Zum Schwerpunkt
Aus der Kriminologie ist der Hinweis auf „crime as a rare event“ bekannt: Kriminalität ist der seltene Ausnahmefall eines (rechts-)konformen Alltags. Analog könnten man von der Polizei als einer „seltenen Institution“ sprechen, die nur in wenigen Fällen und Konstellationen in Erscheinung tritt, aber für den gesellschaftlichen Alltag insgesamt ohne Bedeutung ist. So beschreibt das bürgerlich-liberale Modell das Verhältnis von Zivilgesellschaft und dem in der Polizei institutionalisierten staatlichen Gewaltmonopol: Nur wenn sie gerufen wird, nur wenn geschützte Rechtsgüter in Gefahr sind oder geschädigt wurden, nur dann mischt sich die Polizei in „die Gesellschaft“ ein. Dieses „Modell“ war schon immer ideologiegetränktes Wunschdenken. Denn für unterschiedliche soziale Gruppen unterschied sich die Alltagsrelevanz der Polizei schon immer erheblich. Und dass der Verweis auf eine notfalls gewalthaft-polizeiliche „Konfliktbereinigung“ gesellschaftliche Konfliktniveaus auch latent und langfristig beeinflusst, deutet darauf hin, dass der bürgerliche Alltag bereits durch die Existenz der Institution „Polizei“ stärker beeinflusst wird, als uns gemeinhin bewusst ist. In der jüngeren Entwicklung haben diese Probleme eher zu- als abgenommen. Einerseits sind Instrumente entwickelt worden, die die Beeinflussung und Beeinträchtigungen spezifischer Gruppen erlauben. Andererseits hat der explizit kriminalpräventive Anspruch dazu geführt, dass die Polizei sich in viele kriminal- und sicherheitsrelevante Kontexte einmischt, die unterhalb der traditionellen Eingriffsschwellen liegen. Und schließlich gibt es auch den weit verbreiteten „Ruf nach der Polizei“, der gleichermaßen Verunsicherung wie Unfähigkeit zur zivilen Konfliktlösung indiziert.
Insgesamt sind die angedeuteten Probleme – zumindest für die deutsche Polizei – wenig untersucht. Bereits zu der schlichten Frage, zu welchen Anlässen die Bürger*innen die Polizei rufen, gibt es seit Anfang der 1990er Jahre keine einzige Untersuchung. Es gibt auch keine Untersuchung, wie das kriminalpräventive Engagement der Polizeien wirkt: Beeinflusst die Partnerschaft einer Schule mit „ihrem“ Polizeirevier die kriminelle Karriere oder Nicht-Karriere der Schüler*innen? Oder verbessert sie das Image und die Akzeptanz der Polizei (nur) bei denen, die auch ohne Polizei „anständig“ leben würden? Es gibt keine empirischen Antworten auf diese Fragen. Und selbst Bilanzen von gewünschten und unerwünschten Wirkungen polizeilicher Interventionen bei bestimmten Gruppen sind selten und fallen eher am Rande an. Insofern können im Folgenden nur spärliche Hinweise gegeben werden.
Dollinger, Bernd; Schmidt-Semisch, Henning (Hg.): Sicherer Alltag? Politiken und Mechanismen der Sicherheitskonstruktion im Alltag, Wiesbaden (Springer VS) 2016, 304 S., 42,99 Euro (e-book), 54,99 Euro (Print)
Auch wenn dieser Band mehr in den Blick nimmt als die Polizei, so lenken die Herausgeber in ihrer Einleitung die Aufmerksamkeit zunächst auf jene Veränderungen, die das Verhältnis von „Alltag“ und „Sicherheit“ (einschließlich der mit ihr verbunden Institutionen, Vorgehensweisen und Versprechen) nachhaltig veränderten: (a) „Versicherheitlichung“ als die Tendenz, verschiedene soziale Phänomene als „Probleme der inneren Sicherheit“ zu re-interpretieren und (b) die Wandlung zur „Sicherheitsgesellschaft“, die glaubt, Risiken frühzeitig aufspüren zu können, indem sie versucht, „immer größere Mengen an Daten zu generieren, anzusammeln und auszuwerten, so dass eine Durchdringung des Alltags nicht mehr als Dystopie, sondern als Realität erscheint“. Die Probleme, so die Autoren, beginnen jedoch jenseits dieser Gegenwartsdiagnose. Denn die Rede von der Bedrohung des Alltags durch die Sicherheitsagenten unterstelle einen „heilen Alltag“, der sowohl historisch als systematisch eine Fiktion sei. Statt pauschaler Diagnosen plädieren die Verfasser für die genaue Untersuchung einzelner gesellschaftlicher Bereiche, in denen das „wechselseitige Konstitutionsverhältnis“ zwischen Sicherheitserwartungen und -versprechen thematisiert werden müsse. Weil der Band nicht auf Polizei und polizeiliches Handeln ausgerichtet ist, liefern seine weiteren Beiträge wenig Hinweise für unser Schwerpunktthema. Allein Bernd Belinas Aufsatz mit dem programmatischen Titel „Der Alltag der Anderen“ zeigt die Richtung in die gefragt werden muss, wenn die Wirkung der Polizei auf den Alltag von Menschen betrachtet werden soll. Statt von „racial profiling“ sollte zutreffender von „institutionellem Rassismus“ gesprochen werden, weil dieser nicht allein die einzelne Kontrolle, sondern deren Kontexte thematisiert.
Hunold, Daniela; Dangelmaier, Tamara; Brauer, Eva: Soziale Ordnung und Raum – Aspekte polizeilicher Raumkonstruktion, in: Soziale Probleme 2020 (https://doi.org/10.1007/s41059-020-00070-1)
Der Aufsatz präsentiert Ergebnisse des an der Deutschen Hochschule der Polizei angesiedelten Forschungsprojekts „Die Konstruktion von Räumen im Kontext von Sicherheit – Raumwissen der Polizei“. Wie bei Bernd Belina ergeben sich die Wirkungen auf den Alltag der von Polizei Betroffenen nur indirekt. Denn mithilfe ethnografischer Methoden wird die polizeiliche Konstruktion ihres Gegenübers erforscht, während deren Alltagsrelevanz für die Subjekte selbst nicht erhoben wird. Anhand von Interviewausschnitten können die Autorinnen verdeutlichen, dass die Polizei „den großstädtischen Raum … mit den Kategorien Geschlecht, Klasse und Ethnie konstituiert und darauf aufbauend ihr Handeln ausrichtet“. Die aus den polizeilichen Raumkonstruktionen folgenden Maßnahmen wirkten ihrerseits auf die lokalen Diskurse und würden „mit Ein- und Ausschlussprozessen“ verbunden. Sie böten „die Chance, sich auf verschiedene Bereiche des gesellschaftlichen Lebens auszuwirken“. Wenn wenig später auf die „Diskussion um Trinker und Suchtkranke in den Innenstädten“ verwiesen wird, dann wäre es wohl angemessener, nicht von „Chance“, sondern von „Gefahren“ für bestimmte soziale Gruppen zu reden.
Bernard, Christiane: Frauen in Drogenszenen. Drogenkonsum, Alltagswelt und Kontrollpolitik in Deutschland und den USA am Beispiel Frankfurt am Main und New York City, Wiesbaden (Springer VS) 2013, 345 S., 35,96 Euro (e-book), 49,99 Euro (print)
Schrader, Kathrin: Drogenprostitution. Eine sektionale Betrachtung zur Handlungsfähigkeit drogengebrauchender Sexarbeiterinnen, Bielefeld (transkript) 2013, 452 S., 34,80 Euro
Dies sind zwei in doppelter Weise exemplarische Veröffentlichungen. Einerseits stehen sie beispielhaft für die vielen sozialen Gruppen und Milieus, denen die Polizei besondere Aufmerksamkeit widmet. Sie betreffen einen Graubereich zwischen formeller Kriminalisierung (Drogenhandel, Förderung der Prostitution) und Legalisierung (Drogenkonsum, Ausübung der Prostitution) auf der einen und zwischen gesellschaftlicher Unerwünschtheit und unterstelltem sicherheitsgefährdendem Potenzial auf der anderen Seite. Insofern müssten hier auch Hinweise zu Veröffentlichungen zu migrantischen Jugendlichen, zu ethnischen Minderheiten, zu Obdachlosen oder zu Fußballfans oder zu politisch verdächtigen Gruppen stehen – sofern es entsprechende Untersuchungen zur Alltagsrelevanz polizeilicher Aufmerksamkeit gäbe. Exemplarisch sind die beiden genannten Veröffentlichungen aber auch, weil ihr Fokus nicht auf den Wirkungen polizeilicher Strategien liegt, sondern diese nur als eine unter vielen Konstitutionsbedingungen des Alltags benannt werden. Aber selbst mit dieser Einschränkung wird in beiden Studien deutlich, dass die konkreten polizeilichen Strategien – einschließlich des lokalen Kontrollkontextes – den Alltag von Drogenuser*innen und Prostituierten strukturieren. Auch wenn in deutschen Großstädten Arrangements, in denen polizeilich-ordnungsbehördliches Einschreiten und soziale Hilfe verbunden werden, üblich sind, so sind die Wirkungen für die Betroffenen verheerend. Am exekutiven Ende der Prohibitionspolitik halten sie den Verfolgungs- und Kontrolldruck aufrecht, erschweren gesundheitlich gebotene Interventionen oder – wie im Fall der Prostituierten – verhindern die Solidarisierung der Sexarbeiter*innen.
Fingerlin, Berthold; Knapp, Dominik: Sicherheitsarbeit am Beispiel Freiburg im Rahmen einer „Sicherheitspartnerschaft“ zwischen Land und Stadt, in: Barthel, Christian (Hg.): Polizeiliche Gefahrenabwehr und Sicherheitsproduktion durch Netzwerkgestaltung, Wiesbaden (Springer Gabler) 2019, S. 101-119
Bescherer, Peter; Haverkamp, Rita; Lukas, Tim: Das Recht auf Stadt zwischen kommunaler Sparpolitik und privaten Investitionen. Eine Fallstudie zu Konflikten um urbane Sicherheit, in: Kritische Justiz 2016, H. 1, S. 72-85
Auch hier zwei beispielhafte Veröffentlichungen, die die lokale Gestaltung des Alltags im öffentlichen Raum thematisieren. Die Aufsätze stehen für die Spannweite lokaler Strategien: Die „Sicherheitspartnerschaft“ in Freiburg im Breisgau mobilisiert das repressive Potenzial: von der Videoüberwachung über die personelle Verstärkung der Polizei bis zur Einrichtung einer speziellen Ermittlungsgruppe und der Bildung eines städtischen Vollzugsdienstes. Demgegenüber zeigen Bescherer u.a. in ihrer Fallstudie zur Wuppertaler Sicherheitspolitik, dass der repressive Modus (verbieten, kontrollieren, verdrängen, bestrafen) keineswegs alternativlos ist. Das entsprechende Repertoire (Alkoholverbote, Videoüberwachung, verdachtsunabhängige Kontrollen) wird in Wuppertal nicht nur nicht ausgeschöpft, sondern explizit von den Vertreter*innen von Polizei und Ordnungsamt abgelehnt: „Wir lassen uns nicht instrumentalisieren …“ Insofern gibt es Hoffnung, dass aufgeklärte Stadtgesellschaften und aufgeklärte Praktiker*innen sich dem Zugriff der Versicherheitlichungs-Logik widersetzen. (sämtlich: Norbert Pütter)
Sonstige Neuerscheinungen
Sylvestre, Marie-Eve; Blomley, Nicholas; Bellot, Celine: Red Zones. Criminal Law and the Territorial Governance of Marginalized People, Cambridge (Cambridge University Press) 2019, 298 S., 22,10 EUR (e-book)
In drei Teilen (Grundlagen, Ausweitung, Territorialisierung und Konsequenzen) und acht Einzelkapiteln blättert das kanadische Trio zunächst die juridisch-historischen Grundlagen räumlich-temporaler Zugangsbeschränkungen und -verbote zum und in den öffentlichen städtischen Raum auf. Insoweit verweist der Band auf Forschungen aus dem Umfeld der Legal Geography (Kap. 2 u. 3). Montreal und Vancouver (nach Feldforschung) sowie Toronto und Ottawa (nach Experteninterviews) sind das empirische beackerte Feld, auf dem die juristische Anwendung von conditional orders (etwa: Haftverschonung unter Auflagen) und deren Auswirkungen analysiert werden.
Qualitativ konzentrieren sich die Autor*innen auf sozialräumliche Einschränkungen, die erstens nach Gebietsbeschränkungen (den titelgebenden „roten Zonen“) und „no-go“-Verfügungen unterschieden werden. Zweitens werden „no-contact“-, „non-association“- und „non-communication“-Verordnungen identifiziert, die verbieten, mit einer Zeugin oder einem Mitangeklagten zu kommunizieren oder in Kontakt zu treten; drittens kommen Meldeauflagen und viertens demonstrationsbezogene Auflagen in den Blick.
Die systematische raumzeitliche Beschränkung der Bewegungs- und Kommunikationsfreiheit hat nicht nur gesundheitliche (z.B. keinen Zugang mehr zu Hilfeeinrichtungen), berufliche (z. B. Verlust des Arbeits- oder Ausbildungsplatzes), sondern auch juristische Folgen, wenn etwa die Strafverteidigung zur Vermeidung kumulativer Bestrafung wegen antizipierter Übertretung der Auflagen durch ihre Mandantschaft präventiv auf „schuldig“ plädiert (S. 132). Dennoch, auch das eine Folge der Praxis des Justizsystems, betreffen rund 25 Prozent aller Erwachsenenstrafverfahren die Übertretung von Auflagen – und nicht mehr die ursprünglichen Ordnungswidrigkeiten oder Vergehen. Kapitel 6 beschreibt die Logiken des Justizapparates. Die Diskrepanz zwischen dem, was das Justizsystem nach eigener Auskunft erreichen will (Rehabilitation, Reintegration, Stabilisierung, Konformität) und dem, was sich durch die vielfachen Anforderungen in räumlicher und zeitlicher Hinsicht an destruktiven Folgen ergibt – für sog. Randgruppen und politischen Protest (Kap. 7 u. 8) – führt im Schlusskapitel (Kap. 9) zu Reformüberlegungen, denn im Ergebnis schaffe das Recht „(grund)rechtsfreie Räume“ und Lebensphasen (S. 215), die u.a. mit der Entkriminalisierung von Verstößen gegen Justizauflagen und stärkerer Berücksichtigung gesundheitlicher Bedürfnisse und Gefährdungen durch Ver- und Gebote einzuhegen seien.
Michele Goodwin: Policing the Womb. Invisible Women and the Criminalization of Motherhood, Cambridge (Cambridge University Press) 2020, 316 S., 15,70 EUR (e-book)
Mit der Entscheidung Roe v. Wade des Obersten US-Gerichtshofs (410 U.S. 113 (1973)) hatte der Supreme Court zahlreiche bis dahin geltende Landes- und Bundesgesetze für verfassungswidrig erklärt und das Recht auf Schwangerschaftsabbruch kodifiziert – gestützt auf den 14. Verfassungszusatz, der u.a. das Recht auf Privatsphäre und Gleichbehandlung garantiert. Die Entscheidung wird seitdem immer wieder angegriffen, derzeit mit dem Argument, Abtreibungen seien unter Bedingungen von COVID-19 nicht mehr als „medizinisch notwendig“ zu qualifizieren. Dass es dabei um mehr geht, als ‚nur‘ um das Recht auf Abtreibung, zeigt die an der University of California/ Irvine lehrende Juristin Michele Goodwin, die auch Vorstandsmitglied der American Civil Liberties Union (ACLU) ist.
In zehn Kapiteln beschreibt und analysiert sie die umfassende Kontrolle von Frauen als ‚Körper‘ und ‚Container‘ sowie die Verwertung und – wo für nötig erachtet – Kriminalisierung ihrer Reproduktivität auch in historischer Perspektive. Konsequent wird die Unterdrückung und Ausbeutung von Frauen unter Kolonialismus und Sklaverei, nach Klassenlage und race-Zugehörigkeit dargelegt.
Für die Klassenlage sei einerseits konstitutiv, das für „wohlhabende Frauen (unfruchtbar oder nicht) die reproduktive Privatsphäre ein greifbares Konzept“ ist (S. ix). Per Mausklick könnten sie „Sperma kaufen, eine Gebärmutter mieten, Eizellen beschaffen und eine Klinik für die Entnahme, Einnistung oder Embryonalentwicklung auswählen.“ Das alles unter Bedingungen, „die kaum einer staatlichen Regulierung unterliegen.“ Im Gegensatz dazu bestehe „ein völlig anderer reproduktiver Raum“, ein Raum strafrechtlicher Verfolgung mittelloser, häufig farbiger schwangerer Frauen. Armut und Drogenabhängigkeit oder der Drogenkonsum während der Schwangerschaft haben rechtliche Konsequenzen, die bis zur Androhung lebenslanger Haft, der Entbindung im Gefängnis und sogar zur Fesselung während der Wehen führen können, „je nachdem, in welchem Bundesstaat die schwangere Frau wohnt“ (ebd.).
In einigen Staaten bieten Staatsanwält*innen Strafnachlässe an, wenn Frauen (aber auch Männer) einer Sterilisation zustimmen. Goodwin erinnert in diesem Zusammenhang an die lange Geschichte eugenischer Maßnahmen in den USA der 1920er- und 1930er-Jahre, die massenhaft Sterilisationen gegen ‚Abweichler‘ erlaubten. Mit der ‚Crack-Epidemie‘ und den sog. Crack-Babies der 1980er-Jahre erreichten solche Debatten, die durch moral panics und Hasskampagnen gegen schwarze Mütter untermalt wurden, einen neuen Höhepunkt, obwohl Crack schwerpunktmäßig eine weiße und männliche Droge war (Kap. 2): Mindestens 150 Sterilisationen an Frauen wurden zwischen 2006 und 2010 allein in kalifornischen Gefängnissen durchgeführt. Andere Bundesstaaten kriminalisieren Frauen wegen Fehl- und Totgeburten oder wegen ihres Lebenswandels während der Schwangerschaft – und begründen das mit dem „Schutz ungeborenen Lebens“. Dieser ‚Schutz‘ geht so weit, dass es in 36 Bundesstaaten verboten ist, bei schwangeren hirntoten Patientinnen lebenserhaltende Maschinen abzuschalten, auch wenn Angehörige dies fordern oder wünschen (Kap. 3). Goodwin analysiert damit mehr als die reine Abtreibungsgesetzgebung (Kap. 4). Sie verdeutlicht, dass medizinisches Personal sich zu Kompliz*innen der Kriminalisierung macht, wenn und weil private Patientendaten an die Strafverfolgungsbehörden weitergeben werden (Kap. 5). Kapitel 6 betrachtet diesen Sachverhalt unter medizinethischen Gesichtspunkten: Patient*innen gehen davon aus, dass die freiwillige Interaktion mit Ärzt*innen ihrer Gesundheit diene und dass die vertrauliche Information über ihre soziale und medizinische Vorgeschichte dabei helfe, dieses Ziel zu erreichen: „Leider ist das nicht immer der Fall“ (S. 113).
Goodwin betont, dass das staatliche Interesse an der Gesundheit von Föten berechtigt und erreichbar ist, dass aber Gefährdungen dieser Gesundheit nicht mit drakonischen Strafen oder der Unterminierung von Grundrechten einhergehen dürfen (Kap. 7 u. 8): „Der unnachgiebige Blick auf einkommensschwache, schwangere Frauen, die staatlicherseits als ‚mütterliche Umgebung‘ oder ‚Container‘ bezeichnet werden, ignoriert die unzähligen Varianten, unter denen die Gesundheit des Fötus durch Stress, Arbeitslosigkeit, Umweltschäden und Armut geprägt werden kann, denen Schwangere zwar begegnen, die sie aber nicht kontrollieren können“ (S. 148). Es überrascht in diesem Kontext nicht, dass schwangere Gefangene wie „Behälter“ behandelt vollständig gefesselt – erlaubt sind Ketten, Überhandfesseln und Fußeisen – zur Geburt transportiert werden dürfen. Seit 1973 ist die Gewährung US-amerikanischer Entwicklungshilfemittel an die Versagung reproduktiver Selbstbestimmung und Entrechtung von Frauen des Globalen Südens gekoppelt (Kap. 9). Gleichzeitig werden (häufig religiös verbrämt) auch in den USA sukzessive Finanzmittel zur sexuellen Aufklärung zurückgefahren oder gleich ganz gestrichen. Vor diesem Hintergrund schließt Goodwin mit der Forderung nach einem „New Deal für reproduktive Gerechtigkeit“, nach einer neuen „Bill of Rights“ (Kap. 10). Beides ist für die nähere Zukunft nicht absehbar.
Churchill, David; Janiewski, Dolores; Leloup, Pieter (eds.): Private Security and the Modern State. Historical and Comparative Perspectives, New York (Routledge) 2020, 270 S., 44,90 EUR (e-book)
Dieser Band bietet einen Überblick zur Geschichte kommerzieller und privater Sicherheitsvorsorge – und thematisiert dabei u.a. Detekteien, Versicherungsgesellschaften, „Moralaktivisten“, Arbeitgeberverbände, paramilitärische Organisationen, Selbstschutz- sowie vigilante Verbände und Organisationen. Untersucht wird die historische Entwicklung staatlicher Polizei- und kommerzieller Sicherheitsdienste in verschiedenen zeitlichen, nationalen und internationalen Kontexten sowie deren Interaktionen in verschiedenen Ländern, Kulturen und Umfeldern. Belgien, Frankreich, Großbritannien und die USA werden mit Blick auf das 19. und frühe 20. Jahrhundert im ersten Teil untersucht; Teil 2 widmet sich modernen Marketingstrategien aus derselben Epoche. Teil 3 fokussiert kleinteilig das Verhältnis staatlicher Behörden und kommerzieller Anbieter; in Deutschland etwa für die Jahre 1918-1920. Letztgenannter Beitrag diskutiert geheimdienstliche Aktivitäten nichtstaatlicher Akteure anhand zweier Fallbeispiele und gibt einen Überblick über deren Aktivitäten, Finanzierung und Personal.
Der Band füllt Lücken im historischen Wissensbestand über die Entstehung und gegenseitige Konstituierung kommerzieller und öffentlicher Sicherheitsorganisationen – auch für Deutschland, obwohl nahezu vollständig historische Quellen im Ersten Weltkrieg vernichtet wurden. Die Autor*innen analysieren Verantwortungsaufteilungen, die deutlich machen, dass von strikt getrennten Sphären keine Rede sein konnte – und kann. (alle: Volker Eick)