von Heiner Busch
Die Rasterfahndung – jetzt zur Suche nach „Schläfern“ praktiziert – ist eine jener polizeilichen Befugnisse, die die informationelle Selbstbestimmung der Betroffenen durchlöchern. Woher nimmt der Bundesinnenminister die Idee, wir hätten „vielleicht … im Datenschutz etwas übertrieben“?[1]
Das Zweckbindungsgebot ist ein zentraler Grundsatz des Datenschutzes. Es besagt, dass Daten nur zu dem Zweck bearbeitet werden dürfen, für den sie auch erhoben wurden. Die Rasterfahndung steht diesem Prinzip diametral entgegen. Die Methode, der sich die deutsche Polizei seit den 70er Jahren bedient, besteht darin, Datenbestände anderer Verwaltungen oder privater Stellen nach einem bestimmten Muster miteinander abzugleichen. Im Falle der Anfang Oktober gestarteten Rasterfahndungen bedeutet das: Daten von Personen aus Ländern des Nahen Ostens, die bei Melde- und Ausländerbehörden, Hochschulen, Energie- und „Entsorgungs“-Unternehmen, bei Nah- und Fernverkehrsunternehmen oder „Kommunikationsdienstleistern“, bei Reinigungs- und Cateringfirmen oder Sicherheitsdiensten, bei öffentlichen und privaten Stellen, die sich mit Atomenergie sowie chemischen und biologischen Gefahrenstoffen befassen, bei Flughafengesellschaften, Flugschulen und Luftfahrtfirmen gespeichert sind, werden zweckentfremdet.[2] Sie dienen nicht mehr der Verwaltung von Hochschulangelegenheiten oder der korrekten Abrechnung der zustehenden Löhne, sondern einem polizeilichen Zweck, für den sie nicht erhoben wurden. Die Betroffenen haben die Kontrolle über ihre Daten verloren.
Bei Rasterfahndungen geht es nur selten darum, bereits bekannte Verdächtige in den polizeifremden Datenbeständen aufzuspüren. Das Fehlen konkreter Verdachtsmomente wird durch einen Generalverdacht, ein Merkmalsraster ausgeglichen. „Verdächtig kann zunächst jeder sein, erst die Rasterfahndung beseitigt für die Mehrzahl der von ihr Betroffenen die – und sei es auch nur vagen – Verdachtsmomente.“[3]
Als das Bundeskriminalamt (BKA) 1979/80 nach konspirativen Wohnungen der RAF suchte, trat es zunächst an die Energieunternehmen heran. Sie mussten aus den Daten ihrer KundInnen jene heraus suchen, bei denen Rechnungs- und Lieferadresse nicht übereinstimmten oder die ihre Rechnung bar einzahlten. Dieser Datenbestand wurde sukzessive durch den Abgleich mit weiteren Fremddatenbeständen verringert. Übrig blieb ein „Bodensatz“ von Personen, deren Verhalten dem vorgegebenen Merkmalsraster entsprach. Sie lebten vergleichsweise anonym, mit wenig Behördenkontakten, verbrauchten wenig Energie und Wasser etc., so wie sich das die Polizei von den untergetauchten RAF-Mitgliedern in konspirativen Wohnungen vorstellte.[4]
Vom „Energieprogramm“ des BKA erfuhren nur die wenigsten Betroffenen, nämlich jene aus dem „Bodensatz“, bei deren Wohnungs- oder Arbeitgebern oder in deren Umfeld die Polizei auftauchte, um auf konventionelle Weise Erkundigungen über sie einzuholen. Wie viele Personen in die Rasterfahndung eingegangen waren, wie viele am Ende der Auswertung übrig blieben, wie viele konspirative Wohnungen dadurch aufgespürt werden konnten und welche Bedeutung dies für die weitere Fahndung hatte – all dies ist bis heute nicht bekannt. Soweit aus den vorliegenden Presseberichten nachvollziehbar, war Willy-Peter Stoll das einzige RAF-Mitglied, das aufgrund einer Rasterfahndung festgenommen werden konnte. (Die Festnahme Rolf Heißlers geht dagegen auf den Einsatz eines Zielfahndungskommandos zurück.) Sicher ist, dass das BKA seinen größten Fahndungserfolg gegen die RAF nicht seinen neuen Methoden, sondern dem Zusammenbruch der DDR verdankt.
Die Rasterfahndungen Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre hatten keine eigenständige gesetzliche Grundlage. Man hielt den Verweis auf die Ermittlungsgeneralklauseln der §§ 161 und 163 StPO für ausreichend. Seit dem Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom Dezember 1983 war dies nicht mehr möglich.
Das Volkszählungsurteil und das neue Grundrecht
Das Gericht gab jenen KritikerInnen recht, die seit den 70er Jahren insistiert hatten, dass auch Erhebung, Verarbeitung und Weitergabe von Daten Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte sind. Das „Recht auf informationelle Selbstbestimmung“, ein Kind des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der Art. 2 Abs. 1 und 1 Abs. 1 GG, war geboren.
„Das Grundrecht gewährleistet … die Befugnis des einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner Daten zu verfügen.“ Einschränkungen dieses Rechts sollten nur aufgrund eines Gesetzes möglich sein, aus dem „sich die Voraussetzungen und der Umfang der Beschränkungen klar und für den Bürger erkennbar ergeben und (das) damit dem rechtsstaatlichen Gebot der Normenklarheit entspricht“. Der Gesetzgeber habe dabei den Verwendungszweck der Daten bereichsspezifisch und präzise zu regeln. Die „Sammlung nicht anonymisierter Daten auf Vorrat zu unbestimmten oder noch nicht bestimmbaren Zwecken“ sei mit dem Grundrecht nicht zu vereinbaren. Alle Stellen, die sich zur Aufgabenerfüllung personenbezogener Daten bedienen, haben sich „auf das zum Erreichen des Ziels erforderliche Minimum“ zu beschränken. Ein „amtshilfefester Schutz gegen Zweckentfremdung durch Weitergabe- und Verwertungsverbote“ sei „erforderlich“, Aufklärungs-, Auskunfts- und Löschungspflichten „wesentlich“.[5]
Seit Beginn der 70er Jahre hatte die automatisierte Datenverarbeitung bei den Polizeien und Geheimdiensten Einzug gehalten. Rechtliche Regeln hierfür gab es aber allenfalls in Form von Richtlinien, gesetzliche Grundlagen fehlten allerdings vollständig. Sie sollten nun in einem Übergangszeitraum von fünf Jahren geschaffen werden. Seit Mitte der 80er Jahre erlebte die BRD eine schier nicht enden wollende Flut neuer Gesetze, die zwar in der ersten Phase noch einen Verweis auf das Urteil und das neue Grundrecht enthielten, aber an dessen „Geist“ systematisch vorbei gingen: Landespolizeigesetze mit informationellen und „operativen“ Befugnissen, die an den ständig erweiterten Musterentwurf eines einheitlichen Polizeigesetzes angepasst wurden, Strafprozessrechts-Änderungsgesetze, Geheimdienstgesetze inkl. der Regelungen für die Zusammenarbeit mit Polizei und Justiz, Gesetze, die die polizeiliche und geheimdienstliche Selbstbedienung an fremden Registern (Melderegister, Fahrzeugregister und insbesondere Ausländerzentralregister) festschrieben etc. Bei den Gesetzen der zweiten Welle in den 90er Jahren – von jenem „zur Bekämpfung des illegalen Drogenhandels und anderer Formen der organisierten Kriminalität“ (OrgKG) 1992 über das „Verbrechensbekämpfungsgesetz“ von 1994 und die Gesetze für das BKA und den BGS bis hin zum Großen Lauschangriff – hat man sich den Eiertanz, die Erweiterung polizeilicher und geheimdienstlicher Vollmachten mit dem vom BVerfG geforderten überwiegenden öffentlichen Interesse zu rechtfertigen, gänzlich erspart.
Mittlerweile sind die Gesetze im „Sicherheitsbereich“ durchweg „verdatenschützert“. Sie enthalten Speicherungsfristen und Rechte auf Berichtigung und Löschung falscher oder nicht mehr notwendiger Daten. Sie enthalten sogar Bestimmungen über Auskunftsrechte, die allerdings gerade dann, wenn die Daten hinter dem Rücken der Betroffenen oder ausdrücklich geheim erhoben wurden, massiv beschränkt sind.
Das Volkszählungsurteil zwang die Gesetzgeber dazu, die Befugnisse von Polizei, Strafverfolgungsbehörden und Geheimdiensten bis ins Einzelne zu verrechtlichen. Gesetze, die noch in den 70er Jahren aus nur wenigen Paragrafen bestanden, wurden dadurch zu voluminösen Bänden aufgebläht. Dies führte aber keineswegs zu der vom Verfassungsgericht geforderten Normenklarheit und Durchsichtigkeit für die BürgerInnen. Die Gründe dafür liegen zum einen darin, dass gerade die Befugnisse zur geheimen oder verdeckten Datenerhebung, welche die Geheimdienste, aber auch die „operativ“ arbeitende Polizei kennzeichnen, solchen Prinzipien systematisch widersprechen. Dadurch wird die datenschützerische Regel, dass Daten grundsätzlich offen und direkt bei den Betroffenen zu erheben sind, automatisch zur Ausnahme.
Zum anderen wurden auch die Aufgabennormen – und damit die Bestimmungen über den Zweck der Erhebung, Verarbeitung und Weitergabe von Daten – dadurch aufgeweicht, dass sich die polizeiliche und strafverfolgerische Tätigkeit mehr und mehr ins Vorfeld verlagerte. Ausdruck dessen sind nicht nur neue Aufgabennormen wie die „vorbeugende Bekämpfung von Straftaten“, die den polizeilichen Eingriff nicht mehr vom Verhalten der Betroffenen, sondern von einer polizeilichen Prognose abhängig machen, sondern auch eine kontinuierliche Zweckentfremdung: Daten, die zu polizeirechtlichen Zwecken erhoben wurden, sollten auch für die Strafverfolgung genutzt werden. Der Datenaustausch zwischen Polizei und Strafverfolgungsbehörden einerseits und den vollständig im Vorfeld agierenden Geheimdiensten andererseits wurde gesetzlich zementiert. Register, die eigentlich Zwecken der allgemeinen Verwaltung dienen sollten, wurden für den polizeilichen und geheimdienstlichen Zugriff geöffnet. Der auf konkrete Personen zugeschnittene Verdacht wurde ersetzt durch einen Generalverdacht.
Die nach dem 11. September vorgelegten Gesetzentwürfe erscheinen unter diesem Blickwinkel vor allem als Fortsetzung einer apparativen Entwicklung, die bereits in den 70er Jahren begann und dann gerade ab dem Volkszählungsurteil in rechtliche Formen gepresst wurde. Dass jetzt nach dem Prinzip „more of the same“ verfahren wird, kann allerdings kaum beruhigen. Schließlich beinhaltet gerade das zweite „Anti-Terror-Paket“ eine Reihe von verheerenden Dammbrüchen. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Bundesweiten Rasterfahndungen soll nun auch das Sozialgeheimnis nicht mehr im Wege stehen. Die Asylbehörden sollen von sich aus Informationen an Polizei und Geheimdienste weitergeben, die dem Asylgeheimnis unterliegen. Vom „amtshilfefesten Schutz gegen Zweckentfremdung“, wie ihn das BVerfG 1983 gefordert hatte, bleibt hier nichts mehr übrig.
Grobe Raster, großer „Bodensatz“
Zurück zum Ausgangspunkt: Die gesetzlichen Regelungen über die Rasterfahndung wurden seit Mitte der 80er Jahre erlassen. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die polizeiliche Begeisterung für derartige Übungen weitgehend gelegt. Rasterfahndungen fanden nur noch selten statt. Sie hätten nur eine „geringe praktische Bedeutung“, so der schleswig-holsteinische Datenschutzbeauftragte Helmut Bäumler noch vor wenigen Monaten. Dass diese Methode trotzdem verrechtlicht wurde, erkläre sich aus ihrem Charakter als „Prestigeangelegenheit“.[6]
Bundesweite Rasterfahndungen hatten im OrgKG 1992 eine gesetzliche Grundlage erhalten. Die §§ 98a und b StPO erlauben diese Methode bei Vorliegen „tatsächlicher Anhaltspunkte, dass eine Straftat von erheblicher Bedeutung … begangen worden ist“, was allenfalls einen Anfangsverdacht darstellt.
Ende September fanden sich entsprechende Regelungen in den Polizeigesetzen der Länder mit Ausnahme Bremens, Niedersachsens und Schleswig-Holsteins. Der Landtag in Kiel wird diese Lücke in den kommenden Wochen schließen, das niedersächsische Parlament hat dies im Eilverfahren am 24. Oktober getan. Die bremische Bürgerschaft führte am Tag darauf den Rasterfahndungsparagrafen wieder ein, den sie erst Ende August aus dem Polizeigesetz gestrichen hatte. Die beiden Länder verzichten dabei sogar auf die vorherige richterliche Anordnung.
Einige Polizeigesetze, z.B. das Baden-Württembergs (§ 40), erlauben die Rasterfahndung zur „vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten mit erheblicher Bedeutung“ und werden so der Tatsache gerecht, dass die Betroffenen definitiv weder Verdächtige noch Störer sind. Die Mehrheit der Länder sieht die Rasterung dagegen als Maßnahme zur „Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes oder für Leib, Leben und Freiheit einer Person“ (§ 47 ASOG Berlin).
Für die im Oktober angelaufenen Rasterfahndungen, die allesamt auf der Grundlage der Landespolizeigesetze stattfinden, machen diese Differenzen kaum einen Unterschied. Erklärt doch etwa das Amtsgericht Tiergarten (Berlin) in seinem Beschluss vom 20. September[7], dass angesichts des „Ausmaßes des möglichen Schadens … an die Zeitkomponente der Gegenwärtigkeit der Gefahr keine überzogenen Anforderungen gestellt werden“ dürften – eine Absurdität, da der Begriff „gegenwärtig“ entweder eine Zeitkomponente enthält oder aber sinnlos ist.
Der Beschluss verpflichtet alle möglichen Behörden, Ausbildungs- und Arbeitsstätten, Daten über Personen aus insgesamt 15 Staaten des arabischen Raums zu liefern: Name, Vorname, Geburtsdatum und -ort, Wohnort, Familienstand, Beschäftigung, Nationalität und Religionszugehörigkeit. Das Profil der Personengruppe liest sich fast wie ein Leitfaden zur Vergabe von Green-cards: „männlich, islamische Religionszugehörigkeit ohne nach außen tretende fundamentalistische Grundhaltung, legaler Aufenthalt in Deutschland, keine eigenen Kinder, Studientätigkeit (technische Studienfächer), Mehrsprachigkeit, keine Auffälligkeiten im allgemeinkriminellen Bereich, rege Reisetätigkeit, häufige Visabeantragungen, finanziell unabhängig und Flugausbildung“. Deutlicher hätte man kaum ausdrücken können, dass selbst angepasstes Verhalten nicht vor polizeilicher Überwachung schützt. Allein die Auswahl des Personenkreises, dessen Daten ausgewertet werden sollen, ist diskriminierend. Da hilft es wenig, wenn die Innenminister bekunden, dies sei kein Misstrauen gegen die islamische Bevölkerung.
Bereits am Tag darauf erweiterte der Ermittlungsrichter unter demselben Aktenzeichen seinen Beschluss. Nunmehr sollten „die Merkmale der zu überprüfenden Personengruppe lediglich die Eigenschaften vermutlich islamische Religionszugehörigkeit und vermutlich legaler Aufenthaltsstatus in Deutschland umfassen.“ Damit wird die Zahl der Personen, die in die Rasterfahndung eingehen, massiv erhöht. In einer ersten Phase lieferten allein die Berliner Universitäten Daten über 900 Personen. Die 54 nordrhein-westfälischen Hochschulen übermittelten der Polizei die Daten von insgesamt 250.000 Personen, was etwa der Hälfte aller Studierenden des Landes entspricht. Aus diesen wählte die Polizei bis Mitte November 10.000 „Recherchefälle“ aus.[8] Auch in den anderen Bundesländern haben die vagen Kriterien des Profils für eine Zahl von „Treffern“ in fünfstelliger Höhe gesorgt.
Die Rasterung der Daten selbst mag den Betroffenen gar nicht auffallen. Sie „tut nicht weh“. Spätestens mit der danach beginnenden konventionellen Überprüfung der nach wie vor Unverdächtigen kann es mit der Schmerzlosigkeit schnell vorbei sein. Weil der „Bodensatz“ so hoch ist, sollen dabei Prioritäten gesetzt werden, bei der die Studierenden an oberster Stelle stehen.
Die Ergebnisse dieser massenhaften Überprüfung dürften am Ende vor allem für den Verfassungsschutz, aber kaum für die Strafverfolgung von Interesse sein. Ende Oktober jedenfalls, also nach einem Monat Laufzeit, gab es laut Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der PDS-Abgeordneten Ulla Jelpke noch keinen Verdacht, der für die Eröffnung eines Ermittlungsverfahrens gereicht hätte.[9]