von Rolf Gössner
In der Nacht zum 7. November 1997 brannte das Arbeitsamt in Göttingen. Brandstifter hatten im Eingangsbereich Benzin ausgekippt und angezündet. Sie waren unerkannt verschwunden. Alarmstufe 1 für die ermittelnde Polizei, die aufgrund eines „Bekennerschreibens“ von einem „terroristischen“ Anschlag ausging. Routiniert hielt sie sich an die üblichen Verdächtigen aus der linken Göttinger Szene. Dabei geriet auch eine ganze Reihe angesehener Bürgerinnen und Bürger ins Fahndungsvisier, unter ihnen Rechtsanwälte und Ärzte, Journalisten und Pfarrer, ein Stadtarchivar und ein Baudezernent, Stadträte und Fotografen, Fraktionsmitarbeiter und Ministerialbeamte, Angestellte und Hausfrauen.
Auch eine 68jährige Ehrenbürgerin der Stadt Göttingen, die seit ihrer Kindheit auf einen Rollstuhl angewiesen ist, wird von der Sonderkommission 413 des Landeskriminalamtes und der Göttinger Polizei auf der Verdächtigenliste geführt. Insgesamt 105 Personen sind dort mit Namen, Geburtsdaten und Adressen verzeichnet. Die Fahnder legten diese Liste auch dem brandgeschädigten Arbeitsamt vor, das per Datenabgleich (Rasterfahndung) prüfen sollte, „ob diesen Personen Leistungen versagt, gekürzt oder gestrichen wurden“ – für die Ermittler ein mögliches Motiv der Brandstifter.[1] Der Brand, der einen Schaden von einer halben Mio. DM anrichtete, konnte rasch gelöscht werden, die personenbezogenen Daten, die für die Ermittlungen genutzt wurden, jedoch bis heute nicht, obwohl dies nach Datenschutzrecht längst hätte geschehen müssen. Der entstandene Schaden ist nicht bezifferbar. Wie kamen die 105 Männer und Frauen, die zumeist in den 80er Jahren als StudentInnen politisch aktiv gewesen waren, in den schweren Verdacht der Brandstiftung und der Bildung einer „terroristischen Vereinigung“?
Angeblich gelöscht: Daten aus Terrorismus-Ermittlungen
Die Liste hat eine lange Geschichte: Sie basiert offenkundig auf alten Kriminalakten und personenbezogenen Daten aus sogenannten Spurendokumentationsdateien (Spudok), die schon zu Beginn der 80er Jahre im Rahmen von Terrorismus-Ermittlungen angelegt worden waren. Darin waren zahlreiche Mitglieder von Bürgerinitiativen sowie Personen aus der damaligen Göttinger linken Szene erfaßt worden, darunter auch der heutige Bundesumweltminister Jürgen Trittin – obwohl gegen ihn und die anderen Betroffenen keinerlei Straftatverdacht vorgelegen hatte und daher auch keine strafrechtlichen Ermittlungsverfahren geführt worden waren. Nach heftigen öffentlichen Protesten veranlaßte das Bekanntwerden der Spudok-Dateien seinerzeit sowohl die oppositionelle SPD-Fraktion als auch die Grünen im Landtag zu geharnischten Anfragen an die Landesregierung. In seiner Antwort versicherte der damalige Innenminister Egbert Möcklinghoff (CDU) am 21. November 1985, daß die Göttinger Spudok-Dateien bereits im Februar 1983 gelöscht (wörtlich: „vernichtet“) worden seien. Den Registrierten wurde versichert, daß gegen sie zu keinem Zeitpunkt ein Straftatverdacht bestanden habe.[2]
Trotz dieser amtlichen Versicherung, die das Eingeständnis rechtswidriger Datenspeicherung enthielt, tauchten die angeblich gelöschten Daten jener unbescholtenen Personen anläßlich der neuen Ermittlungen im Februar 1998 wieder in den Ermittlungsakten auf; zum Teil mit denselben Schreibfehlern in den Namen wie Anfang der 80er Jahre in den Spudok-Dateien. Noch anderthalb Jahrzehnte nach der angeblichen Vernichtung der Dateien richtete sich also der Verdacht der Polizei gegen die schon damals zu Unrecht Verdächtigten. Darunter finden sich auch Personen, die schon seit mehr als zehn Jahren in anderen Städten, teilweise im Ausland leben. Ein eklatanter Verstoß gegen das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung.
Schon einmal war in Niedersachsen im Zusammenhang mit Spudok-Dateien ein solcher Verstoß bekannt geworden: In den 80er Jahren sammelte eine 40köpfige Sonderkommission des niedersächsischen Landeskriminalamtes im Wendland, wo der Widerstand gegen den Bau eines Atommüll-Zwischenlagers stark verankert ist, jahrelang systematisch Daten von EinwohnerInnen des Landkreises Lüchow-Dannenberg – angeblich, um eine „kriminelle Vereinigung“ ausfindig zu machen. In der eigens eingerichteten Spudok-Datei wurden mehr als 2.000 EinwohnerInnen abgespeichert – das ist mehr als jeder 25. des Landkreises.[3] Später wurden lediglich 30 Ermittlungsverfahren eingeleitet, nur in drei Fällen kam es zu einer Anklage, gegen zwei Beschuldigte wurde das Hauptverfahren eröffnet und nach sechs Jahren wieder eingestellt.[4] Sind auch diese Daten womöglich heute noch verfügbar? Können sie aus aktuellem Anlaß gegen Atomkraftgegner aktiviert werden?
Elektronischer Langzeitverdacht
Zurück nach Göttingen: Die Betroffenen erinnern sich noch gut, was es Ende der 70er Jahre bedeutete, unter Terrorismusverdacht zu stehen und Opfer der damaligen Berufsverbotepraxis zu werden. In Göttingen mit seiner lebhaften linken Szene jagte seitdem ein Terrorismus-Ermittlungsverfahren das andere. Der berühmt gewordene Artikel in den „göttinger nachrichten“, aus dem die Ermittler die (gründlich reflektierte) „klammheimliche Freude“ des Autors „Mescalero“ über das tödliche Attentat der „Roten Armee Fraktion“ auf Generalbundesanwalt Siegfried Buback herausgesondert hatten, führte zu geradezu hysterischer Diffamierung und Verfolgung von ProfessorInnen und StudentInnen. Der Terrorismusverdacht der folgenden Jahre erfaßte bis in die jüngste Zeit im Göttinger Raum Hunderte meist junger Menschen. Vorläufiger Höhepunkt war ein aufwendiges Ermittlungsverfahren in den 90er Jahren: Mehr als vier Jahre lang hatten die Ermittlungsbehörden nach Beweisen dafür gesucht, daß die „Autonome Antifa (M)“ in Göttingen, die konsequent neofaschistische Tendenzen in Niedersachsen aufspürt und ihnen entgegenwirkt, eine „kriminelle“ oder gar „terroristische Vereinigung“ sei. Der Ermittlungsaufwand war gigantisch, füllte 115 Aktenordner und verschlang viele Millionen Mark. Seit 1991 ermittelten das Landeskriminalamt (SoKo 606), ein eigens geschaffenes „Mobiles Einsatzkommando“ und die Generalstaatsanwaltschaft in Göttingen und Umgebung. Dabei nutzten sie sämtliche Sonderermächtigungen und verdeckten polizeilichen Mittel und Methoden, die das Anti-Terror-Sonderrechtssystem (§§ 129, 129a StGB) bietet. Von dieser Ausforschung wurden Hunderte, möglicherweise Tausende von Menschen betroffen, auch bloße Kontaktpersonen. Politische Aktions- und Bündnispartner der Antifa (M) wurden in die Vorfeldermittlungen einbezogen – bis hin zu den Grünen, zur SPD, zu Kirchen und Gewerkschaften. Die Polizei hörte fast 14.000 Telefongespräche ab, observierte ihr verdächtig erscheinende Personen langfristig, teils rund um die Uhr, überwachte politische Veranstaltungen, teilweise mit Video, durchsuchte zahlreiche Wohnungen, Arbeitsplätze, Buchläden, Druckereien und die örtliche Zeitung. Das Resultat: Anklagen gegen 17 Beschuldigte – doch der überwiegende Teil der Anklagen wurde vom Gericht mangels Substanz abgelehnt, der Rest später gegen Geldbuße eingestellt.[5]
Angesichts des aktuellen Spudok-Skandals haben die Landtagsgrünen die Landesregierung aufgefordert, alle Betroffenen umgehend aus den Verdächtigenlisten zu streichen und zu rehabilitieren. Sie haben die Liste mit den Namen der 105 Göttinger Dauerverdächtigen dem Datenschutzbeauftragten des Landes, Burckhard Nedden, übergeben. Er soll klären, wie es – entgegen allen Datenschutzregelungen – zu diesem elektronischen Langzeitverdacht kommen konnte und weshalb die Datenschutzkontrolle versagte. Auch soll geprüft werden, ob die Daten an weitere Stellen übermittelt wurden und wie künftig die fatale Konsequenz „einmal verdächtig, immer verdächtig“ durchbrochen werden kann.[6]
Innenminister Heiner Bartling (SPD) stellte sich jedoch gleich vor und hinter die ihm unterstellte Polizei und demonstrierte fehlendes Unrechtsbewußtsein: „Wenn ein ähnlicher Brandanschlag erfolgen sollte, will ich auf das zurückgreifen können, was ich in der Vergangenheit ermittelt habe, damit ich schneller zu Ermittlungserfolgen komme.“[7] Darum „kann und will“ er, wie er im Landtag ausführte, nicht verhindern, daß dann wieder Verdächtige von der Liste der 105 in die Ermittlungsmaschine geraten. Also doch: Einmal verdächtig – immer verdächtig?