Literatur

Zum Schwerpunkt

Zu den weitgehend unbekannten Feldern der deutschen „Sicherheitsarchitektur“ gehört der Zoll. Nicht, dass die Bürger*innen ihn nicht kennen würden, denn er ist durchaus präsent. Aber das Wissen über die Institution Zoll ist gering. Das gilt in besonderem Maße für die wissenschaftliche und öffentliche Beschäftigung mit ihm. Das Desinteresse am Zoll mag damit zusammenhängen, dass er sich als Teil der Finanzverwaltung mit den grenzüberschreitenden Warenströmen beschäftigt und darauf achten soll, dass Zölle und Steuern in die Staatskasse korrekt abgeführt werden. Wenn auch der Schmuggel der kleinen Leute (Kaffee, Zigaretten, Alkohol) zum bürgerlichen Alltag gehört(e), so stand die Legitimität von Zöllen und Steuern, die das Gemeinwesen finanzieren sollen, grundsätzlich nicht infrage. Vielleicht rührt die unhinterfragte Legitimität des Zolls aus diesem Zusammenhang.

Nun haben sich die Aufgaben des Zolls in den vergangenen Jahrzehnten erheblich verändert. Einerseits sind die Zollgrenzkontrollen an den EU-Binnengrenzen entfallen, andererseits hat die globale ökonomische Verflechtung erheblich zugenommen, so dass von einer Abnahme zollrelevanten Handels nicht die Rede sein kann. Andererseits sind dem Zoll in den vergangenen Jahren neue Aufgaben übertragen worden, die seine Zuständigkeit weit über Grenz- und Importkontrollen hinaus ausdehnen. Liegt noch die Exportkontrolle nahe am traditionellen Tätigkeitsbereich, so erweiterte sich die Bedeutung des Zolls erheblich, seit er mit der Bekämpfung der Schwarzarbeit, der Einhaltung des Mindestlohnes und der Bekämpfung der Geldwäsche beauftragt wurde. Auch in diesen Feldern geht es um Einnahmen und potenzielle Einnahmeverluste des Staates (oder der Sozialversicherungen), womit seine Zuständigkeit sachlich begründet wird. Bereits der alte Zoll stellte eine „Sonderpolizei“ des Bundes dar, und durch den grenzüberschreitenden Charakter der Betäubungsmittelkriminalität nahm die kriminalistische Relevanz und die Kooperation mit den Polizeien im Inland seit den 1970er Jahren zu. Aber erst die neuen Aufgaben verwandelten ihn in eine im Inland operierende Polizei, die in verschiedenen Bereichen (Baustellen, Arbeitsstätten, Finanztransaktionen) aufgrund von Sonderrechten tätig wird, die zum Teil weit über die polizeilichen Befugnisse hinausgehen. Diese Verwandlung einer ursprünglich primär fiskalisch mit dem Außenwirtschaftsverkehr zu einer im Innern mit der Kriminalitätskontrolle befassten Behörde ist von der kritischen Öffentlichkeit bisher nur am Rande, von der Wissenschaft so gut wie nicht zur Kenntnis genommen worden.

Müller, Volker: Der Zoll, in: Voigt, R. (Hg.): Handbuch Staat, Wiesbaden 2018, S. 939-952

Für den Kontext, in dem der Zoll hier von Interesse ist, ist der Aufsatz von Müller nur durch das interessant, was er verschweigt. Seine Ausführungen enden mit dem Satz: „Der Zoll ist das Bindeglied zwischen Bürgern, Wirtschaft und Staat und versteht sich im legalen Raum weniger als das ‚Gegenüber‘, sondern vielmehr als der Fördernde und hilfreich zur Seite stehende Partner.“ Der Geldwäschebekämpfung durch den Zoll widmet der Autor weniger als drei (lapidare) Zeilen. Der „Finanzkontrolle Schwarzarbeit“ räumt er immerhin eine dreiviertel Seite ein. Sie leiste einen „Beitrag zur Gleichbehandlung aller Arbeitgeber und Arbeitnehmer und sorgt für eine regelkonforme Belastung aller Beteiligten und damit auch für die vom Gesetzgeber vorgesehene Zahlung der Sozialabgaben und der Steuern.“ Angesichts dieser kritiklosen Beschreibung wundert es nicht, dass der Autor kein Wort zur Fernmeldeüberwachung durch den Zoll, nichts zu den Dateien des Zolls oder zu den Formen der Kooperation mit den Polizeien schreibt.

Nolte, Rüdiger: Der Zoll. Die Vielfalt als strategische Basis eines funktionalen Systemdesigns, in: Lange, Hans-Jürgen; Wendekamm, Michaela (Hg.): Die Verwaltung der Sicherheit, Wiesbaden 2018, S. 183-204

Eine weitere kritikfreie Abhandlung zum Zoll, hier aus organisationswissenschaftlicher Perspektive. Hinter dem sprachlichen Aufwand muss man lange nach der Wirklichkeit des Zolls suchen. Die Errichtung der Generalzolldirektion 2016 wird als zukunftsweisender Meilenstein der Organisationsentwicklung gefeiert. Fazit: „Durch die gewählte Form der Innendifferenzierung wird die Gesamtorganisation Zoll in die Lage versetzt, … die Problemlösungs-, Lern- und Anpassungsfähigkeit des Systems signifikant zu erhöhen und dessen Funktionalität im Interesse des gesamtgesellschaftlichen und gesamtwirtschaftlichen Nutzens nachhaltig sicherzustellen.“ (S. 203) Für CILIP-Leser*innen uninteressant.

Aus dem Netz

https://www.zoll.de

Die offizielle Internetpräsenz des Zolls ist umfassend, wobei sich die Mehrzahl der Informationen auf zollrechtliche Bestimmungen und Verfahren im engeren Sinne bezieht. Im Hinblick auf die Institution „Zoll“ finden sich interessante Angaben in der Rubrik „Der Zoll“. Dort werden die herkömmlichen Aufgaben unter „Einnahmen für Deutschland und Europa“ vorgestellt. Aufschlussreicher für den neuen Zoll sind die beiden anderen Bereiche „Schutz für Bürger, Wirtschaft und Umwelt“ und „International“. Die internationalen Aufgaben des Zolls erstrecken sich von der Amts- und Rechtshilfe über den Informationsaustausch zu Zwecken des Risikomanagements, die Exportkontrolle und die Arbeit in „Gemeinsamen Zentren“ bis zum Kampf gegen grenzüberschreitende Kriminalität sowie zur Mitarbeit in internationalen Gremien (u.a. Europol und OLAF) und zur Entsendung von „Zollverbindungsbeamten“, die gegenwärtig in 17 Ländern „stationiert“ sind.

Noch deutlicher wird der polizeiliche Charakter des Zolls im Tätigkeitsbereich „Schutz für Bürger, Wirtschaft und Umwelt“. Hier sind neben den alten (Schmuggel, Produktpiraterie, Außenwirtschaftsüberwachung) auch die neueren versammelt: Schwarzarbeits- und Terrorismusbekämpfung sowie die Geldwäschebekämpfung durch die Financial Intelligence Unit. Unter „Maritime Aufgaben“ fällt neben der Erhebung von Steuern und Zöllen der Schutz der EU-Außengrenze und der Umweltschutz auf See sowie die Hilfe in Notfällen; koordiniert im Maritimen Sicherheitszentrum in Cuxhaven mit sechs anderen Landes- oder Bundesbehörden mit maritimen Vollzugs- und Sicherheitsaufgaben.

Zweifel am vollzugspolizeilichen Charakter des Zolls werden unter der Überschrift „Spezialeinheiten Zoll“ ausgeräumt. Denn der Zoll verfügt über „Observationseinheiten“ (OEZ), die zu Recht mit den polizeilichen Mobilen Einsatzkommandos (MEK) verglichen werden. Und er verfügt über eine „Zentrale Unterstützungsgruppe“ (ZUZ) (vergleichbar den polizeilichen Spezialeinsatzkommandos, SEK), die den Schutz von Zöllner*innen bei gefährlichen Einsätzen gewährleisten sollen. Die ZUZ besteht seit 1994 und ist in die Bereiche „Zugriffsgruppe“ und „Operative Technikgruppe“ gegliedert. Im Jahr 2015 hat die ZUZ „85 Einsatzlagen im gesamten Bundesgebiet erfolgreich bewältigt“.

Sonstige Neuerscheinungen

Kleffner, Heike/ Meisner, Matthias (Hg.): Extreme Sicherheit. Rechtsradikale in Polizei, Verfassungsschutz, Bundeswehr und Justiz, Freiburg im Breisgau (Verlag Herder) 2019, 320 S., 24,00 EUR

Die Vorgänge und Personen, die in den 30 Beiträgen dieses Bandes vor- und dargestellt werden, sind für diejenigen, die die jüngere Zeitgeschichte verfolgen, nicht neu: Franco A., Nordkreuz, Prepper, Reichsbürger, NSU 2.0, die Verfassungsschutzpräsidenten Helmut Roewer und Hans-Georg Maaßen etc. Diese und weniger prominente Fälle ergeben einen Einblick in die personalen Verbindungen und die ideologische Nähe zwischen Sicherheitsapparaten und Rechtsextremismus. Genauer: Der Band präsentiert eher personen- und anlassbezogene Hinweise als „Einblicke“. Denn er stellt dar, was mehr oder weniger zufällig – durch journalistische Recherche, mitunter als Nebenfolge polizeilicher Ermittlungen, durch politische Initiative oder anwaltliche Beobachtungen – bekannt wurde. Und nur in Ansätzen enthält das Buch Hinweise auf die Verbindung der „Apparate“, denn die Beiträge bleiben überwiegend bei der Darstellung von bestimmten Vorgängen und von Personen (-ver­bin­dungen).

In ihrer Einleitung schreiben die Herausgeberin und der Herausgeber, das Ziel der Veröffentlichung sei eine „Bestandsaufnahme“ (S. 27) der „rechten Netzwerke im Staatsapparat“ (S. 13); die Veröffentlichung soll „eine dringend notwendige Debatte anstoßen“ und zugleich denjenigen den Rücken stärken, die sich der rechtsextremen Durchdringung in den Apparaten in den Weg stellen (S. 23). Im Hinblick auf die öffentliche Debatte wirkt das Dargestellte zunächst erschlagend-erschreckend: „erschlagend“, weil die meist von (investigativen) Journalist*innen verfassten Beiträge quer durch die Republik und über die Apparate hinweg Personen, Verflechtungen, rechtsextreme Überzeugungen und „Umtriebe“ nachzeichnen, die das Ausmaß des Problems erahnen lassen; „erschreckend“ ist das Dargestellte, weil es um die demokratische Integrität des harten Kerns der staatlichen Exekutive geht: Polizei, Geheimdienst, Justiz. Es wäre auch nicht belanglos, wenn die Bauämter oder die Gesundheitsverwaltung Nähe zum Rechtsextremismus aufwiesen, dass diese Nähe aber bei jenen Teilen des Staatsapparates aufgezeigt werden kann, die den demokratischen Staat und seine Rechtsordnung sichern sollen, das macht deren besondere Brisanz aus. Verschärft wird diese durch den Umstand, dass die politisch Verantwortlichen die Probleme entweder ignorieren oder verharmlosen.

Knapp zwei Drittel der Beiträge beschäftigen sich mit den im Untertitel genannten Apparaten, davon allein acht mit dem Komplex Rechtsextremismus in der Polizei. Die „Dienste“ sind allein durch den Blick auf die Verfassungsschutzbehörden vertreten, die Neugier in Richtung Bundesnachrichtendienst und Militärischem Abschirmdienst bleibt ungestillt (wie übrigens auch mit Rücksicht auf den Schwerpunkt dieses Heftes der Zoll). Diesen Darstellungen vorangestellt sind zwei übergreifende Zugänge: „Mit Sicherheit: Keine Einzelfälle“ überschreibt fünf Beiträge, die von einem Überblick über Soldaten und Polizisten als AfD-Parlamentarier bis zu den an Staatsdiener adressierten Aufruf zum Widerstand reichen. Im Abschnitt „Grauzonen“ bezieht sich das „grau“ auf den Verdacht, dass die Polizei rechtsextreme Angriffe vielleicht deshalb nicht mit dem nötigen Engagement verfolgt, weil sie mit den Angreifer*innen sympathisiert: etwa beim Angriff auf den Leipziger Stadtteil Connewitz im Januar 2016 oder die undurchsichtige Rolle der Berliner Polizei angesichts der Anschlagserie in Berlin-Neukölln.

Der Band beinhaltet so viele Beispiele des eigentlich Unglaublichen, dass ihm eine weite Verbreitung zu wünschen ist, damit die notwendige Debatte über den Zustand der Apparate Innerer Sicherheit geführt wird. Es ist ein aktueller Band, der in die Tagespolitik eingreifen will. Das ist sein Vorzug, aber auch seine Begrenzung. Denn der Band lässt die Lesenden etwas ratlos zurück. Zum einen sind die dargestellten Verflechtungen verwirrend, die selben Personen tauchen mehrfach in unterschiedlichen Zusammenhängen auf (so dass der Skeptiker fragt: Ist das Problem so klein, dass immer wieder dieselben Beispiele genannt werden müssen?), und unbestrittene Fakten stehen neben Vermutungen. Zum anderen wäre eine analysierende Perspektive auf das Dargestellte sicher hilfreich gewesen. Denn die verflochtene Durchdringung taucht in unterschiedlichen Formen auf: Weitergabe von Informationen, verschleppte Ermittlungen, milde Strafverfolgung, Nutzung dienstlicher Kenntnisse zu politischen Zwecken, rechtsextrem motivierte Handlungen innerhalb oder außerhalb des Dienstes, aktive Unterstützung oder Unterlassung, strafbare oder legale, unerwünschte oder institutionell vorgegebene Handlungen. Hier hätte eine Systematisierung ein wenig Klarheit schaffen können. Gerade auch im Hinblick auf die notwendigen Konsequenzen: Mit der Wiederbelebung der „Regelanfrage für Staatsdiener“ und damit mit der Stärkung des Verfassungsschutzes liebäugeln mehrere Beiträge. Andere favorisieren einen kulturellen Wandel in den Apparaten (innere Führung). Auch die Verharmlosungen durch die politisch Verantwortlichen wird mehrfach angesprochen, ohne dass deren Motive erörtert wurden. Kurz: Lesenswerte und politisch notwendige Einblicke in eine gefährliche Entwicklung, die weitere Beobachtung, Diskussion und Analyse erfordern.

Abdul-Rahman, Laila; Espín Grau, Hannah; Singelnstein, Tobias: Polizeiliche Gewaltanwendungen aus Sicht der Betroffenen. Zwischenbericht zum Forschungsprojekt „Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamt*innen“ (KviAPol). Ruhr-Universität Bochum, 17.9.2019, https://kviapol.rub.de

Eine bundesweite Medienresonanz, einschließlich der Kritik der polizeilichen Interessenvertreter, löste die Veröffentlichung dieses Zwischenberichts aus. Zum ersten Mal wird in Deutschland der Versuch unternommen, systematisch Licht in die Praxis polizeilicher Gewaltanwendung zu bringen. Für die Dienstherren der Polizei wäre es durchaus einfacher, entsprechende Daten zu produzieren: Man führe nur entsprechende Meldepflichten ein: Schlagstockeinsatz, Schläge und Tritte, sonstige physische Gewalthandlungen im Dienst. Einen solchen Meldedienst gibt es nicht, er könnte mit der „Sicht der Betroffenen“ abgeglichen werden und Hinweise auf das Verhältnis von illegaler und legaler Gewalt durch die Polizei geben. Die politisch Verantwortlichen haben kein Interesse daran, Wissen über die Wirklichkeit und die Abgründe des staatlichen Gewaltmonopols zu erzeugen.

Umso wichtiger ist das Projekt „KviA-Pol“, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert wird. Der Zwischenbericht wertet die Daten aus, die zum Jahreswechsel 2018/19 erhoben wurden. Im zweiten Teil des Projekts sollen diese Befunde mit den Aussagen aus Expert*inneninterviews zusammengeführt werden.

Angesichts seiner methodischen Anlage (Online-Befragung im Schneeball-Verfahren mit insgesamt 3.375 ausgewerteten Fragebögen) betonen die Autor*innen mehrfach, dass es sich um keine repräsentative Studie handelt, die Befunde deshalb nicht verallgemeinert werden können. Trotz der in Richtung und Ausmaß unbekannten Verzerrungen, gibt die Erhebung wichtige Hinweise für die Realität polizeilicher Gewaltanwendungen. Da es sich um eine Opferbefragung handelt, bleibt auch unbestimmt, inwiefern es sich um rechtlich zulässige oder unzulässige Gewalt handelte. In 326 Fragebögen hatten die Betroffenen Kenntnis über die juristische Würdigung der Gewaltanwendung: 93 Prozent der Verfahren waren eingestellt worden, nur bei sieben Prozent wurde Anklage erhoben oder ein Strafbefehl erlassen. Hier bestätigt die Studie einen bekannten Sachverhalt – freilich ohne klären zu können, ob vorschnelle Anzeigen der Opfer oder die Nachsichtigkeit der Justiz zur geringen Anklagequote führten.

Im Hinblick auf die Merkmale polizeilicher Gewaltanwendung ergeben die Fragebögen folgendes Bild: Mehr als die Hälfte (55 Prozent) der Gewalthandlungen fanden im Kontext von Demonstrationen und politischen Veranstaltungen, ein Viertel im Zusammenhang mit Sport- und anderen Großveranstaltungen statt; die restlichen 20 Prozent verteilten sich auf verschiedene Situationen (u.a. Einsätze bei Konflikten). 72 Prozent der Antworten stammen von Männern, 71 Prozent besitzen die Fachhochschul- oder Hochschulreife, aber nur 16 Prozent verfügen über einen Migrationshintergrund. Diese Zusammensetzung variiert bei den drei Kontexten der Gewaltausübung. Insgesamt deutet sie aber darauf hin, dass die Untersuchung das Ausmaß von Polizeigewalt eher unter- als überschätzt, weil nicht plausibel ist, dass hochqualifizierte Inländer die am stärksten von Polizeigewalt betroffene Gruppe ist. Die Gewaltanwendungen geschahen überwiegend im öffentlichen Raum. Sie resultierten überwiegend aus einer schnellen Eskalation des Geschehens und führen bei 71 Prozent der Befragten zu physischen Verletzungen (davon 19 Prozent mit nach eigenen Angaben schweren Verletzungen, die bei insgesamt 4 Prozent zu bleibenden Schäden führten). Dabei erleiden diejenigen, die nicht im Rahmen von Demonstrationen oder Großveranstaltungen Opfer wurden, die schwersten Beeinträchtigungen.

Schließlich enthält der Bericht Aussagen zum Verhältnis von Hell- und Dunkelfeld polizeilicher Gewaltanwendung. Lediglich 14 Prozent der Befragten hatte die Gewaltanwendung anzeigt, d.h. 86 Prozent sind im Dunkelfeld offizieller Statistiken geblieben. Da die Autor*innen vermuten, dass bei denjenigen, die sich an der Befragung beteiligt haben, die Bereitschaft, das Erlebte auch anzuzeigen, nicht geringer ist als bei allen Gewaltopfern, schätzen sie das Dunkelfeld auf das fünf- bis sechsfache des angezeigten Hellfeldes.

Der Zwischenbericht liefert zunächst eine Beschreibung. Es bleibt abzuwarten, welche Schlussfolgerungen sich ergeben, wenn die Befunde mit den Expert*inneninterviews in Beziehung gesetzt werden. (alle: Norbert Pütter)

Schulz, Sara: Die freiheitliche demokratische Grundordnung. Ergebnis und Folgen eines historisch-politischen Prozesses, Weilerswist (Velbrück Wissenschaft) 2019, 404 S. 49,90 EUR

Die „freiheitliche demokratische Grundordnung“ (fdGO) soll – nicht nur nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts – diejenigen Grundprinzipien darstellen, die für einen freiheitlichen Verfassungsstaat und die Demokratie schlechthin unentbehrlich sind. Durch Partei- und Vereinsverbote, vor allem aber durch den Verfassungsschutz und die exekutive Definitionshoheit darüber, wer sich auf dem Boden der fdGO und damit im Rahmen der legitimen politischen Auseinandersetzung bewegt, nimmt sie einen wesentlichen Stellenwert im politischen Diskurs der Bundesrepublik ein; zumeist jedoch als Grundlage denn als Gegenstand der politischen Auseinandersetzung. Dass dieser vermeintliche „Wesenskern“ keineswegs überhistorisch und unveränderlich über aller Politik schwebt, sondern vor allem dazu dient, den Staat und die herrschende Ordnung gegen emanzipatorische Bestrebungen abzusichern, zeigt die Politikwissenschaftlerin Sarah Schulz in ihrer Dissertation eindrucksvoll auf. Sie geht dem Paradox nach, dass jener Begriff, der den Kern eines liberalen demokratischen Rechtsstaats darstellen soll, vor allem dazu dient, politische Akteur*innen zu überwachen, politische Teilhabe von dem Bekenntnis zu einer sehr spezifischen Form des bürgerlichen Staates abhängig zu machen und legale Kritik als illegitim zu kennzeichnen und zu bekämpfen.

Dazu zeichnet Schulz zum einen den Entstehungszusammenhang des Konzeptes der „wehrhaften Demokratie“ in der Bundesrepublik nach. Konzeption und inhaltliche Bestimmung der fdGO standen keineswegs von vornherein fest oder sind gar zentral im Grundgesetz selbst angelegt. Die geforderte Wehrhaftigkeit richtete sich schon während der Beratungen zum Grundgesetz weniger gegen autoritäre Tendenzen im Staat selbst, sondern zusehends gegen eine vermeintliche kommunistische Bedrohung: Die Freiheitlichkeit der Demokratie sollte auch als Absage an eine „Volksdemokratie“ sowjetischer Prägung verstanden werden. Die Konkretisierung des Begriffs, ihre Überhöhung zum überhistorischen Wesenskern der Verfassung, vor allem aber die paradoxe Tatsache, dass die Grundprinzipien einer liberalen Verfassung nicht staatliche Akteur*innen, sondern ihre Bürger*innen binden, hat ihren Ursprung im antikommunistischen politischen Strafrecht der frühen Bundesrepublik, wie Schulz an Beispielen aus den 50er Jahren ausführlich belegt.

Die Ursachen dieser Entwicklung, die bis heute dazu beiträgt, dass nicht eine autoritäre Aushöhlung und Transformation des Staates als zentrale Bedrohung für Demokratie und Rechtsstaat angesehen werden, sondern auf Grundlage der unsäglichen Extremismusdoktrin die Gefahr für die Demokratie vor allem links gesucht wird, sieht Schulz in institutionellen und personellen Kontinuitäten, die sie bis zum Methodenstreit der Weimarer Staatsrechtslehre zurückverfolgt.

In der Bundesrepublik habe sich die „zählebige Nachkriegslegende“ (Ingeborg Maus) durchsetzen können, dass die – bald wieder auf ihren Posten sitzenden – Funktionseliten in Justiz und Exekutive im NS lediglich auf Grundlage eines naiven Rechtspositivismus Recht und Gesetz angewendet hätten. Diese (auch der Selbstexkulpation dienenden) Vorstellung ersetzt die Analyse der strukturellen Ursachen des NS durch die Betonung des Scheiterns der Weimarer Demokratie. Dem hält Schulz entgegen, dass gerade die Justiz im NS  – mit ihrem radikalen Antipositivismus und der Ablehnung der Formalität des Rechts in der Tradition der antiliberalen deutschen Staatsrechtslehre – ein „sub­stanzhaltiges Recht“ einforderte, das sie gegen eine „funktionalistische Wertneutralität“ (Carl Schmitt) des liberalen Verfassungsdenkens ins Felde führte. In dieser Tradition begründet sieht Schulz eine „materiale Rechtsstaatskonzeption“, der auch das Bundesverfassungsgericht im NPD-Urteil von 2017 noch folgt, wenn es betont, dass die fdGO eine wertgebundene Ordnung sei. Da aber das Emanzipationsversprechen des Rechts gerade in der – durch die abstrakte Gleichheit in der politischen Auseinandersetzung eröffneten – Möglichkeit auch grundlegender gesellschaftlicher Veränderung besteht, führt eine Verpflichtung politischer Akteur*innen auf bestimmte Inhalte zu deren Integration bzw. Inkorporierung in den Staat innerhalb der Grenzen des bereits Vorherbestimmten und folglich ihrer politischer Beschränkung. Wenn zugleich dem Inlandsgeheimdienst, trotz seines Agierens im NSU-Komplex und der Causa Maaßen, die Definitionshoheit über diese Grenzen zugestanden werden und weiterhin eine Kompetenzerweiterung dieser Exekutive als ‚Demokratieschutz‘ verkauft werden kann, so ist Schulz in ihrer theoretisch fundierten, wissenschaftlich und politisch so klugen wie streitbaren Arbeit in ihren zentralen Schlussfolgerungen zu folgen: Die fdGO ist vor allem ein flexibel anwendbares Instrument zur Einhegung demokratischen Handelns, politisches Handeln aber muss sich unabhängig von der Definitionsmacht staatlicher Behörden entfalten. (Tom Jennissen)

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