von Mark Holzberger
Auf der Herbsttagung 2000 des Bundeskriminalamtes gab dessen Vizepräsident zu, die deutsche Polizei arbeite bei der Registrierung rechtsextremistischer Straftaten seit Jahren mit falschen Zahlen. Nun will man die Erfassung neu regeln.
117 Personen seien in Deutschland seit der Wende 1989 von Rechtsextremisten getötet worden, berichtete das ARD-Magazin „Panorama“ am 24. August 2000. Das Bundesinnenministerium (BMI) ging zu diesem Zeitpunkt von nur 24 Toten aus. Selbst einige spektakuläre rechtsextremistische Tötungsdelikte waren offiziell nicht als solche registriert worden – etwa die tödliche Hetzjagd auf den algerischen Flüchtling Omar Ben Noui im Februar 1999 in Guben oder der Fall des portugiesischen Bauarbeiters Noemia Lourenco, der im Juli 1998 in Leipzig zu Tode getrampelt worden war. Die Zahl der aus rechtsextremistischen Motiven Getöteten, so „Panorama“ weiter, sei unter Bundesinnenminister Otto Schily herunter gerechnet worden. Sein Vorgänger Manfred Kanther hatte noch 34 Tote zählen lassen.[1] Auf die zehn aus der Statistik verschwundenen Toten angesprochen, rang ein überforderter BMI-Staatssekretär Rudolf Körper nach Erklärungen: „Das kann auch ein Stück Zufall sein … Ja, man könnte sagen, wir sind froh, dass es nicht so viele geworden sind.“ Später beschied das BMI der „Panorama“-Redaktion, die Zahlen seien „nicht vergleichbar, weil zwischenzeitlich die statistischen Erfassungsmerkmale geändert wurden.“[2]
Drei Wochen nach dem Panorama-Bericht, am 14. September, präsentierte Frank Jansen im „Tagesspiegel“ eine Übersicht von 93 Fällen, bei denen Menschen seit 1990 aus rechtsextremistischen oder rassistischen Motiven umgebracht worden waren – ein Durchbruch: Noch am selben Tag veranlasste Schily eine Überprüfung sämtlicher der dort aufgeführten Tötungsfälle. Mittlerweile geht das BMI von 36 Toten aus.[3]
Auf der Herbsttagung des Bundeskriminalamtes (BKA) schließlich erklärte dessen Vize-Präsident Bernhard Falk die Zweifel und Kritik an der polizeilichen Erfassung rechtsextremistischer Straftaten für „berechtigt“. Die Meldedienstregelungen seien „überkommen“, die Meldedisziplin „defizitär“. Die entsprechenden Statistiken der Polizei hätten sich als „ungeeignete Messfühler“ erwiesen. Die Polizei arbeite im Bereich des Rechtsextremismus letztlich mit einem „verzerrten Lagebild“[4] – angesichts der seit über zehn Jahren stark ansteigenden rechtsextremistischen Straf- und Gewalttaten sowie Dutzender von Rechtsextremisten ermordeten Menschen ein Skandal erster Güte.
Von alledem nichts gewusst?
Seit Anfang 1992 stellt das Büro der PDS-Bundestagsabgeordneten Ulla Jelpke monatlich parlamentarische Anfragen über „Ausländerfeindliche und rechtsextremistische Ausschreitungen“ im jeweiligen Vormonat. Quartalsweise werden zudem antisemitische Straftaten abgefragt. Schließlich hat die PDS 24 Kleine Anfragen zu rechten Tötungsdelikten gestellt. Die Antworten der Bundesregierung wiesen immer wieder auf Mängel bei der amtlichen Registrierung hin und zeigten einen offenkundigen Unwillen zur Auskunft über entsprechende Vorfälle. 1992, zu Beginn der Anfragenserie, erklärte das BMI gar, man sei „nicht veranlasst, eine detaillierte Aufstellung fremden-/ausländerfeindlich motivierter Straftaten monatlich zu erarbeiten und zu veröffentlichen.“[5] Tatsächlich war erst am 15. Januar 1992 – nach den rassistischen Pogromen von Hoyerswerda im September 1991 – ein „Meldedienst fremdenfeindliche Straftaten“ eingerichtet worden, auf dessen Grundlage das BKA seither ein monatliches Bundeslagebild erstellt.[6]
Schon 1994 wies ein vom BMI in Auftrag gegebenes Forschungsprojekt auf deutliche Missstände bei der polizeilichen Erfassung derartiger Delikte hin und stellte „große Diskrepanzen“ zwischen den Bundesländern bei der Definition fremdenfeindlicher Straftaten fest. Straftaten würden z.T. erst dann als fremdenfeindlich bewertet, wenn sich Tatverdächtige entsprechend eingelassen hätten. Hierdurch sei „die Zuverlässigkeit und Aussagekraft der polizeilichen Statistik zu fremdenfeindlichen Straftaten erheblich beeinträchtigt“. Die Auftragsarbeit kam jedoch zu dem Ergebnis, dass die amtlichen Angaben nicht – wie anzunehmen – zu niedrig seien, sondern „möglicherweise zwischen 10% und 20% zu hoch“ lägen – ein glattes Fehlurteil, wie sich inzwischen herausstellte.[7]
Zahlensalat
Wie problematisch die Erfassung ist, zeigte sich auch daran, dass das Bundesamt für den Verfassungsschutz (BfV) regelmäßig deutlich mehr rechtsextreme Straf- und Gewalttaten zählte als das BKA. Während man in Wiesbaden allein von polizeilichen Ermittlungsdaten abhängt, speiste das BfV seine Zählung bis Ende 1995 auch aus der Presseauswertung und aus Spitzelberichten. Zum 1. Januar 1996 verfügte Minister Kanther, dass fortan für die statistische Erfassung rechtsextremistischer Straftaten bei beiden Ämtern nur mehr Meldungen der sachbearbeitenden Polizeibehörden heranzuziehen seien.
Ein Jahr später sorgte das BMI auch für die Angleichung der Definitionen. Bis dahin hatte das BfV neben den auch beim BKA erfassten Tötungsdelikten, Sprengstoffanschlägen, Brandstiftungen, Körperverletzungen und Landfriedensbrüchen auch „Sachbeschädigungen mit Gewaltanwendung“ zu den rechtsextremistischen Gewalttaten gezählt.[8] Da das Strafgesetzbuch diesen Begriff nicht kenne, wurde das BfV nun angewiesen, rückwirkend bis 1989 seine Statistiken und die dazugehörigen Grafiken zu bereinigen. So verschwanden 3.953 Delikte – nicht weniger als 34% der in den Jahresberichten des BfV von 1989-1998 ausgewiesenen rechtsextremistischen Gewalttaten.[9]
Mit diesen Änderungen der Zählweise versuchte BMI-Staatssekretär Körper nach der „Panorama“-Sendung auch das Verschwinden von 10 Todesopfern rechter Gewalt zu erklären: An die Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses des Bundestages, Claudia Roth, schrieb er am 27. September 2000, dass „die in der Antwort der Bundesregierung aus dem Jahr 1999 wiedergegebenen Tötungsdelikte für den Zeitraum von 1990 bis 01. April 1999 unter Berücksichtigung der seit 1996 geltenden Erfassungskriterien neu ermittelt worden sind. Dies führte dazu, dass 10 Straftaten aus dem Erfassungszeitraum 1990 bis 1993 nicht mehr als rechtsextremistische Gewaltdelikte erfasst wurden.“ Körper gab nun die Zahl der von Rechtsextremisten getöteten Personen mit 25 an.[10]
Keine drei Monate später zählte man im BMI schon 36 Tote. Plötzlich und ohne weitere Begründung wurden vier Tötungsfälle aus den Jahren 1991-93, die man erst Anfang 1999 stillschweigend aus der Liste gestrichen hatte, wieder als rechte Gewalt anerkannt. Hinzugerechnet wurden ferner ein Mord aus dem Jahr 1995, drei vollendete Tötungsdelikte aus den Jahren 1997-98 (u.a. die Tötung von Noemia Lourenco) sowie die tödliche Hetzjagd auf Omar Ben Noui im Februar 1999.[11]
Die Schwächen der Polizei-Statistik
Fremdenfeindliche, antisemitische und rechtsextremistische Straftaten werden seit 1992 in der „Polizeilichen Kriminalstatistik – Staatsschutz (PKS-S)“, im Kriminalpolizeilichen Meldedienst in Staatsschutzsachen (KPMD-S), im Sondermeldedienst fremdenfeindliche Straftaten bzw. in der Sonderstatistik über antisemitische Straftaten erfasst.[12] All diese bundesweiten Erhebungen leiden an dem Grundproblem jeder polizeilichen Kriminalstatistik, die nur Straftaten enthalten kann, die zuvor von der Polizei registriert wurden. Diese „Verzerrung“ des polizeilichen „Lagebildes“ ist somit unvermeidlich.
Während die Polizei nur bedingt dafür verantwortlich gemacht werden kann, dass ihr Fälle nicht gemeldet werden, trägt sie sehr wohl Verantwortung für die Art und Weise der Erfassung und Weitermeldung. Es komme – so der BKA-Vizepräsident – immer auch auf die Motivation des sachbearbeitenden Beamten an. Und hier gäbe es „beachtliche Hinweise auf die Verbreitung fremden- bzw. minderheitenfeindlicher Einstellungen“. Die erkennbaren „Defizite bei der Meldedisziplin“ hingen aber – so Falk – auch mit „Opportunitätsüberlegungen“ der BeamtInnen zusammen, mit dem Bestreben, das eigene Bundesland bzw. den Dienstbezirk ja nicht wegen rechtsextremer Straftaten „in Verruf geraten“ zu lassen.[13]
Thüringen machte auf der BKA-Tagung auch darauf aufmerksam, dass einige Bundesländer Straftaten alkoholisierter Täter unter den Tisch fallen ließen, weil diese „ja kein rechtsextremistisches Gedankengut haben können.“ Noch im Dezember 2000 behauptete die Bundesregierung, über diese unterschiedliche Praxis der Länder „keine Erkenntnisse“ zu haben – eine Fehlinformation.[14]
Probleme ergeben sich auch aus der Verschiedenheit der Erhebungsgegenstände. In der PKS-S werden – nach Aussagen von Falk – nur rechtsextremistische, jedoch keine fremdenfeindlichen oder antisemitischen Delikte erfasst. Ihre Nutzbarkeit sei daher für die Beobachtung und Interpretation von Langzeitentwicklungen „sehr begrenzt“, im Hinblick auf aktuelle Lagebilder „überhaupt nicht gegeben“.[15] Im KPMD-S hingegen werden nur solche Straftaten aufgenommen, die als „Bestrebungen zur Systemüberwindung“ interpretiert werden. Tatsächlich aber – so Falk – sind „fremdenfeindliche und antisemitische Straftaten nur in Teilen als extremistisch zu bewerten, [da es] in vielen Fällen an Anhaltspunkten zur Systemüberwindung fehlt.“ Dies führe zwangsläufig zu „problematischen und subjektiven Zuordnungen, die beim Betrachter zu Recht Unverständnis hervorrufen und … eine Verzerrung des Datenmaterials“ provozierten.[16]
Diese Erfassungsprobleme der Polizei werden offenkundig bei der Einordnung bestimmter Opfergruppen, z.B. bei Angriffen auf Homosexuelle[17] oder Obdachlose. In Jansens Auflistung im „Tagesspiegel“ finden sich 16 Obdachlose, das sind 17% aller von ihm gezählten Todesopfer rechter Gewalt. Einen rechtsextremistischen Tathintergrund bestätigte die Bundesregierung – sehr zögerlich – in gerade vier Fällen, weil die obdachlosen Opfer sich z.B. über Belästigungen durch Nazis beschwert hatten. Im Fall des 1993 ermordeten Ingo Finnern wurde ein solcher Hintergrund bejaht, weil sich das Opfer zuvor als Sinto zu erkennen gegeben hatte. Einzig den Fall des im Juli 2000 in Ahlbeck auf Usedom tot geprügelten Obdachlosen nahm die Bundesregierung – in Abweichung von ihrer sonstigen Systematik – allein aufgrund des rechtsextremistischen Hintergrundes der Täter in die Liste der von Nazis Ermordeten auf. Damit ging aber kein analytischer Neuanfang einher: Auch Ende 2000 wollte die Bundesregierung noch nichts „von einer Hetze gegen Obdachlose in rechtsextremistischen Parteien und Publikationsorganen“ gehört haben. Die sozialdarwinistischen Elemente nazistischer Ideologie werden ignoriert: „In der Neonazi- und Skinheadszene“ würden „Einstellungen gegenüber Obdachlosen kaum thematisiert“.[18]
Des Ministeriums neue Kleider
Nach dem „Panorama“-Bericht und Jansens Veröffentlichung im „Tagesspiegel“ hatte das BMI eine Projektgruppe aus Experten des BKA sowie der Landeskriminalämter (LKÄ) eingesetzt, die Vorschläge zur Verbesserung der Erfassungskriterien und der Bewertungspraxis rechtsextremistischer und fremdenfeindlicher Straftaten ausarbeiten sollte. Zum Jahresende legte die Gruppe einen Abschlussbericht vor.
Im Vorgriff auf die erwartete Billigung der Schlussfolgerungen dieses Berichtes auf der nächsten ordentlichen Innenministerkonferenz wird seit Anfang 2001 bereits mit den darauf aufbauenden neuen Erfassungskriterien im Bereich des Rechtsextremismus operiert. Künftig soll sich – so ist zu hören – die Bewertung entsprechender Delikte nicht mehr am Extremismusbegriff orientieren, der – wie beschrieben – allein auf das Moment der „Systemüberwindung“ abhebt. Ausschlaggebend sei nunmehr, ob es sich um eine politisch motivierte Tat handelt. Hierbei sei nicht nur die Motivation eines Täters zu berücksichtigen, sondern auch äußere Tatumstände. Berücksichtigt werden sollen nun auch Körperverletzungen mit Todesfolge, die bisher nicht in den amtlichen Statistiken über rechte Tötungsdelikte auftauchten. So soll sichergestellt werden, dass in Zukunft z.B. auch Morde an Obdachlosen als das registriert werden, was sie häufig sind, nämlich als rechtsextremistische Straftaten.
Widerstand gegen den noch unveröffentlichten Bericht und die Schlussfolgerungen der Projektgruppe, die sich derzeit in einem Abstimmungsprozess befinden, regt sich in den Bundesländern. Mecklenburg-Vorpommern, das sich bislang schon weigerte, Straftaten alkoholisierter bzw. minderjähriger Rechtsextremisten zu berücksichtigen, stellt sich auch diesmal quer und möchte Propagandadelikte – „Heil-Hitler“-Rufe oder Hakenkreuzschmierereien – aus der Liste der zu erfassenden Straftaten streichen. Ostdeutsche Innenminister fürchten eine „Stigmatisierung des Ostens als Hort des Rechtsextremismus“.[19]
Die Gesellschaft ist gefordert
Nicht zuletzt wegen des „erheblichen Dunkelfelds“[20] können die aufgezeigten Probleme einer vollständigen und zeitnahen Erfassung rechtsextremistischer Gewalttaten mit Maßnahmen der Polizei allein nicht bewältigt werden. Dies wird mittlerweile auch von der Politik wahrgenommen. So fordern SPD, Bündnisgrüne, FDP und PDS in einem gemeinsamen Bundestags-Antrag die Einrichtung einer unabhängigen Beobachtungsstelle in der Bundesrepublik.[21] Am 11. Dezember letzten Jahres hatte auch der Beirat des Bündnisses für Demokratie und Toleranz beschlossen, dass „eine zivilgesellschaftliche Einrichtung (unabhängige Dokumentationsstelle) geschaffen wird, welche die Beobachtung, Sammlung und Dokumentation im Bereich der Fremdenfeindlichkeit und des Rassismus aktiv betreibt.“
Als Vorbild und organisatorisches Zentrum für diese Pläne dient die in Wien angesiedelte Europäische Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (EUMC). Eine der Hauptaufgaben dieser 1997 von der EU-Kommission eingerichteten Institution ist der Aufbau eines europaweiten Informationsnetzes über Rassismus und Fremdenfeindlichkeit – kurz: RAXEN. Seit 1999 läuft die Aufbauphase für RAXEN, bei der es nicht nur um die technische Architektur dieses Informationsnetzes geht, sondern auch um dessen formale und inhaltliche Grundlagen. So sind u.a. die Richtlinien und Kriterien für die Erfassung entsprechender Vorkommnisse zu klären. Oberstes Ziel ist es, ein Höchstmaß an Vergleichbarkeit der Daten zu erreichen. Entscheidend hierfür sind einheitliche Definitionen und Erfassungskriterien. So musste z.B. geklärt werden, wie mit den rund 20 unterschiedlichen Definitionen des Begriffes „Rassismus“ umgegangen werden soll.[22]
Derzeit sucht EUMC Kooperationspartner (Focal Points) in den EU-Staaten. In Deutschland bewirbt sich hierum das Berliner „Zentrum für Demokratische Kultur“. Mit den künftigen Partnerorganisationen muss nicht nur die konkrete Form der Kooperation, die Vereinheitlichung der Erfassungsstandards, sondern auch die Kooperation des Focal Points mit staatlichen bzw. nicht-staatlichen Gruppen vereinbart werden.
Fragen an eine nicht-polizeiliche Erfassung
Für eine Registrierung rechtsextremistischer Straftaten jenseits der Polizei spricht einiges: so z.B. dass künftig mit einer adäquaten Definition des Untersuchungsgegenstandes – also des Rassismus, Antisemitismus und des Rechtsextremismus – gearbeitet werden könnte. Dies würde dazu führen, dass auch bislang offiziell kaum berücksichtigte Opfergruppen (Obdachlose, Homosexuelle, Punks, Antifas und andere Linke) sowie angegriffene Objekte (z.B. sowjetische Gedenkstätten) erfasst würden. Es könnten dann auch neue Tätergruppen registriert werden (z.B. polizeiliche Misshandlungen von Nichtdeutschen, rechtsradikale Handlungen in der Bundeswehr). Schließlich könnte eine unabhängige Beobachtungsstelle auch die Medien auswerten und einzelne Eingaben berücksichtigen, die nicht bei der Polizei angezeigt worden sind.
Der Erfolg dieser Arbeit wird nicht zuletzt vom Aufbau und der institutionellen Anbindung einer derartigen Beobachtungsstelle abhängen. Derzeit werden drei Varianten diskutiert: 1. eine reine Informations-Sammelstelle; 2. die Einrichtung einer Ombudsstelle, bei der rechte Gewaltakte gemeldet werden können; 3. die Eingliederung dieser Stelle in künftige dezentrale Anti-Diskriminierungsbüros. Diese Modelle haben erhebliche Auswirkungen auf die Arbeit der Beobachtungsstelle: Will man lediglich eine zentrale Kopfstelle oder örtliche bzw. regionale Anlaufstellen (als niedrigschwelliges Angebot für Betroffene und ZeugInnen)? Soll diese Stelle behördlichen Charakter haben? Soll sie auch Beratungs- bzw. Vertretungsfunktionen gegenüber Dritten haben?
Ziel einer außer-polizeilichen Beobachtungsstelle ist es, valide Daten zusammenzutragen, um diese mit den Statistiken der Strafverfolgungsbehörden zu vergleichen. Hierfür ist es notwendig, eine Erfassungspraxis zu entwickeln, deren Ergebnisse mit denen der Polizei auch abgeglichen werden können. Daraus ergeben sich viele Fragen, so z.B. wie bei Demonstrationen das Zeigen nazistischer Symbole gezählt werden soll: Jedes einzeln? Oder: Wie schlägt es sich statistisch nieder, wenn eine Person während eines Aufmarsches z.B. mehrfach den Hitler-Gruß zeigt? Zudem: Werden nur rechtsextremistische Straftaten oder auch andere „Vorkommnisse“ registriert? Zwar stellt das Strafgesetzbuch einen wichtigen objektiven Maßstab dar. Gleichzeitig kann und sollte es nicht das Ziel einer solchen Beobachtungsstelle sein, jedwede (also auch unpolitisch motivierte) strafbare Handlung von Rechtsextremisten aufzulisten. Selbst Tötungen von Obdachlosen und Nichtdeutschen können unpolitische Hintergründe haben. Entscheidend ist es, bei einem entsprechenden Verdacht durch das Zusammenführen transparenter analytischer Erklärungsmomente Beweise bzw. Indizien für einen möglichen rechtsextremistischen Hintergrund dieser Handlung zu erbringen – und deutlich zu machen, wo sich diese Vermutung nicht bestätigt hat.
So ließen sich auch Schwächen bisheriger Dokumentationen, wie der von Frank Jansen, vermeiden: Dieser spricht von 93 Toten rechter Gewalt. In über einem Dutzend der aufgeführten Fälle wird aber die rechtsextremistische Motivation des Täters im Hinblick auf die entsprechende Mordtat nicht hinreichend deutlich. Die politische Gesinnung bzw. Organisationszugehörigkeit allein ersetzt eben keinen Nachweis für eine rechtsextremistische Absicht in dem jeweiligen Einzelfall.
Die größte Chance und gleichsam auch die größte Herausforderung einer nicht-staatlichen Erfassung entsprechender Delikte liegt darin, dass sie – im Unterschied zu einem gerichtlichen Verfahren – keine strafrechtliche Vollprüfung des Sachverhaltes durchführen, sondern im Wesentlichen nur Aspekte des objektiven und subjektiven Tatbestandes klären muss. Insofern wird eine nicht-staatliche Erfassung einzelne Sachverhaltsmomente rechtsextremistischer Straftaten u.U. anders gewichten oder auch zu anderen Ergebnissen kommen als die zuständigen Gerichte, wie an einem Berliner Beispiel deutlich wird: Personen mit einem unbestritten rechtsextremen Hintergrund hatten einen Obdachlosen halbtot geprügelt und waren später zurückgekommen, um ihn zu erstechen. Das Gericht wertete – juristisch durchaus zulässig – nur die Körperverletzung, nicht aber die Tötung als rechtsextreme Straftat. Letztere habe nur den Zweck der Verdeckung gehabt. Eine nicht an das Strafrecht gebundene Beobachtungsstelle wird beide Taten als eine Einheit, als eine rechtsextremistische Mordtat, sehen.[23]
So sinnvoll die Einrichtung einer außer-polizeilichen Beobachtungsstelle erscheint – die Seriosität und der Nutzen ihrer Arbeit ist von der Lösung einer Vielzahl grundlegender Fragen abhängig.