Alltagspolizieren – Zugriff & Rückzug: Eine Einleitung

von Jenny Künkel und Norbert Pütter

Wo und wie greift Polizei in den Alltag der Menschen ein – oder auch nicht? Wem dient die Polizei als Ressource, wer ruft die Polizei? Aber auch: Wo wird sie ungefragt aktiv, gegenüber wem entfaltet sie besonderes Engagement? Im Ergebnis zeigt sich: Was die Polizei für den bürgerlichen Alltag bedeutet, hängt deutlich ab von der sozialen Position der Polizierten.

Über den Alltag zumindest der Landespolizeien wissen wir Einiges: Jene Forscher*innen, die Einblick erhalten, dokumentieren z.B. die immer noch maskulinistisch-rassistische Cop Culture, Praktiken der Kriminalprävention oder die Neoliberalisierung und Digitalisierung des Arbeitsalltags.[1] Obgleich sich der Feldzugang einfacher gestaltet, ist seltener Thema, wie Polizei den Alltag von Polizierten formt. Und wenn, dann geht es meist um die gesellschaftlichen Ränder.[2] Dies ist kein Zufall. Gerade beim Polizieren des Alltags zeigen sich Machtverhältnisse besonders deutlich. Die weiß-deutsche Mittel- und Oberschicht und politische Mitte dürfte im Alltag – also in ihren Routinen, dem täglichen Leben jenseits der Ausnahmezustände von Diebstahl, Einbruch oder dem Auffliegen eigener Regelbrüche – kaum in Kontakt mit den Uniformierten kommen. Bevor „Corona“ den alltäglichen Polizeizugriff erweiterte[3], mag dies am ehesten bei Verkehrskontrollen, den Räuber-und-Gendarm-Spielen ihrer Kinder oder der morgendlichen Zeitungslektüre der Fall gewesen sein. Ganz anders sieht der Kontrollalltag von jenen aus, die mangels privater Rückzugsräume erhebliche Teile ihres Lebens auf die Straße verlegen (müssen), deren Aussehen oder Praktiken im öffentlichen Raum von herrschenden Normen abweichen oder die sich extrem prekär durch das Leben schlagen. Drogenszenen, Obdachlose oder People of Colour, darunter v.a. junge Männer, aber selbst Familien, wenn sie z.B. im Park grillen, unterliegen dem permanenten Zugriff der Institutionen, die für die Herstellung öffentlicher Ordnung zuständig sind: Polizeien, Ordnungsämter sowie z.B. in Bahnhöfen auch private Sicherheitsdienste. Manch eingefleischtem Fußballfan begegnet die Polizei noch bevor er zum Spiel das Haus verlässt in Form der ‚Gefährderansprache‘.[4] Auch wer politisch abweicht, dem dringt die Staatsmacht mit Telefonüberwachung, Trojanern oder verdeckten Ermittler*innen in die Privat- und bisweilen gar die Intimsphäre.[5]

Zugleich verhindern oder erschweren Marginalisierungsprozesse, dass Ordnungskräfte als Alltagsressource genutzt werden: Wer z.B. fürchten muss, aus ausländerrechtlichen Gründen abgeschoben zu werden oder als Sexarbeiter*in bei sexueller Gewalt wenig Glauben zu erhalten, ruft kaum die Polizei. Und wenngleich dies für Deutschland erst erforscht werden muss, stoßen z.B. Migrant*innen, die in den USA, selbst wenn sie die Polizei rufen, auf mangelnde Sprachkenntnisse und kulturelle Sensibilitäten, was geringe Verurteilungsraten bei Gewalttäter*innen nach sich zieht.[6] Umgekehrt schlagen sich rassistische Denkweisen dortiger Weißer nicht nur darin nieder, dass überproportional banale Alltagshandlungen Schwarzer an die Polizei gemeldet werden, sondern Weiße profitieren bisweilen sogar strategisch vom strukturellen Rassismus der Strafverfolgungsbehörden.[7]

Öffentlich / privat – Verantwortungen & Zugriffe

Die Ungleichheiten des Alltagspolizierens verlaufen entlang von Ethnie, Nationalität, Klasse, Geschlecht und weiteren Herrschaftsverhältnissen. Sie sind aber zugleich eng mit der Konstitution von Öffentlichkeit und Privatheit verknüpft. Seit der bürgerlich-kapitalistischen Herausbildung von Privateigentum und öffentlicher Sphäre verhandelt die Frage „Was ist öffentlich, was privat?“ immer auch gesellschaftlich ungleich verteilte Möglichkeiten: Wer kann in welchem Bereich unerwünschte staatliche Zugriffe abwehren und wer kann wo erwünschte staatliche Verantwortung einfordern?[8]

In diesem Sinne ist auch die Frage, für welche (Alltags-)Konflikte die Polizei zuständig ist und für welche andere öffentlich finanzierte oder private Institutionen (wie Soziale Arbeit, Familie oder Communities), stets umkämpft.[9] So forderten beispielsweise Feministinnen seit den 1970er Jahren vehement ein, dass „häusliche Gewalt“ kein Privatproblem ist, und die Polizei sich zuständig fühlen sollte. Mit „Erfolg“: die Verschiebung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse verdichtete sich z.B. in einigen geschulten Beamt*innen auf den Revieren und spezialisierten Dienststellen bei Landeskriminalämtern, die das Thema Hand in Hand mit Frauenhäusern bearbeiten.[10]

Nicht zufällig schätzen jene Communities, welche die Polizei in ihren Vierteln vor allem als Kontrollmacht oder gar als Gefahr erleben und deren vor allem junge männliche Bevölkerung ohnehin überproportional im Gefängnis eingesperrt ist, den erweiterten polizeilichen Zugriff auf die Privatsphäre weniger. So kritisierten etwa Schwarze Feminist*innen in den USA den Ruf nach der Polizei zu Lösung von intimite partner violence als weiße Mittelschichtsperspektive, die die Gefahren für Schwarze durch Polizei und Gefängnis negiert, und sie beförderten alternative Lösungen zum Umgang mit Alltagskonflikten und Gewalt wie community accountablity und transformative justice (die allerdings auch nicht machtfrei sind).[11]

Zu Leibe rücken und Rückzüge der Polizei

Bezüglich der Frage, für welche Alltagsprobleme die Polizei angerufen wird, treffen in der jüngeren Vergangenheit widersprüchliche Trends aufeinander. Einerseits führten Prozesse der Individualisierung dazu, dass heute eher formale Institutionen wie Polizei oder Soziale Arbeit für die Konfliktlösung zuständig sind als informelle, wie Familie oder lokale Gemeinschaft. Dabei ist die Polizei als Vertreterin des Gewaltmonopols als einzige Institution rund um die Uhr erreichbar und daher zentrale Ansprechpartnerin.

Andererseits zog sich die Polizei mit den Reformen der 1970er Jahre – Verstaatlichung der letzten Gemeindepolizeien (1975), Auflösung von Revieren, Technisierung – zunächst aus den Stadtvierteln zurück. Damit entfernte sie sich auch vom Alltag der breiten Bevölkerung. Doch bald schon diente, ausgehend von US-amerikanischen Diskursen, das Narrativ, dass Notruf, Computer und Auto statt Fußstreifen zum Verfall von Nachbarschaften beigetragen hätten, zur Begründung neoliberaler Polizeireformen.[12] Schon in den 1970er Jahren waren die „Kontaktbereichsbeamten“ oder „Revierpolizisten“ als Kompensation für den „Rückzug aus der Fläche“ gedacht. In den nachfolgenden Organisationsreformen – bei denen es regelmäßig um die Bildung größerer Einheiten und Einzugsbereiche ging – wurde diese Linie fortgesetzt: etwa durch die Einrichtung von dezentralen Polizeisprechstunden, durch Mobile Wachen, durch den digitalen Zugang als „Internetwache“ oder die Etablierung von spezifischen Zuständigkeiten im Rahmen von „Sicherheitspartnerschaften“ oder „Kooperationsvereinbarungen“.

Seit den 1990er Jahren findet die alltagsrelevante Ausdehnung polizeilicher Aktivitäten unter präventiver Zielsetzung statt. War die traditionelle polizeiliche Kriminalprävention auf Aufklärung und Beratung beschränkt – so wie das im „Programm polizeiliche Kriminalprävention der Ländern und des Bundes (ProPK)“[13] weiterhin betrieben wird –, so sind die Aktivitäten in den lokalen kriminalpräventiven Räten[14] sowie in den vielfältigen, je nach Bundesland variierenden Ordnungs- oder Sicherheitspartnerschaften Kennzeichen der neueren Entwicklung. In der Selbstdarstellung zurückgenommen – Polizei versteht sich als ein Partner unter vielen –, findet so eine Veralltäglichung und Normalisierung polizeilicher Präsenz statt.

So rückte die Polizei wieder verstärkt näher an die Bürger*innen und versuchte zugleich, die „Zivilgesellschaft“ und ihre Institutionen in das plurale Polizieren einzubinden. Die präventive Orientierung vergrößert das Risiko des ungewollten Polizeizugriffs für jene Gruppen, die ohnehin typischerweise im Visier der Polizei sind.[15]

Gleichwohl kann keineswegs von einem ungebrochenen, kontinuierlichen Vordringen der Polizei in den Alltag der Menschen und einer ständigen Ausweitung von Aufgaben die Rede sein. Vielmehr ist gleichzeitig das Bestreben erkennbar, dass sich die Polizei von manchen alltäglichen Belästigungen entlasten möchte. Die Aufrechterhaltung der „öffentlichen Ordnung“ aus den Polizeigesetzen zu streichen, ist über Anfänge in einigen sozialdemokratisch regierten Bundesländern nicht hinausgekommen.

Aber in der Verwaltungspraxis kam es zu deutlichen Verschiebungen: Hierzu zählt insbesondere der (Wieder-)Aufbau uniformierter Kräfte in den Ordnungsämtern,[16] die nun mit der Verfolgung und Ahndung von Ordnungswidrigkeiten befasst werden konnten – von der Kontrolle des ruhenden Straßenverkehrs bis zur Einhaltung kommunaler Satzungen. Während die Aufwertung der Ordnungsämter (auch anderer originär zuständiger Ämter) dazu führen sollte, dass die Polizei ihre Ressourcen auf das verwenden kann, was sie als ihre „originäre“ Aufgabe definiert, wurden auch neue Organisationsformen geschaffen, die den professionalisierten Polizeiapparat von einfachen Kontrollaufgaben (und damit von der Sichtbarkeit im Alltag) entlasten sollten, indem einfache Kontrollaufgaben ausgelagert wurden. Dabei reicht das Spektrum von den Quasi-Polizeistreifen der „Sicherheitpartner“in Brandenburg bis zu den „Sicherheitswachten“ in Bayern und Sachsen.

So zeigt sich insgesamt eine zweigleisige Entwicklung: Professionalisierte und spezialisierte Polizeiarbeit, die sich den (Kriminalitäts-) Bereichen widmet, die je im Fokus stehen, begleitet von einer präventiven Ausstrahlung auf verschiedene soziale Sachverhalte auf der einen Seite; und gleichzeitig der Versuch, die niederen Arbeiten handwerklicher Kontroll­arbeiten an andere abzugeben.

Im Hinblick auf die gesellschaftlichen Wirkungen zeigt sich ein komplexes Bild. Denn der institutionelle Kontrollmix (spezialisierte Strafverfolgung, spezifische Präventionsarrangements, niedrigschwellige Kontrollformen) entfalten für unterschiedliche soziale Gruppen unterschiedliche Wirkungen: Wenn Schulen erlassmäßig gezwungen werden, Delikte im schulischen Kontext zur Strafanzeige zu bringen, dann wird die Kriminalisierungsspirale frühzeitig in Gang gesetzt. Wenn lokale Partnerschaften Innenstädte wieder lebenswerter machen wollen, dann führt das zur Verdrängung von sozialen Randgruppen: Obdachlose, Drogenkonsumierende, jugendliche Subkulturen. Und wenn ethnisch definierte Minderheiten besonderen Kontrollen unterworfen werden, dann verfestigt das ihre gesellschaftliche Randständigkeit.[17]

Widerstände gegen polizeiliche Einmischung

Dieser ungleich ausgeweitete polizeiliche Zugriff auf den Alltag der Bevölkerung ist umkämpft. Riots entzünden sich häufig an als unzumutbar erlebten Polizeieingriffen in das tägliche Leben. So starteten etwa die jüngsten Auseinandersetzung in Stuttgart, nachdem sich die Polizei in gemütliches Herumsitzen und Kiffen, mithin den Alltag von Jugendlichen, einmischte. Noch deutlicher wird dies, wo Alltagshandlungen zur Lebensgefahr werden – Stichwort „driving while black“, „black lives matter“ etc.

Wenn aktuell in den USA und weltweit dazu aufgerufen wird, der Polizei die Finanzierung zu entziehen (Defund the police!), dann geht es genau um diese Fragen: Wen schützt die Polizei vor was? In welchem Maße geht es bei Polizeiarbeit überhaupt um Gewalt oder andere Schäden? Wo handelt es sich allein um Störungen des Normalitätsverständnisses gesellschaftlich privilegierter Schichten? Und welche anderen Institutionen und Politiken – von Wohnungsbau über Drogenhilfeeinrichtungen bis zu einem bedingungslosen Grundeinkommen – könnten Alltagskonflikte und Gewalt besser lösen?[18]

Alltägliche Unsichtbarkeit

Die Frage nach der „Polizei im Alltag“ erschöpft sich nicht in deren sichtbarem Erscheinen. Die moderne Polizei ist auch da, wenn sie nicht physisch in Erscheinung tritt. Das gilt in einem doppelten Sinne: Zunächst sehr praktisch beschäftigt sich Polizei mit sozialen Sachverhalten, ohne dass die Betroffenen davon wissen. Ermittlungsverfahren werden ohne Mitteilung an die Tatverdächtigen eröffnet, Vorfeldermittlungen geschehen ohne Benachrichtigungen, das Arsenal verdeckter Methoden ist durch ihre Nichtwahrnehmbarkeit definiert. Man mag einwenden, hier handele es sich nicht um den bürgerlichen Alltag, sondern die seltenen kriminellen Ausnahmen. Aber in dem Maße, in dem die geheimen Methoden ausgebaut und die Strategien der Verdachtsschöpfung betrieben werden, wird der nicht kriminalisierte Alltag zum polizeilichen Gegenstand. Und dies gilt wiederum für bestimmte soziale Milieus oder Gruppen, die der verdichteten Überwachung ausgesetzt sind.

Die Alltagsrelevanz der Polizei besteht aber auch in einem übertragenen Sinne. Denn als staatliches Versprechen, Sicherheit notfalls mit Gewalt zu gewährleisten, überwölbt sie den Alltag: Mitunter auch als Versprechen für die sozial Schwachen und Randständigen, auch ihre persönliche Sicherheit zu gewährleisten, durchweg hingegen als eine Einrichtung zur Aufrechterhaltung des Status quo ungleicher Lebens- und Entfaltungschancen.

[1]    vgl. Hunold, D.: „Wer hat jetzt die größeren Eier?!“ – Polizeialltag, hegemoniale Männlichkeit und reflexive Ethnografie, in: Howe, C.; Ostermeier, L. (Hg.): Polizei und Gesellschaft, Wiesbaden 2019, S. 47-69. Caveney, N.; Scott, P.; Williams, S.; Howe-Walsh, L.: Police reform, austerity and ‘cop culture’: time to change the record?, in: Policing and Society 2019, H. 2, S. 1-16; Eubanks, V.: Automating inequality. How high-tech tools profile, police, and punish the poor, New York 2018
[2]   z.B. Stuart, F.: Down, Out, and Under Arrest. Policing and Everyday Life in Skid Row, Chicago 2016
[3]   vgl. Aden, Bosch und Fährmann in diesem Heft
[4]   vgl. Furmaniak in diesem Heft
[5]   so etwa im Falle der verdeckten Ermittlerinnen, die in Hamburg Sex mit den Überwachten hatten, vgl. „Die Spionin, die ich liebte“, Zeit v. 29.8.2015
[6]   Aguilar-Hass, G. et al. (2005): Calls to Police and Police Response: A Case Study of Latina Immigrant Women in the USA, in: International Journal of Police Science & Management 2005, H. 4, S. 230–244
[7]   McNamarah, C.: White Caller Crime: Racialized Police Communication and Existing While Black, in: Michigan Journal of Race and Law 2019, H. 2, S. 335-415
[8]   vgl. Belina, B.: Ending Public Space as We Know It, in: Social Justice 2011, H. 1-2, S. S. 13–27
[9]   Cremer-Schäfer, H.: Zur Aktualität der Etikettierungsperspektive als Ideologiekritik. Ein Beitrag zur Debatte um kritische Polizeiforschung, in: sub\urban 2014, H. 2, S. 65–70
[10] vgl. Haller in diesem Heft
[11]  vgl. Piening/Künkel in diesem Heft
[12] Künkel, J.: Die Verschiebung lokaler Kräfteverhältnisse durch Politiktransferdiskurse, in: ACME 2018, H. 1, S. 17–48
[13] https://www.polizei-beratung.de/startseite-und-aktionen
[14] Schreiber, V.: Fraktale Sicherheiten, Bielefeld 2011
[15] vgl. Bürgerrechte & Polizei/CILIP 86 (H. 1/2007), Schwerpunkt „Prävention und ihre Abgründe“
[16] s. Pütter, N.: Streifen der Ordnungsämter, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 66 (H. 2, 2000), S. 48-50; zu den aktuellen Rechtsgrundlagen: Balzer, C.: Kommunale Ordnungsdienste, Wiesbaden 2019
[17] Fassin, D.: Enforcing Order: An Ethnography of Urban Policing. Cambridge 2013
[18] vgl. www.cilip.de/tag/defund-the-police

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