vereinnahmung von antirassistischem Protest, der sich in seinen Ursprüngen aber tatsächlich schon immer gegen das kapitalistische System richtete und es bis heute tut. Rassismuskritik, die gesamtgesellschaftliche Veränderung fordert, lässt sich nicht einfach so vereinnahmen und passt dementsprechend den mächtigen Reichen des Landes nicht.

Deren Angebote für Dialog und Mitbestimmung sind eine Illusion und nur Mittel zum Zweck, um Gewissen reinzuwaschen und die scheinbare Legitimität des rassistischen Status Quo durch Spaltung, Befriedung und Kontrolle von Bewegungen aufrechtzuerhalten. Versuche der Spaltung sind gezielte Angriffe mit dem Ziel radikale Forderungen zu diskreditieren. Konkret wird dabei eine Teilung von Protesten in gut und schlecht, legitim und illegitim, verhältnismäßig und unverhältnismäßig, gewaltfrei und gewaltvoll vorgenommen. Liberale Medieninstitutionen unterstützen diesen Prozess, indem sie u.a. die Polizei immer als legitime und rechtmäßige Information betrachten und Polizeiberichte als wahrheitsgemäße Abbildung der Geschehnisse unhinterfragt abdrucken. Ein derartiger Journalismus erscheint fast schon absurd, während die Polizei selbst durch unzählige rechte Chat-Gruppen und extreme Gewalt bis hin zu Morden immer wieder auffällt. Die eigentlichen Probleme und tatsächlichen Ursachen des Protests werden einfach ausgeblendet. Deshalb organisieren wir uns gegen das Herrschaftsinstrument der Spaltung und die Vereinnahmung unserer Gesellschaftskritik durch liberale, parteipolitische oder finanzielle Interessen. Es braucht eine Bewegung von unten, die zusammensteht und sich nicht voneinander distanziert. Dies gilt gerade im Kampf gegen Repressionen und Polizeigewalt, da diese zwar nur Einzelne direkt treffen, aber am Ende Auswirkungen auf die gesamte Bewegung haben.

Wir können es nicht oft genug sagen: Wir können uns nicht auf den Staat verlassen, wir können uns nur selbst helfen. Genau deshalb organisieren wir uns gemeinsam mit unseren weißen Geschwistern für eine antifaschistische, migrantisch angeführte Revolution. Dabei begreifen wir Revolution nicht als einmaligen Anlass und abrupten Bruch, sondern als ständigen Prozess, in dem wir kontinuierlich an unseren Gemeinschaften arbeiten. Abolitionistisch sind dabei nicht nur die Forderungen nach einem befreiten Leben für alle und Organisierungsweisen für eine Transformation unserer gesellschaftlichen Institutionen, sondern vor allem unsere Analyse von Rassismus in Deutschland, die eben nicht ins System einzuhegen ist. Wir müssen die Grundzüge der kapitalistischen Gesellschaft ändern, um Rassismus effektiv zu bekämpfen. Deswegen ist für uns die Politisierung von Hanau abolitionistische Praxis, weil wir durch unsere Analyse von Hanau und dem dazugehörigen gesellschaftlichen Kontext die Verbundenheit rassistischer Politiken zu Gefängnissen, Grenzen, imperialen Kriegen und Ausbeutung auf der ganzen Welt erkennen: Yallah! Die Konsequenz ist Widerstand.

[1]   Hierzu ausführlich: https://19feb-hanau.org/wp-content/uploads/2021/02/Kette-des-Versagens-17-02-2021.pdf
[2]   Ertan, S.; Bilir-Meier, Z.; Bilir-Meier, C: Mein Name ist Ausländer: Gedichte, Münster 2020
[3]   ak wantok (Hg.): Antifa Gençlik: eine Dokumentation (1988-1994), Münster 2020
[4]    Keller, N.:  Wer hat Angst vorm Kottbusser Tor? Zur Konstruktion „gefährlicher“ Orte. In: CILIP Bürgerrechte & Polizei (115) 2018
[5]   Kanak Attak: Der Kanak-Attak-Aha-Effekt und die Überwindung der antirassistischen Arbeitsteilung.  Online 2001
[6]    Robinson, C.J.; Kelly, R.D.G.: Black Marxism: the making of the black radical tradition. Chapel Hill 2000
[7]   Forensic Architecture: Restituting evidence: Genocide and Reparations in German Colonial Namibia. Online 2022
[8]   Swagler, M.: Als der Kommunismus Schwarz wurde. Panafrikanismus und Antikolonialismus in der Kommunistischen Internationale, Online 2019
[9]   Cafaro, N;  Hüttner, B; Tekin, C (Hg.): Gelingende und misslingende Solidarisierungen: Spontane Streiks in Westdeutschland um 1973, Berlin. Online 2023
[10] Manolova, P.: 2Warum starb Refat Süleyman?”. Jacobin Magazine, Online 2022
[11] Pan, J.C.; Johnson, C.G.: Police Exist to Manage and Contain the Surplus Population. An Interview with Cedric Johnson. Jacobin Magazine. Online 2023
[12] Gilmore, R.W.: Golden Gulag. Prisons, Surplus, Crisis, and Opposition in Globalizing California, California 2007
[13] Vgl. Sarbo, B. 2023: Rassismus und gesellschaftliche Produktionsverhältnisse. Ein materialistischer Rassismusbegriff. In: Roldán Mendívil, E.; Sarbo, B. (Hg.) a.a.O.
[14] Mehr bei der Kampagne Death in Custody: Rassismus tötet. und Break the Silence-Initiative in Gedenken an Oury Jalloh
[15] Karakayalı, S.; Tsianos, V.: Migrationsregimes in Almanya. Zum Verhältnis von Staatlichkeit und Rassismus. 1-24. 2002
[16] Stadtteilkomitees Berlin: Bürgerliche Feindmarkierung, Online, 4.9.2023
[17]   Chahrour et al. (Hg.): Generalverdacht: wie mit dem Mythos Clankriminalität Politik gemacht wird, Hamburg 2023
[18] Bädorf, M.: Von Rückzugsorten, Razzien und Anschlägen. Shisha-Bars in Deutschland. Deutschlandfunk Kultur Online 2022
[19] Identitätsfeststellungen und Durchsuchungen dürfen „verhaltensabhängig“ durchgeführt werden – sprich wann immer es der Polizei passt
[20] Ähnlich der Studie „Policing the Crisis“ von Stuart Hall im Bezug auf das britische Phänomen „Mugging“ (organisierte Überfalle von rassifizierten Jugendlichen), entbehren auch in Deutschland die genannten rassistischen Diskurse jeglicher statistischer Grundlage.
[21] Ausführlicher dazu: Folge 23: Die Migrantifa am Anderen Davos. Klassenkenntnis. Podcast, 4.3.2023, Spotify

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