von Norbert Pütter
Der Gebrauch von Schußwaffen durch die Polizei ist eine der extremsten Formen legaler staatlicher Gewaltanwendung. Wegen seiner Gefährlichkeit ist der Schußwaffengebrauch besonderen rechtlichen Regulierungen unterworfen. Über deren Wirkungen und die Realität polizeilichen Schießens geben die amtlichen Statistiken jedoch nur unzureichend Auskunft.
Die Polizeigesetze bzw. die Gesetze über die Anwendung unmittelbaren Zwangs erlauben den Einsatz von Schußwaffen nur unter bestimmten Voraussetzungen. Nach den Formulierungen des „Musterentwurfs für ein einheitliches Polizeigesetz des Bundes und der Länder“, an denen sich die einzelnen (Landes-)Gesetze orientieren, ist der polizeiliche Gebrauch von Schußwaffen grundsätzlich nur erlaubt, wenn andere Formen des unmittelbaren Zwangs nicht zum Erfolg geführt haben oder keinen Erfolg versprechen. Auf Personen zu schießen, ist nur dann zulässig,[1]
- wenn der Zweck des Einsatzes nicht durch Schüsse auf Sachen erreicht werden kann,
- wenn eine gegenwärtige Gefahr für Leib und Leben abgewehrt werden soll (nur in diesem Fall ist auch das Schießen auf Kinder und auf Personen in einer Menschenmenge erlaubt),
- wenn ein unmittelbar bevorstehendes Verbrechen oder ein Vergehen unter Anwendung oder Mitführung von Schußwaffen oder Explosivmitteln (sog. „gleichgestellte Vergehen“) verhindert werden soll,
- wenn sich eine eines Verbrechens oder „gleichgestellten Vergehens“ verdächtige Person der Festnahme oder Identitätsfeststellung zu entziehen versucht,
- wenn ein Verdächtiger festgenommen oder dessen Flucht vereitelt werden soll,
- wenn die gewaltsame Befreiung einer Person aus amtlichem Gewahrsam verhindert werden soll.
- Grundsätzlich darf die Polizei auf Personen nur schießen, um sie angriffs- oder fluchtunfähig zu machen. Der „finale Rettungsschuß“ („ein mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit tödlich“ wirkender Schuß) ist nur unter engen Bedingungen (gegenwärtige Lebensgefahr …) zulässig. Der „finale Rettungsschuß“ ist nicht in allen Polizeigesetzen legalisiert.
Neben diesen Spezialermächtigungen wird polizeiliche Gewaltanwendung auch auf die Notwehr- und Nothilfeparagraphen des Strafgesetzbuches (§§ 32-34 StGB) gestützt. Inwiefern diese „Jedermann-Rechte“ hoheitliches Handeln begründen können, ist juristisch umstritten. Die Mehrheit ist der Auffassung, daß diese Bestimmungen zwar keine Ermächtigungsnorm darstellen, sie aber vollzogenes staatliches Handeln rechtfertigen können.[2]
Schußwaffengebrauch im Überblick
Seit 1976 erstellt die Polizei-Führungsakademie im Auftrag der Innenministerkonferenz jährliche Statistiken über den Schußwaffengebrauch, indem die Meldungen der Bundesländer und des Bundes zusammengefaßt werden. Für die Erfassungsmodalitäten ist bedeutsam, daß seit 1983 nur noch solche Schüsse erfaßt werden, die Polizistinnen oder Polizisten im Rahmen ihrer dienstlichen Aufgaben absichtlich abgeben. D.h. in den offiziellen Zahlen wird weder der „private“ Gebrauch von Dienstwaffen registriert noch der, der sich während des Dienstes unbeabsichtigt ereignete. Der Ausschluß unbeabsichtigter Schußabgaben schränkt den Aussagewert der Statistik ein. Er eröffnet nicht nur in quantitativer Hinsicht ein Dunkelfeld, er eröffnet zugleich auch einen Spielraum, in dem alle jene Fälle, die rechtlich nicht zu rechtfertigen sind, als Unfälle deklariert werden können.
Die Zahlen der IMK-Statistik für die letzten 10 Jahre sind in Tabelle 1 zusammengestellt. Erfaßt werden die Schüsse insgesamt (2. Spalte), die Schüsse zum Töten gefährlicher, kranker oder verletzter Tiere oder auf Sachen[3] (3. Spalte) sowie diejenigen Polizeischüsse, bei denen die rechtlichen Voraussetzungen für einen gezielten Schuß auf Personen vorlagen (4. bis 6. Spalte). Diese Schüsse wurden entweder als Warnschüsse abgegeben (Spalte 4), oder es wurde auf Personen (Spalte 5) oder Sachen (Spalte 6) geschossen. Während diese letzte Spalte z.B. solche Fälle erfaßt, bei denen auf das Fahrzeug eines Flüchtenden geschossen wurde, werden etwa Schüsse zum Öffnen einer Wohnungstür in Spalte 3 gezählt.
Tab. 1: Polizeilicher Schußwaffengebrauch 1988-1997
Jahr | Schüsse insgesamt |
Schüsse auf Tiere oder Sachen |
Schußwaffengebrauch gegen Personen
|
||
Warnschüsse | Gegen Personen | Gegen Sachen | |||
1988 | 2056 | 1841 | 114 | 56 | 45 |
1989 | 1918 | 1709 | 102 | 59 | 48 |
1990 | 2006 | 1754 | 162 | 52 | 38 |
1991 | 2359 | 1873 | 271 | 114 | 101 |
1992 | 2261 | 1670 | 315 | 131 | 145 |
1993 | 2369 | 1854 | 307 | 101 | 107 |
1994 | 2363 | 1916 | 268 | 95 | 84 |
1995 | 2368 | 1964 | 221 | 119 | 64 |
1996 | 2595 | 2304 | 163 | 79 | 49 |
1997 | 2657 | 2379 | 172 | 60 | 47 |
Quelle: IMK-Statistik
Nur hinsichtlich der Zahl der insgesamt abgegebenen Schüsse und der Schüsse auf „Tiere und Sachen“ läßt sich eine eindeutige Entwicklung feststellen: D.h. die nahezu kontinuierliche Steigerung der Gesamtzahlen ist darauf zurückzuführen, daß mehr auf „Tiere und Sachen“ geschossen wurde. Der Schußwaffengebrauch gegen Personen zeigt keine einheitliche Tendenz. Auffallend ist die Steigerung Anfang der 90er Jahre in allen drei Rubriken. Auch für die 70er Jahre weisen die IMK-Zahlen entsprechende Varianzen auf: 1977 schoß die deutsche Polizei 236 Mal gezielt auf Personen oder Sachen, 1983 142 Mal.[4] Wovon diese Schwankungen abhängen, ist unbekannt.
Neben der Anzahl der Polizeischüsse interessieren zwei Fragen: Wann, d.h. in welchen Situationen schießen PolizistInnen? Und: Welche Folgen hat der Schußwaffengebrauch? Die IMK-Statistik gibt auf beide Fragen nur unzureichende Antworten. Die Situationen, in denen die Polizei in Deutschland schießt, werden ansatzweise in der rechtlichen Bewertung der Schüsse deutlich. Die entsprechenden Angaben sind in Tabelle 2 zusammengefaßt. Ohne die Schüsse auf Tiere und Sachen sowie ohne die Warnschüsse schoß die Polizei in den letzten 10 Jahren 1.593 Mal gezielt auf Personen oder Sachen. An der rechtlichen Zuordnung der Schüsse ist auffallend, daß in mehr als der Hälfte der Fälle die „Jedermann-Rechte“ des Strafgesetzbuches und nicht die engeren polizeirechtlichen Ermächtigungen zugrunde gelegt wurden.
Über den genaueren situativen Kontext, in dem es zu Polizeischüssen kam, erlauben diese Zahlen keine Aussagen: Die Umstände von Fluchtversuchen können so verschieden sein wie die Delikte, wegen derer eine Person flüchtet; auch Notwehr- oder Nothilfesituationen können sich erheblich unterscheiden. Da nur statistische Angaben aufbereitet und veröffentlicht werden, bleiben die Situationen polizeilichen Schußwaffengebrauchs insgesamt unbekannt.
Die Statistiken weisen auch die Folgen der Polizeischüsse aus. In den Jahren von 1988 bis 1997 wurden nach der IMK-Zählung 109 Personen durch Polizistinnen oder Polizisten getötet, 597 Menschen wurden verletzt. Während neun der Verletzten Unbeteiligte waren, wurden durch Polizeikugeln in diesen zehn Jahren keine Unbeteiligten getötet. Als „Beteiligte“ gelten in der polizeilichen Zählung nicht allein jene Personen, denen der Polizeieinsatz galt. So starben in den Jahren 1990,[5] 1993[6] und 1994[7] drei (verdeckt) eingesetzte Polizisten durch Schüsse ihrer KollegInnen. Obwohl keine Daten dazu vorliegen, ist zu vermuten, daß auch die „beteiligten Verletzten“ nicht identisch mit den Zielpersonen sind.
Tab. 2: Polizeilicher Schußwaffengebrauch: Rechtliche Zuordnung
Jahr | Notwehr/ Nothilfe | Verhinderung von Verbrechen und „gleichgestellter Vergehen“ | Fluchtvereitelung bei Verdacht eines Verbrechens od. „gleichgestellten Vergehens“ | Fluchtvereitelung von Gefangenen | Verhinderung gewaltsamer Gefangenen- befreiung |
Gegen Person in einer Menschenmenge, aus der … | ||||
S | P | S | P | S | P | S | P | P | P | |
1988 | 9 | 34 | 7 | 7 | 29 | 12 | 3 | |||
1989 | 17 | 47 | 5 | 3 | 21 | 7 | 5 | 2 | ||
1990 | 11 | 41 | 2 | 5 | 24 | 5 | 1 | 1 | ||
1991 | 25 | 71 | 18 | 18 | 57 | 23 | 1 | 2 | ||
1992 | 53 | 72 | 19 | 7 | 72 | 50 | 1 | 2 | ||
1993 | 45 | 61 | 5 | 11 | 56 | 26 | 1 | 2 | 1 | |
1994 | 22 | 60 | 7 | 11 | 55 | 24 | ||||
1995 | 38 | 66 | 3 | 21 | 23 | 29 | 3 | |||
1996 | 29 | 48 | 5 | 7 | 24 | 22 | 1 | 1 | ||
1997 | 29 | 37 | 2 | 12 | 15 | 10 | 1 | |||
Ges. | 269 | 537 | 73 | 102 | 376 | 208 | 9 | 15 | ||
Ges. | 806 | 175 | 584 | 24 | 2 | 2 |
S = Sachen P = Personen
Quelle: IMK-Statistik
Polizeiliche Todesschüsse
Seit 1976 dokumentiert CILIP die polizeilichen Todesschüsse. Drei Merkmale unterscheiden unsere Zählung von der der IMK:
- Wir erhalten unsere Meldungen nicht von den Innenverwaltungen, sondern werten die Tagespresse aus; das führt dazu, daß manche Fälle von uns nicht registriert werden (können).
- Wir zählen auch die sogenannten unbeabsichtigten Schüsse, die in der offiziellen Statistik fehlen. „Privaten“ Gebrauch der Dienstwaffe zählen wir in der Regel nicht. In den letzten 10 Jahren gab es nur einen Fall, der in diese Kategorie fällt, und den wir dennoch aufnahmen: Ein Polizist arbeitete nebenberuflich in einer Tankstelle, diese wurde überfallen, und der Polizist erschoß den Täter.[8]
- Wir veröffentlichen eine kurze Schilderung der situativen Umstände des Todesschusses.
In Tabelle 3 sind die uns bekannten polizeilichen Todesschüsse zusammengefaßt und nach Bundesländern aufgeschlüsselt. Die Angabe des Bundeslandes bezieht sich auf den Ort, an dem der tödliche Schuß fiel, und nicht auf die Polizei, der der Schütze angehörte. Zusätzlich zu den in der Tabelle verzeichneten gab es 1990 drei Tote durch Polizeischüsse in den neuen Bundesländern.
Ähnlich wie der Schußwaffengebrauch allgemein zeigt auch die Zahl der jährlichen Todesschüsse erhebliche Schwankungen; dabei stimmen die „Konjunkturen“ nicht überein: Von den 215 Schüssen auf Personen oder Sachen waren 1991 9 tödlich; durch 107 Polizeischüsse 1997 starben 10 Menschen (nach IMK-Zählung).
Vergleicht man die beiden vergangenen Jahrzehnte, dann zeigen sich kaum Änderungen. Die Gesamtzahl ist nahezu gleich geblieben; in Bayern und Nordrhein-Westfalen fällt fast die Hälfte aller Todesschüsse; Hessen und Baden-Württemberg folgen mit einigem Abstand. Auffällig ist allenfalls, daß – wie auch beim polizeilichen Schußwaffengebrauch allgemein – das Wachstum der Bundesrepublik um die neuen Länder quantitativ nicht ins Gewicht fällt.
In Tabelle 4 ist die rechtliche Zuordnung der Todesschüsse durch die IMK-Statistik wiedergegeben. Zum Vergleich sind in der zweiten Spalte die Zahlen nach CILIP-Zählung genannt. Daraus ergibt sich, daß fast 10% der tödlichen Polizeischüsse in der offiziellen Statistik nicht berücksichtigt werden. Die polizeilichen Spezialrechte scheinen auch für den polizeilichen Todesschuß nur eine nachgeordnete Rolle zu spielen: In den letzten 10 Jahren fiel kein tödlicher Schuß bei einem Fluchtversuch, einer Gefangenenbefreiung oder gegen eine Menschenmenge. 25 Mal erschoß die Polizei Personen, um eine Straftat oder die Flucht eines Verdächtigen zu verhindern. In den weitaus häufigsten Fällen wurde jedoch zur rechtlichen Rechtfertigung der tödlichen Schüsse auf die „Jedermann-Rechte“ der Notwehr oder Nothilfe zurückgegriffen.
Tab. 3: Polizeiliche Todesschüsse in der BRD 1976-1997
Jahr | Ges. | Dok. in CILIP |
BW | BY | BE | BB | HB | HH | HE | MV | NI | NW | RP | SL | SN | ST | SH | TH |
1976 | 8 | 6 | 1 | 1 | 3 | 1 | ||||||||||||
1977 | 17 | 15 | 1 | 2 | 2 | 3 | 2 | 4 | 1 | |||||||||
1978 | 8 | 8 | 1 | 1 | 3 | 1 | 2 | |||||||||||
1979 | 11 | 11 | 5 | 2 | 1 | 1 | 2 | |||||||||||
1980 | 16 | 13 | 2 | 3 | 1 | 1 | 1 | 3 | 1 | 1 | ||||||||
1981 | 17 | 13 | 1 | 5 | 2 | 3 | 1 | 1 | ||||||||||
1982 | 11 | 10 | 1 | 1 | 5 | 3 | ||||||||||||
1983 | 24 | 21 | 2 | 4 | 3 | 3 | 9 | |||||||||||
1984 | 6 | 6 | 1 | 2 | 1 | 1 | 1 | |||||||||||
1985 | 10 | 9 | 2 | 1 | 1 | 1 | 3 | 1 | ||||||||||
1986 | 12 | 12 | 1 | 7 | 1 | 2 | 1 | |||||||||||
1987 | 7 | 3 | 1 | 1 | 1 | |||||||||||||
1988 | 8 | 8 | 1 | 2 | 1 | 2 | 2 | |||||||||||
1989 | 10 | 10 | 2 | 3 | 2 | 2 | 1 | |||||||||||
1990 | 10 | 10 | 1 | 4 | 1 | 1 | 1 | 1 | 1 | |||||||||
1991 | 9 | 9 | 1 | 1 | 2 | 1 | 1 | 2 | 1 | |||||||||
1992 | 12 | 10 | 1 | 1 | 2 | 1 | 4 | 1 | ||||||||||
1993 | 16 | 15 | 1 | 4 | 1 | 3 | 1 | 1 | 1 | 2 | 1 | |||||||
1994 | 10 | 10 | 2 | 1 | 2 | 3 | 1 | 1 | ||||||||||
1995 | 21 | 20 | 1 | 3 | 2 | 1 | 1 | 2 | 5 | 2 | ||||||||
1996 | 10 | 10 | 1 | 5 | 4 | |||||||||||||
1997 | 12 | 12 | 3 | 4 | 1 | 1 | 1 | 2 | ||||||||||
1978 – 1987 |
122 | 106 | 28 | 9 | 1 | 6 | 13 | 7 | 27 | 2 | 3 | 2 | ||||||
1988 – 1997 |
118 | 114 | 12 | 28 | 5 | 4 | 2 | 6 | 15 | 3 | 5 | 22 | 4 | 1 | 4 | 1 | 2 | |
1976 – 1997 |
265 | 241 | 22 | 58 | 16 | 4 | 3 | 13 | 34 | 3 | 14 | 54 | 7 | 3 | 1 | 4 | 3 | 2 |
Quelle: CILIP-Jahresstatistiken
Tab. 4: Polizeiliche Todesschüsse: Rechtliche Zuordnung
Jahr | Gesamtzahl lt. CILIP- Zählung |
IMK-Statistik | |||
Gesamtzahl | davon Notwehr/ Nothilfe |
davon Verhinderung von Verbrechen oder gleichgestellten Vergehen“ |
davon Fluchtvereitelung bei Verdacht eines Verbrechens oder eines „gleichgestellten Vergehens“ |
||
1988 | 8 | 7 | 4 | 1 | 2 |
1989 | 10 | 9 | 7 | 2 | |
1990 | 10 | 10 | 6 | 2 | 2 |
1991 | 9 | 9 | 7 | 2 | |
1992 | 12 | 12 | 9 | 3 | |
1993 | 16 | 16 | 11 | 5 | |
1994 | 10 | 8 | 7 | 1 | |
1995 | 21 | 19 | 16 | 3 | |
1996 | 10 | 9 | 7 | 2 | |
1997 | 12 | 10 | 10 | ||
Ges. | 118 | 109 | 84 | 8 | 17 |
Quelle: IMK-Statistiken (außer 2. Spalte)
Aufgrund unserer Zeitungsauswertung lassen sich die Situationen, in denen es zum tödlichen Schußwaffeneinsatz kommt, genauer bestimmen. Wir haben die Todesschüsse des letzten Jahrzehnts nach unterschiedlichen Anlässen des Polizeieinsatzes in Tabelle 5 aufgelistet.[9] Die Kategorien bedeuten im einzelnen:
- „Familienstreitigkeiten; Geisteskranke; Randalierer; Ruhestörung“: Die Polizei wird zu einem eher alltäglichen Ereignis gerufen. Beim Eintreffen der Polizei eskaliert die Situation; es fällt der tödliche Schuß.
- „Geiselnahme“: Eine Geiselnahme wird durch Schußwaffeneinsatz beendet.
- „Routine-Verkehrskontrolle; Kontrollstelle“: Bei einer nicht gezielten (zufälligen) Verkehrskontrolle kommt es zum Todesschuß.
- „Initiativ-Festnahme; Initiativ-Kontrolle“: Durch Zufall werden Polizisten auf einen Verdächtigen oder auf jemanden, der gerade eine Straftat begeht, aufmerksam. Zum tödlichen Schuß kommt es, als sie einschreiten.
- „Ad-hoc-Straftatenvereitelung“: Es handelt sich um Fälle, in denen die Polizei gerufen wird, während eine Straftat verübt wird. Zu dieser Sammelkategorie gehören sehr unterschiedliche Situationen.
- „Fluchtversuch“: Der Todesschuß fällt, um die Flucht eines Straftäters zu verhindern.
- „Vorbereitete Festnahme“: Im Rahmen einer geplanten Polizeiaktion soll ein Verdächtiger festgenommen werden.
Die Tabelle läßt nur vorsichtige Schlußfolgerungen über die Situationen zu, in denen es zu tödlichen Polizeischüssen kommt. Insgesamt kann man feststellen, daß die Todesschüsse keineswegs auf Fälle schwerer Kriminalität beschränkt sind; jeweils 10% ereignen sich im Rahmen von alltäglichen Einsätzen oder bei zufälligen Kontrollen. Während die meisten Schüsse in Situationen fallen, in denen sich die Polizei nicht auf entsprechende Situationen vorbereiten konnte, wurden immerhin 19 Menschen bei vorbereiteten Polizeiaktionen erschossen: 14 im Rahmen von Festnahmeversuchen, 5 durch „finale Rettungsschüsse“. (Nach unserer Zählung waren von den für die Jahre 1976 bis 1997 von CILIP dokumentierten 241 Fälle lediglich 11 gezielte Todesschüsse.)
Auch andere Indikatoren deuten darauf hin, daß polizeiliche Todesschüsse in eher polizeialltäglichen Situationen entstehen: In 17 der 114 dokumentierten Fälle wurde der tödliche Schuß von einem Mitglied eines Sondereinsatzkommandos abgegeben (in den zehn Jahren davor war das Verhältnis 19 zu 106). In 41 Fällen war das Opfer nicht bewaffnet (weder mit Schuß-, Explosiv- oder Stichwaffen) – die tatsächliche Gefährlichkeit der Situation war also keineswegs immer der Auslöser für den tödlichen Schuß. In den Auseinandersetzungen, die zum tödlichen Polizeischuß führten, wurden im vergangenen Jahrzehnt 12 Polizisten getötet; davon drei durch Schüsse von KollegInnen. Weitere 24 PolizistInnen wurden bei den Einsätzen verletzt. Damit kam es in maximal 36 bzw. 33 der 114 Fälle zu Personenschäden auf Polizeiseite. Auch dies kann als Indiz dafür gewertet werden, daß die Gefährlichkeit der Situation keine ausreichende Erklärung dafür ist, warum es zu polizeilichen Todesschüssen kommt.
Tab. 5: Polizeiliche Todesschüsse 1988-97 nach Einsatzsituationen
Jahr | Familien- streitigkeit; Geistes- kranke; Randalierer |
Geiselnahme (finaler Rettungs- schuß in Klammern) |
Routine- Verkehrs- kontrolle; Kontrollstelle |
Initiativ- Festnahme; Initiativ- Kontrolle |
Ad-hoc- Straftaten- vereitelung |
Flucht- versuch |
Vorbereitete Festnahme | Unklare Angaben | Gesamt |
1988 | 1 | 7 | 1 | 9 | |||||
1989 | 1 | 1 (1) | 1 | 3 | 1 | 2 | 10 | ||
1990 | (1) | 4 | 2 | 1 | 2 | 10 | |||
1991 | 2 | (2) | 2 | 1 | 2 | 10 | |||
1992 | 2 | 7 | 1 | 10 | |||||
1993 | 2 | 1 | 6 | 3 | 4 | 15 | |||
1994 | 2 | 5 | 2 | 10 | |||||
1995 | 3 | 1 | 1 | 12 | 2 | 1 | 20 | ||
1996 | 2 | 2 (1) | 2 | 3 | 1 | 10 | |||
1997 | 4 | 1 | 6 | 1 | 12 | ||||
Ges. | 16 | 7 (5) | 7 | 7 | 51 | 10 | 14 | 1 | 115 |
Quelle: CILIP-Statistiken
Offene Fragen
In der Auseinandersetzung mit dem polizeilichen Schußwaffengebrauch sind zwei Fragen von besonderem Interessen: Wann und warum schießen PolizistInnen auf Menschen? Und: Schießt die Polizei zu häufig? Beide Fragen lassen sich auf der Grundlage des veröffentlichten Materials nicht beantworten. Für die Todesschüsse ist offenkundig, daß sie weder auf schwere Kriminalität noch auf gefährliche Situationen begrenzt bleiben. Sie ereignen sich sowohl bei polizeilich geplanten als auch bei zufälligen Einsätzen. Nur in sehr wenigen Fällen handelt es sich um gezielte Todesschüsse; im Regelfall kommt es offenkundig zu einer Eskalation, an deren Ende der tödliche Schuß fällt. Bezogen auf die Polizei bedeutet das, daß es ihr praktisch nicht gelingt, die gesetzlichen Vorgaben (nur schießen, um flucht- oder angriffsunfähig zu machen) in die Praxis umzusetzen. Warum das nicht gelingt, darüber wüßte man gerne mehr.
Auch die Frage, ob die deutsche Polizei zu häufig (auf Menschen) schießt, kann nicht beantwortet werden. Fest steht, daß in den letzten 20 Jahren kein einheitlicher Trend festzustellen ist; weder ist die Polizei schießwütiger geworden, noch hat der Schußwaffengebrauch gegen Personen abgenommen. Um zu beurteilen, ob dieses Niveau unvermeidbar ist, müßte man nicht nur die einzelnen Situationen kennen, sondern es müßte auch bekannt sein, in wie vielen vergleichbaren Einsätzen es nicht zum (tödlichen) Schußwaffeneinsatz kommt.
Daß jeder von der Polizei getötete Mensch ein Toter zuviel ist, ist ein für Sonntagsreden taugliches Bekenntnis. Praktisch wirksam könnte dies nur werden, wenn die Polizeien und Innenverwaltungen dazu übergingen, mehr als nur statistische Angaben zu veröffentlichen. Die Darstellung der Umstände, unter denen PolizistInnen auf Menschen schießen, wäre Voraussetzung der öffentlichen Kontrolle polizeilichen Handelns. Wer Ernst machen will mit der „friedenstiftenden Bedeutung des staatlichen Gewaltmonopols“, der müßte jederzeit den Beweis antreten, daß staatliche Akteure die ihnen übertragene Gewalt nicht vorschnell einsetzen. Die dargestellten Daten sprechen dagegen, daß dieser Beweis für die Bundesrepublik gegenwärtig gelingen könnte.