Schleierfahndung im Hinterland – Das ganze Land als zweite ‘Grenzlinie’

von Albrecht Maurer

In geradezu faszinierender Weise schaffen es die Innenministerien und Polizeistrategen, selbst kleinste Schrittchen zu mehr Freizügigkeit in Europa wie den Abbau der Kontrollen an den Binnengrenzen mit einem Ballast an repressiven Maßnahmen wettzumachen Dabei reichen ihnen nicht einmal die im Schengener Durchführungsübereinkommen (SDÜ) verabredeten Ausgleichsmaßnahmen. Ausgeglichen wird auch im Innern des Landes, u.a. mit „verdachts- und anlaßunabhängigen Personenkontrollen“. Der ausgebreitete „Fahndungsschleier“ beschränkt sich nicht auf das grenznahe Gebiet, sondern reicht tief ins Land hinein.

In demokratischen Staaten – so will es die liberale Tradition – sind die Grenzen der einzige Ort, an dem Personen ohne Anlaß und ohne jeglichen Verdacht jederzeit kontrolliert werden können. Im Inland gilt Freizügigkeit. Hier darf nur überprüft werden, wer durch sein Verhalten dazu Anlaß gibt – wegen einer koinkreten Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder wegen eines Straftatverdachts. Seit den 70er Jahren schon hat man sich sowohl in Deutschland, als auch in anderen europäischen Staaten von dieser Tradition entfernt. An „gefährdeten Orten“ kann schon lange „verdachtsunabhängig“ kontrolliert werden.

Seitdem über die Öffnung der Binnengrenzen im Schengener Raum diskutiert wird, scheint es mit dieser Tradition ganz vorbei. Die Grenze verlandet ins Staatsinnere und wird flexibel. Die grenzpolizeiliche Strategie – so erklärt Markus Hellenthal, Referatsleiter Bundesgrenzschutz (BGS) im Bundesinnenministerium (BMI) – „verläßt die starre Grenzlinie und richtet ihr grenzpolizeiliches Augenmerk auf den Grenzraum, wie er in § 2 Abs. 2 Nr. 3 und § 23 Abs. 1 Nr.1 des Bundesgrenzschutzgesetzes genannt ist:“[1] Bis 30 Kilometer hinter der Grenze darf der BGS Personen anhalten und kontrollieren. So verfährt er nicht nur an den Außengrenzen, sondern auch an den Binnengrenzen, wo es nach Inkraftsetzen des SDÜ keine Kontrollen mehr geben soll. „Im Rahmen des nationalen und internationalen Sicherheitsverbundes“, so Hellenthal, gehe das grenzschützerische Augenmerk „notwendigerweise auch darüber hinaus.“ Damit sind einerseits die Polizeien der Nachbarstaaten gemeint: Sowohl mit den Schengener Vertragsstaaten als auch mit den Nachbarn im Osten wurden und werden Abkommen über grenzüberschreitende Kooperation, verbesserte Kommunikation, abgestimmte Einsatzpläne, etc. vereinbart. Andererseits bezieht sich Hellenthal auf die Tiefe des inländischen Raumes, in dem die Polizeien der Länder zuständig sind.
„Die Öffnung der Binnengrenzen zu unseren europäischen Nachbarn und die Einbindung Deutschlands in den wachsenden Schengener Verbund“, so argumentiert denn auch Bundesinnenminister (BMI) Kanther, „stellen auch an die Sicherheitspolitik der Länder neue Anforderungen. Durch den Wegfall der Personenkontrollen an den Schengener Binnengrenzen kommt der verstärkten polizeilichen Überwachung der grenznahen Region und der Verkehrsknotenpunkte maßgebliche Bedeutung zu. Nur durch einen gemeinsamen `Sicherheitsschleier‘ von Bundesgrenzschutz und Landespolizeien könne verhindert werden, daß Kriminelle ungestört von einem Staat in den anderen reisen können.“[2]

Die neue Verantwortung der Länder

Bayern war im Dezember 1994 das erste Bundesland, das diesen neuen Anforderungen nachkam und in seinem Polizeiaufgabengesetz Befugnisse für „verdachts- und ereignisunabhängige Personenkontrollen“ im Gebiet bis 30 Kilometer hinter der Grenze sowie sowie auf Durchgangsstraßen und in öffentlichen Einrichtungen des internationalen Verkehrs verankerte. Gerechtfertigt wurde das mit dem EU-Beitritt Österreichs und der bald darauf zu erwartenden Anwendung des SDÜ. Baden-Württemberg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Sachsen und Thüringen folgten mit gleichen Regelungen und Begründungen; in anderen Bundesländern gibt es entsprechende Initiativen.[3]
Geradezu absurd mutet es dabei an, daß selbst Thüringen, das weder eine Schengen-Binnen- noch eine Schengen-Außengrenze hat, den Wegfall der Grenzkontrollen kompensieren will. In den Worten der Gesetzesbegründung: Thüringen grenze „zwar nicht unmittelbar an einen Schengen-Mitgliedstaat“, „das Zusammenwachsen der europäischen Staaten, die mit der Bewegungsfreiheit einhergehende Migration und die damit im Zusammenhang stehenden Kriminalitätsformen (zeigen jedoch), daß auch Thüringen aufgrund seiner schnellen Verkehrsanbindungen im europäischen Sicherheitsraum nicht außerhalb des kriminalgeographischen Spektrums liegt.“ Man wolle „sowohl auf die grenzüberschreitende als auch auf die sonstige mittlere bis schwere Kriminalität den Fahndungsdruck“ erhöhen.[4]

Zweite Grenzlinie

Die neuen Kontrollformen, so hatte u.a. der Leiter der baden-württembergischen Polizeifachhochschule Thomas Feltes argumentiert, widersprächen „zumindest dem Geist des Schengener Abkommens, wonach der Grenzübertritt zwischen den Vertragsstaaten gerade ohne (auch die Angst vor) eine(r) regelmäßigen Kontrolle möglich sein soll- und zwar nicht nur direkt an der Staatsgrenze, sondern auch darüber hinaus.“[5] Um den Verdacht zurückzuweisen, eine zweite Grenzlinie aufzubauen oder „schengenwidrige Ersatzgrenzkontrollen“ einzuführen, betreiben BMI und Länder viel juristische Akrobatik:
In bezug auf die Aktivitäten des BGS im 30 Kilometer-Grenzraum differenziert BMI-Staatssekretär Schelter zwischen der Kontrolle des grenzüberschreitenden Verkehrs und der „polizeilichen Überwachung der Grenze“. Erstere sei an den Binnengrenzen durch Art. 2 SDÜ verboten, letztere sei „hingegen eine allgemeine und zunächst nicht konkretisierte oder personenbezogene Aufgabe der Gefahrenvorsorge. Diese rein beobachtenden Maßnahmen liegen unterhalb einer Eingriffsschwelle und beziehen sich nicht auf eine konkret durchzuführende Personenkontrolle. Sie sind daher vom SDÜ nicht angesprochen bzw. nicht geregelt.“[6]
Während die mobilen Streifen des BGS im Grenzgebiet zu einer rein beobachtenden Tätigkeit herunterdefiniert werden, bedienen sich die Landesgesetzgeber einer Lücke in Art. 2 SDÜ selbst. Nach Abs. 1 sind zwar an den Binnengrenzen die Grenzkontrollen abgeschafft. Die „Ausübung der Polizeibefugnisse durch die nach nationalem Recht zuständigen Behörden“ bleiben dagegen nach Abs. 3, „von der Abschaffung der Binnengrenzkontrollen unberührt.“ Dies bedeute, so deduziert ein Ministerialrat aus dem baden-württembergischen Innenministerium, „daß die polizeirechtlichen Befugnisse nicht auf die Grenze bzw. das Überschreiten der Grenze beschränkt gelten dürfen.“ Zwar sei es in den in Frage kommenden Fällen regelmäßig vorher zu einem Grenzübertritt gekommen, „die Kontrolle erfolgt aber nicht aus diesem Anlaß, sondern um die Fahndungsmöglichkeiten zur Bekämpfung von Straftaten zu verbessern.“[7]
In der Tat werden die neuen Kontrollbefugnisse in den Landespolizeigesetzen nicht dem BGS übertragen, sondern der jeweiligen Landespolizei. BGS und Länderpolizeien sollen aber im Rahmen einer „Sicherheitskooperation“ zusammenarbeiten. Zwischen Baden-Württemberg und dem BMI als Dienstherrn des BGS wurde dazu am 18. Juli 1997 ein Mustervertrag geschlossen, dem weitere mit den anderen Ländern an der Westgrenze folgen sollen.

30 Kilometer und kein Ende

Richtig an der Argumentation der Länder, die die neuen Kontrollbefugnisse eingeführt haben, ist, daß die Kontrollen keineswegs auf den Grenzraum beschränkt bleiben. Neben der 30 Kilometer-Zone erlaubt das bayerische PAG in § 13 Abs. 1 Nr. 5 landesweit verdachts- und ereignisunabhängigen Personenkontrollen – und zwar auf „Durchgangsstraßen (Bundesautobahnen, Europastraßen und anderen Straßen von erheblicher Bedeutung für den grenzüberschreitenden Verkehr) und in öffentlichen Einrichtungen des internationalen Verkehrs“. „Wir können es uns nicht leisten“, so erklärte Bayerns Innenstaatssekretär Regensburger bei der Debatte im Dezember 1994, „lediglich an den Schlagbäumen der Schengen- und EU-Außengrenzen auf Kriminelle zu warten. Rechtsbrecher jeglicher Couleur nutzen unsere Verkehrsinfrastruktur für ihre kriminellen Machenschaften. Wir lassen sie jetzt aber nicht mehr unerkannt und unbehelligt einfach im Verkehr mitschwimmen.“[8]
§ 26 Abs. 1 Nr. 6 PolG Baden-Württemberg kommt ganz ohne die Nennung des Grenzraums aus und beschränkt sich auf Verkehrseinrichtungen – d.h. Flughäfen, Bahnhöfe aller Art, aber auch Tank- und Raststätten sowie Häfen und Anlegestellen – sowie die Durchgangsstraßen. Nachdem Bundesautobahnen und Europastraßen generell unter dem Verdacht stehen, für die Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität Bedeutung zu haben, heißt es abschließend: „Im übrigen ist auf die wandelbaren, objektiven Gegebenheiten, wie sie nach dem jeweiligen polizeilichen Lagebild zu erkennen sind, abzustellen.“[9]
Dem hatte in einer Anhörung der baden-württembergischen Grünen schon der Direktor des Polizeipräsidiums Unterfranken aus dem benachbarten Bayern das Wort geredet: Da „einzelne Täter auf das sonstige Straßennetz ausweichen, (…) wäre es wünschenswert, daß diese Kontrollbefugnisse auch auf solche Straßen ausgedehnt werden könnten, für die eine erhebliche Bedeutung für den grenzüberschreitenden Verkehr nicht generell gegeben ist.“ Zum sächsischen Entwurf stellt das dortige Innenministerium konsequenterweise fest, daß auch „Schleichwege“ zwischen Fernstraßen, d.h. einfach Nebenstrecken, erfaßt sind. Kein Aprilscherz ist, daß Bayern seine Schleierfahndung ab April dieses Jahres auch auf die Großstadt München ausdehnen wird. „Von der Grenze lernen“, heiße das Motto.[10]
Die Ausrichtung der neuen Kontrollkonzeption läßt sich tatsächlich nur mit dem vergleichen, was bisher an der Grenze möglich war. Die Kontrollstellenparagraphen, die mit dem Musterentwurf eines einheitlichen Polizeigesetzes seit 1977 in die Länderpolizeigesetze eingeflossen sind, erlaubten zwar auch schon Jedermanns-Kontrollen. Die Auswahl der „gefährdeten“ bzw. „gefährlichen“ Orte, an denen Kontrollstellen eingerichtet werden dürfen, sei begrenzt gewesen auf Punkte mit spezieller Kriminalitätsbelastung, so argumentieren die Vertreter der Schleierfahndung. Ansonsten habe man sich weiterhin dem Instrument der Verkehrskontrolle bedienen müssen, dem jedeR AutofahrerIn jederzeit unterworfen werden konnte. Allerdings sei hier nur die Kontrolle von Führerscheinen und der Verkehrstauglichkeit des Wagens, nicht aber die Durchsuchung des Wagens und die Überprüfung von (Bei-) FahrerInnen anhand der Fahndungsdateien möglich gewesen.[11]
Dennoch bildete die Verkehrsfahndung in Bayern den Ausgangspunkt für das neue Kontrollkonzept. „Um Autobahnen nicht zu einer Art rechtsfreiem Raum für Kriminelle und illegale Ausländer werden zu lassen“, sind seit seit Anfang der 90er Jahre in allen bayerischen Polizeipräsidien „bei den für die Autobahnen zuständigen Verkehrspolizeistellen Fahndungs- und Kontrolltrupps in einer Stärke zwischen fünf bis acht Beamten aufgestellt“ worden. Diese hatten allerdings keine verkehrspolizeilichen Aufgaben, sondern sollten „allgemeine Personen- und Sachfahndung“ betreiben, das „Schleuserunwesen“ bekämpfen, „ausländer- und asylrechtliche Bestimmungen“ überwachen und auch die „Fachdienststellen bei der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität und der Rauschgiftkriminalität“ unterstützen. Aktiv wurden die Fahndungstrupps nicht nur in Uniform, sondern auch in Zivil und mit „neutralen Dienstfahrzeugen“.[12] Zur technischen Ausstattung gehörten Notebooks, die die Abfrage polizeilicher Dateien ermöglichen, sowie Doku-Boxen mit UV-Lampen und „Fadenzählern“, mit denen Dokumente auf ihre Echtheit überprüft werden können.
Diese Spezialtrupps übernahmen die Weiterbildung anderer Beamter. Die Auflösung der Bayerischen Grenzpolizei soll weitere Verstäkung der Schleierfahnder bringen. „Um das große Fach- und Erfahrungswissen der bislang an der Grenzlinie zur Personenkontrolle eingesetzten Grenzpolizeibeamten weiterhin zielgerichtet nutzen zu können“, sollen in diversen regionalen Organisationsgliederungen der Landespolizei („Schutzbereichen“) Fahndungskommandos von bis zu 100 BeamtInnen gebildet werden. Damit wird nicht nur das Kontrollkonzept der Grenzfahndung, sondern auch gleich das entsprechende Personal ins Landesinnere übertragen.

High-Tech und Instinkt

Auch in Baden-Württemberg fanden schon vor der Einführung des neuen Rechts flächendeckende regionale Großfahndungen zu unterschiedlichen Fahndungsschwerpunkten statt. Hinzu kam mindestens eine Fahndung nach „illegalen“ AusländerInnen pro Monat, 1994 insgesamt 824, bei denen über 8.900 Beamte eingesetzt waren. „Obwohl es sich dabei um eingehend vorbereitete polizeiliche Kontrollen mit gezielter Aufgabenstellung gehandelt hat, hat die Polizei `lediglich‘ 187 illegal aufhältliche oder beschäftigte Ausländer festgestellt.“[13] Der Landesdatenschutzbeauftragte fragt daher zu Recht, wieso bei „verdachtsunabhängigen“ Kontrollen „ins Blaue“ der Erfolg größer sein soll, und verweist auf das bayerische Beispiel: Im ersten Jahr nach Inkrafttreten des neuen PAG wurden 23.000 Personen überprüft und dabei 625 Straftaten entdeckt. Technik und Erfahrungswissen der Kontrolleure konnten auch bei bösestem Willen gegen 97% der Kontrollierten nichts finden.

Albrecht Maurer wohnt in Göttingen und publiziert zu Themen aus dem Bereich der ‘Inneren Sicherheit’. Bis 1994 war er Mitarbeiter der AG Innenpolitik der PDS/ Linke Liste im Bundestag.
[1] Kriminalistik 2/97, S. 123
[2] Presseerklärung des BMI vom 17.7.1996
[3] Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30.1.1998
[4] Ltg. Thüringen, Drs. 2/2030, S. 1f.
[5] in: Bündnis 90/ Die Grünen Baden-Württemberg: Anlaßunabhängige Polizeikontrollen im Spannungsfeld zwischen Polizeipraxis und Bürgerrechten, Dokumentation einer Anhörung am 4.7.1996
[6] Brief an Manfred Such (MdB), 24.5.1995
[7] Die Polizei 3/97, S. 73
[8] Zit. nach: Die Polizei 8/97, S. 218
[9] Ltg. Baden-Württemberg, Drs. 12/52, S. 6
[10] Süddeutsche Zeitung vom 18.3.1998
[11] Siehe u.a. für Bayern: Die Polizei, 8/97, S. 217 und für Baden-Württemberg: Die Kriminalpolizei 4/96, S. 177
[12] Die Polizei 8/97, S. 219
[13] in: Bündnis 90/ Die Grünen, Baden-Württemberg, a.a.O.