Demonstrationsstatistik – Die Legende vom Anwachsen gewalttätiger Demonstrationen

von Roland Appel*/ Dieter Hummel**

„How to lie with statistics“ – so der Titel eines bekannten Buches der amerikanischen Soziologie. Die jüngste Antwort der Bundesregierung auf eine große Anfrage der Grünen im Bundestag zur vom BMI jährlich veröffentlichten Statistik des Demonstrationsgeschehens macht deutlich, daß die in jenem Buch beschriebenen politischen Chancen des Umgangs mit Zahlen – insbesondere was die Erfassung sogenannter „unfriedlicher“ Kundgebungsformen des Bürger(un)willens angeht – auch vom Bundesinnenministerium virtuos beherrscht werden.

1. Vorgeschichte

Seit 1970 legt die Bundesregierung dem Innenausschuß des Deutschen Bundestages eine jährliche Aufstellung über die Zahl der registrierten Demonstrationen vor, die auf Angaben der Bundesländer basiert. Schon diese Daten haben den Befürwortern einer Verschärfung des Demonstrationsrechtes wenig Argumente geliefert. Denn obwohl demonstrativer Protest kräftig gewachsen ist (1970: 1.388 Demonstrationen, 1988: 7.103 Demonstrationen), sank der Prozentsatz der „unfriedlichen“ Aufzüge von 9,5 % im Jahre 1970 auf unter 2 % 1988 (vgl. die Übersicht auf der folgenden Seite).

Aber selbst dieser geringe Prozentsatz „unfriedlicher“ Demonstrationen weist noch erheblichen statistischen Spielraum auf, wie die Bundesregierung jetzt auf präzise Nachfrage eher verdeckt zugeben mußte (BT-Drs. 11/5247). Dies hat sie nicht gehindert, die Entliberalisierung des Demonstrationsrechts und die Verschärfung des Demonstrationsstrafrechts 1988 gerade unter Hinweis auf die Zunahme gewalttätiger Demonstrationen zu begründen (vgl. BT-Drs. 11/2834).
Um jedoch die seit 1970 geführten Statistiken sozialwissenschaftlich nicht gänzlich als „Muster ohne Wert“ einstufen zu müssen, ist es erforderlich, die ihr zugrundeliegenden Erfassungs- und Bewertungskriterien sowie die Methoden der Erhebung zu kennen. Über diese wird aber in der diffusen „Teilöffentlichkeit“ innenpolitischen Verwaltungshandelns entschieden.

Etwas Einblick in diese Entscheidungen gibt weniger die als Bundestagsdrucksache veröffentlichte Antwort der Bundesregierung auf die große Anfrage der Fraktion „Die Grünen“, sondern mehr noch unveröffentlichte Begleitmaterialien, die die Fraktion vom BMI erhielt.

2. Relativität der Erfassungskriterien

Sozialwissenschaftliche Untersuchungen müssen, wenn sie gesellschaftliche Tatbestände über einen bestimmten Zeitraum, also z.B. jährlich zu erfassen sich bemühen, auf vergleichbaren Kriterien beruhen. Für die Demonstrationsstatistik bedeutet dies, daß (juristische) Tatbestände, die zur Einstufung einer Demonstration als „unfriedlich“ führen, bekannt und eingrenzbar sein müssen.

Solche eindeutigen Kriterien sucht man bei der Erläuterung des Begriffs „unfriedlich“ in der BMI-Statistik vergeblich. Zwar ist „das Verfahren der Ermittlung und Feststellung der statistischen Angaben“ nach Auskunft der Bundesregierung (BT-Drs. 11/5247) „zwischen Bund und Ländern abgestimmt“. Ein eindeutiger Katalog infragekommender Rechtsnormen existiert jedoch nicht. Statt dessen enthalten die vom BMI unter dem Aktenzeichen BMI P IBP 640 125.1/2 verfaßten Aufstellungen wechselnde Kataloge „häufigster Straf- und Bußgeldvorschriften, gegen die am häufigsten verstoßen worden ist“. Dieser Kriterienkatalog hat sich nach Bekunden der Innenbehörde in den letzten Jahren ständig verändert.

So erfolgte eine erste „Präzisierung“ im Jahre 1980 (Antwort auf eine Anfrage der Abg. Schilling v. 8.8.88). Bereits 1982 wurden auch sogenannte „Nachfolgeaktionen“, die in „zeitlichem und sachlichem Zusammenhang zu sehen sind“, erfaßt, jedoch nicht als solche gesondert ausgewiesen, sondern unter „unfriedlichen“ Demonstrationen subsummiert. (Anlage zur Antwort auf die kleine Anfrage vom 8.8.88)
Neben dieser offensichtlichen Ausweitung der Erfassungsparameter bleiben Unklarheiten im Zusammenhang mit der Frage, ab welchem Grad von Gesetzesverstößen die „Unfriedlichkeit“ einer Versammlung attestiert wird.

Obwohl die Bundesregierung einerseits beteuert, daß marginale Gesetzesverstöße – wie unterlassene Namensangabe der Veranstalter, ungenehmigtes Angebot von Erfrischungen, „störende Propaganda durch Licht, Bild, Ton“, Verursachung unzulässigen Lärms, Verdacht von Beleidigung ( 185 StGB) – nicht ausschließlich bereits eine Erfassung als „unfriedlich“ begründen, hat sie gleichwohl eingestanden, daß Gewalttätigkeiten einzelner dazu führen können, eine Demonstration insgesamt als unfriedlich zu erkennen (BT-Drs. 11/5247).

3. Extensive Bewertungskriterien

Was also ist „unfriedlich“? Dies ist die populäre Frage nach den Bewertungskriterien offizieller Demonstrationsstatistiken. Diese Frage ist in den letzten Jahren insbesondere aufgrund der Rechtsprechung gegenüber „gewaltfreien Aktionen“ der Friedensbewegung immer wieder Gegenstand politischen Streits geworden.

Inwiefern das Blockieren von militärischen Einrichtungen als „verwerflich“ zu gelten hat, ist juristisch und politisch umstritten. Für die Demonstrationsstatistik hätte es naheliegen können, diese besondere Form nicht gesetzeskonformen Handelns auch gesondert statistisch zu erfassen. Demgegenüber hat die Bundesregierung Blockadeaktionen grundsätzlich unter die „unfriedlichen“ Demonstrationen gerechnet. 1987 waren von 289 „unfriedlichen“ Aktionen 128 friedliche Sitzblockaden. Im Jahre 1988 wurden bei den insgesamt 133 unfriedlichen Aufzügen 52 Blockaden mitgezählt (Drs. 11/5247, S. 3).

Aber es ist nicht nur der Tatbestand der „Nötigung“ ( 240 StGB), der die Statistik der „unfriedlichen“ Demonstrationen aufbläht. Verstöße gegen folgende Paragraphen, die Nichtjuristen ohne weiteres in den Bereich des „Friedlichen“ rücken würden, weil sie keine Gewaltanwendung – nach allgemeiner Lebensauffassung und im physischen Sinn – enthalten, lassen gemäß der Statistik des BMI eine Willensbekundung „gewalttätig“ erscheinen: 185 StGB (Beleidigung), 123 StGB (Hausfriedensbruch), 130 StGB (Volksverhetzung), 130a StGB (Aufruf bzw. Anleitung zu Straftaten), 129a StGB (insbesondere das „Werben und Unterstützen“ einer terroristischen Vereinigung). Anders formuliert, auch die Äußerung entsprechender Parolen, aber auch geringfügige Verstöße gegen das Versammlungsrecht sind in die Statistik eingeflossen.

4. Methoden der Erhebung

Für die Ermittlung von aussagefähigen Daten bedarf es zuverlässiger Methoden. Insbesondere bei der Erhebung von Gesetzesverstößen sind sorgfältige Maßstäbe erforderlich.

Das rechtsstaatliche Prinzip der Unschuldsvermutung verlangt nicht nur eine Auflistung der polizeilich aufgenommenen Anzeigen, sondern ergänzend eine exakte Angabe der gerichtlichen Verurteilungen. Daher wird in der BRD neben der polizeilichen Kriminalstatistik, die alle jene Fälle erfaßt, welche von der Polizei an die Staatsanwaltschaft als Anklagebehörde weitergeleitet werden, auch eine Verurteilungsstatistik geführt. Diese gibt Auskunft darüber, in wievielen Fällen sich der polizeiliche Verdacht einer Straftat (polizeiliche Kriminalstatistik) im Gerichtsverfahren so verdichten konnte, daß er zu einer Verurteilung führte.

In der amtlichen Demonstrationsstatistik gibt es eine solche Unterscheidung nicht. Weder über die Zahl der eingeleiteten Ermittlungsverfahren noch über Anklageerhebungen oder Verurteilungen konnte die Bundesregierung in der Antwort auf die Anfrage der Grünen Auskunft geben. Es sind also lediglich die Meldungen der Polizei über vermutete Gesetzesverstöße, die die Grundlage für die Demonstrationsstatistik bilden.

Relativ unbestimmt erscheinen auch die Kriterien, nach denen die Zahl der verletzten Polizeibeamten, die seit 1984 gesondert ausgewiesen werden, erfaßt werden. Die Erfassung liegt bei den „Einheitsführern“ – Kriterien sind „erforderliche ärztliche Versorgung“ bzw. die „zeitweilige Dienstunfähigkeit“. Im Gegensatz zu sonst gegenüber BürgerInnen – z.B. bei der Anerkennung von Behinderungen oder Verletzungen – üblichen Verfahren amtsärztlicher Zweitgutachten verzichtet „Vater Staat“ bei der Verletzung seiner Vollstrecker unmittelbaren Zwangs auf Gegenkontrolle. Dementsprechend kann es nicht verwundern, daß bei fast kontinuierlich zurückgehenden Zahlen der „unfriedlichen“ Aktionen von 1986-88 die Zahl der als verletzt erfaßten Polizisten extrem schwankt (1986: 261 Beamte, die ärztlich versorgt werden mußten/818 Beamte, die zeitweilig dienstunfähig waren; 1987: 289/293; 1988: 133/147).

Zusammenfassend ist festzustellen, daß die Demonstrationsstatistik der Bundesregierung Grundanforderungen an sozialwissenschaftliche Tauglichkeit nicht genügt. Erfassungs- und Bewertungskriterien sind ungenügend abgegrenzt, z.T. nicht ersichtlich und variabel. Die Methoden der Erhebung fußen z.T. auf Vermutungen und Verdacht, nicht auf erhärteten Gesetzesverstößen.

Die Antwort der Bundesregierung auf die große Anfrage der Grünen kann somit als Beleg für die Beliebigkeit statistischer Eklektizismen herangezogen werden. Dem Motto „how to lie with statistics“ wird so wahre Ehre zuteil.

Der „Untersuchungsausschuß leitender Exekutivbeamter“ (UAELEx) des Arbeitskreises II der Innenminister-Konferenz erarbeitet z.Zt. ein neues Meldeverfahren. Man darf gespannt sein, ob es mehr als bisher „der Wahrheitsfindung dienen“ wird. Diese Frage läßt sich allerdings nur beantworten, wenn die Verfahrensformen und -kriterien eines neuen Meldeverfahrens auch öffentlich zugänglich gemacht werden.

* Mitarbeiter der Fraktion „Die Grünen“ im Bundestag
** Landessprecher der „Grünen“ in Baden Württemberg