Racist Profiling auf St. Pauli: Forschungsbericht einer kollaborativen Stadtteilforschung

von Simone Borgstede, Steffen Jörg, Moana Kahrmann, Efthimia Panagiotidis, Rasmus Rienecker und Sabine Stövesand

In den vergangenen Jahren mehren sich Berichte aus dem Stadtteil St. Pauli in Hamburg, in denen Präsenz und Vorgehen der Polizei Gegenstand von Kritik ist. Aus diesem Anlass hat ein Team aus Wissenschaftlerinnen der HAW Hamburg, Mitarbeitenden der GWA St. Pauli e. V. und engagierten Anwohner*innen seit 2021 im Rahmen einer kollaborativen Stadtteilforschung zahlreiche Interviews und Beobachtungen durchgeführt, dokumentiert und ausgewertet. Im Fokus standen Fragen danach, wie Bewohner*innen und Betroffene die Situation erleben und bewerten. 

Auf St. Pauli sind soziale Fragen und Problemlagen häufig zugespitzter sichtbar als anderswo in Hamburg. Zunächst als „Gefahrengebiet“, dann als „Gefährlicher Ort“ konstruiert, gelten Teile des Stadtteils seit Anfang der 2000er Jahre als polizeiliche Sonderrechtszone. Dieses Konstrukt ermöglicht, unter dem Deckmantel der „vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten“ polizeiliche Maßnahmen ohne konkreten Tatverdacht durchzuführen. In der polizeilichen Arbeit können sich hier „rassistische Klischees ihren Weg bahnen“.[1] Für den Stadtteil St. Pauli gibt es zahlreiche Hinweise darauf, dass durch das „Racist Profiling“[2] vor allem Bewohner*innen und Besucher*innen of Color häufiger als andere von der Polizei kontrolliert werden. Die 2016 von der Polizei eingerichtete „Task Force Betäubungsmittelkriminalität” („Task Force Drogen“) hat die Polizeipräsenz im Stadtteil deutlich erhöht. Offizielles Ziel der „Task Force“ ist die Bekämpfung der öffentlich wahrnehmbaren Drogenkriminalität und ihrer Folgen.[3] Während die Polizei ihre Maßnahmen als erfolgreich einstuft,[4] zeugen die Berichte aus dem Stadtteil davon, dass die Lebensrealität vieler Menschen auf St. Pauli durch diese eine deutliche Belastung erfährt. Im Jahr 2018 reichte ein Anwohner Klage gegen die Kontrollen ein, woraufhin das Hamburger Verwaltungsgericht 2020 feststellte, dass diese in drei Fällen rechtswidrig waren.

Die aufgezeigten Entwicklungen werden vor allem durch die Initiative „Copwatch Hamburg” kritisch begleitet. Die Initiative setzt sich dafür ein, Öffentlichkeit für den Themenkomplex Rassismus und Polizei zu schaffen und unterstützt Betroffene von rassistischer Kriminalisierung. Außerdem startete die Gemeinwesenarbeit St. Pauli e. V. (GWA) im Jahr 2020 gemeinsam mit anderen sozialen Einrichtungen eine Plakatkampagne mit dem Ziel, im Stadtteil auf die Problematik aufmerksam zu machen, politische Handlungsträger*innen in die Verantwortung zu nehmen und (sozial-)politische Lösungsansätze einzufordern.[5]

Trotz wiederholter Problematisierung der Situation auf St. Pauli hat sich jedoch bis heute nichts verändert. Die Perspektive der Betroffenen findet nach wie vor kein Gehör.

Projektidee

Die Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW) kooperiert im Bereich der Ausbildung Sozialarbeitender seit langem mit sozialen Einrichtungen auf St. Pauli, u. a. mit der GWA. Zunehmend wurde aus dem Stadtteil von Ängsten und deutlicher Kritik an Präsenz und Vorgehen der Polizei berichtet. Thematisiert wurden insbesondere der Umgang mit Schwarzen jungen Männern und deren prekäre Lebensbedingungen. Armut, Diskriminierung und soziale Gerechtigkeit sind zentrale Themen Sozialer Arbeit. Den Perspektiven marginalisierter Menschen soll Gehör verschafft, und in dialogischen Verfahren sollen Handlungsoptionen und Lösungen entwickelt werden. Vor diesem Hintergrund entstand die Idee, in einem partizipativen Projekt die Situation zu erforschen, Veränderungsvorschläge abzuleiten und dabei insbesondere die Stimmen aus dem Stadtteil hörbar zu machen, die aus dem hegemonialen Diskurs ausgeschlossen sind.

Forschungsdesign

Als Forschungsteam aus der GWA St. Pauli, engagierten Anwohnenden, Studierenden und Professorinnen[6] entschieden wir uns für das Konzept einer „Kollaborativen Community Forschung“,[7] um die Situation genauer zu untersuchen. Das Konzept entsprang Ende des 20. Jahrhunderts aus der angloamerikanischen „public anthropology“ und ist im Rahmen der „public science“ zu verorten.[8] Es steht für transdisziplinäres, wechselseitiges Lernen. Wesentlich für kollaborative Forschung ist die Annahme, dass durch die Zusammenarbeit von Wissenschaftler*innen, Expert*innen und Laien weitaus breiter verschiedene Perspektiven und Wissensbestände zusammengebracht werden und die Forschung daher qualitativ besser wird. Dabei soll nicht nur Wissen produziert, sondern auch zur Lösung eines öffentlichen Problems beigetragen werden. Dieser Ansatz passt zur Sozialen Arbeit, die als Handlungswissenschaft soziale Probleme nicht nur beschreibt und erklärt, sondern Ideen und Wege zur Veränderung entwickelt.[9] Auf Grundlage der Erkenntnisse aus dem Forschungsprojekt sollten daher Empfehlungen an die Verantwortungstragenden in Politik und Gesellschaft formuliert werden.

Ursprünglich sollten die von den Kontrollen direkt Betroffenen als Forschende mit in das Projekt einbezogen werden. Aufgrund der guten Beziehungen zu den Anwohnenden folgten zehn von ihnen der Einladung zu einem Auftaktworkshop. Um unsere Forschungsidee zu vermitteln, wurde das Forschungsdesign, wie beim „Graphic Recording”, auf Flipcharts gezeichnet. Im Kern ging es um eine systematische, kriteriengeleitete Dokumentation von Polizeieinsätzen durch das situative Verschicken von Sprachnachrichten an eine zentrale Telefonnummer. Da die Betroffenen jedoch nach dem Workshop wegen verstärkter Beobachtung durch zivile Polizisten*innen zu sehr unter Druck gerieten, konnte diese Form der partizipativen Forschung nicht durchgeführt werden. Die Forschungsstrategie umfasste letztlich drei Methoden und Perspektiven:

  • Dokumentation der Polizeipräsenz im Rahmen einer Beobachtungswoche
  • 13 leitfadengestützte Interviews mit 15 Anwohner*innen
  • 5 leitfadengestützte Gruppeninterviews mit 23 aus Afrika geflüchteten Männern

Aufgrund der Zusammensetzung des Forschungsteams bestand ein direkter Feldzugang zu den Menschen vor Ort, und es gelang entsprechend gut, Interviewpartner*innen zu finden – etwas, das Forschende sonst durchaus vor Herausforderungen stellt. Im Fokus stand die Frage, wie die Interviewten die Polizeipräsenz in ihrer Häufigkeit, Ausprägung und Dynamik wahrnehmen und was das für sie bedeutet. Interviewt wurden Schwarze Menschen/BIPoC, die sich rund um die Hafenstraße in St. Pauli aufhalten, alteingesessene Nachbar*innen mit und ohne Migrationsgeschichte, Gewerbetreibende (Gastronomie, Buchhandel) sowie Mitarbeitende und Besucher*innen aus der Jugendsozialarbeit mehrerer Institutionen.

Es handelt sich nicht um eine repräsentative Studie im Sinne einer amtlichen Stichprobe, sondern um eine qualitative empirische Untersuchung, die im Zeitraum von Juni 2021 bis November 2023 durchgeführt wurde. Die Studie wurde mit bestehenden Ressourcen der Beteiligten durchgeführt und erhielt keine Forschungsmittel.

Wirkung und Folgen der Polizeipräsenz im Stadtteil

Die Beobachtungswoche fand unter Mitwirkung von 45 Stadtteilforscher*innen aus ​der Nachbarschaft​ an sieben Tagen statt. Sie beobachteten das Polizeivorgehen an vier Orten rund um die Hafentreppe und trugen es in standardisierte Dokumentationsbögen ein. Insgesamt kamen 115 Beobachtungstunden zusammen, 250 polizeiliche Maßnahmen wurden festgestellt. Bemerkenswert war die sehr hohe Taktung der Polizeipräsenz. So wurde z. B. am Mittwoch, 21. September 2021, im Beobachtungszeitraum durchschnittlich alle 12 Minuten eine Polizeistreife dokumentiert.

Die Ergebnisse der 13 offenen Leitfadeninterviews, welche zwischen Juli und Dezember 2021 mit Anwohner*innen und Aktiven im Stadtteil, durchgeführt wurden, lassen sich entlang der drei Kategorien Anwesenheit, Auswirkungen und Umgangsweisen mit der Polizei strukturieren. In der ersten Kategorie, die vor allem Aussagen über die Polizeipräsenz erfasst, wird zum einen die Intensität der Polizeipräsenz problematisiert, die sich in der permanenten, unverhältnismäßig hohen Anzahl der Beamt*innen ausdrückt:

jedes zweite bis vierte Mal, wenn ich mein Zuhause betrete oder verlasse, treffe ich auf Polizeibeamte, … und ich find das ist ‘ne polizeiliche Belagerung.“ (Interview (I.) 2)

Thematisiert wurden auch Grenzüberschreitungen beim Polizeivorgehen, z. B. Hineinleuchten in Wohnungen und Blicke in die Fenster der Anwohner*innen. Die Befragten bestätigen die Dokumentationen der Beobachtungswoche in Bezug auf die Häufigkeit der Polizeipräsenz. Die hohe Präsenz und Taktung führten zu einem nervigen, angespannten und stressigen Lebensalltag und Ohnmachtsgefühlen:

jedes Mal, wenn ich aus dem Fenster geguckt hab‘ … teilweise sind dann zwölf Polizisten auf dem Platz sichtbar … und das macht mich einfach ohnmächtig, wütend.“ (I. 7)

Dass es bei den Kontrollen nicht nur um die behauptete Drogenbekämpfung geht, sondern diese auch dazu führen, dass BIPoC und Armutskennzeichen aus dem öffentlichen Raum verbannt werden,[10] zeigen folgende Beispiele: So wurde über einen Schwarzen berichtet, der Flaschen zum Überleben sammelt und die Polizist*innen anfleht, ihm keinen Platzverweis zu erteilen. Diese sprechen ihm jedoch ein Aufenthaltsverbot aus (I. 5). In Bezug auf Jugendliche, die Marihuana rauchen, agieren die Polizeibeamt*innen unterschiedlich: nach Beobachtungen werden bei weißen Jugendlichen die Personalien aufgenommen und sie werden aufgefordert „das Kiffen“ zu unterlassen (I. 7), während BIPoC-Jugendliche mit Platzverweisen rechnen müssen (I. 10).[11]

Von polizeilichen Kontrollen sind auch Schwarze Jugendliche betroffen, die im Viertel wohnen:

„Unser Nachbarskind … zum Beispiel, hier geboren, … wird vor der eigenen Haustür auf den Boden gelegt von der Polizei.“ (I. 1)

Kontrollen gehen oft mit direkter Gewalt einher. So wurde auch ein anderer Jugendlicher vor seiner Haustür kontrolliert:

„Der hatte einen langen Schultag. Der war dann auch echt ungehalten, weil der meinte so: ‚Ey Leute, ich muss jetzt nach Hause ich will was essen. Ich habe sieben Stunden Schule hinter mir. Ich habe keinen Bock mehr.‘ Die Situation ist dann eskaliert, er wurde auf den Boden gedrückt und länger festgehalten.“ (I. 11)

Die als unangebracht empfundenen Kontrollen stoßen häufig auf Unverständnis bei Nachbar*innen. Auf ihre solidarischen Interventionen, z. B. stehen bleiben oder Augenkontakt mit den Betroffenen halten, reagiert die Polizei teilweise mit Aggressionen und Platzverweisen:

„ich weiß gar nicht, wieviel Platzverweise ich schon gekriegt habe, weil ich einfach irgendwo stehen geblieben bin.“ (I. 13)

Wenn sie sich nachdrücklicher einmischen und dabei von der Polizei sogar verletzt werden, kann es zu Anzeigen kommen:

„in der Regel ist es so, dass Menschen, die von Polizeibeamten möglicherweise verletzt wurden, eine Widerstands-Anzeige kriegen.“ (I. 2)

Die Anwohner*innen wägen zum Selbstschutz stets ab, ob sie in Kontrollsituationen eingreifen.

Neben den genannten juristischen Folgen werden in der Kategorie der Auswirkungen der Polizeipräsenz auch die emotionalen Folgen spezifiziert, die sich zwischen Einschüchterung, Frustration und Unruhe bewegen:

man fühlt sich einfach die ganze Zeit beobachtet. Man fühlt sich in seinem eigenem zuhause nicht wohl.“ (I. 1)

Zudem kann sich die entstehende Verunsicherung drastisch auswirken:

„Seit dem Fall (Kontrolle) kann ich nicht eine Straße runterlaufen, ohne zehn Mal nach hinten zu schauen …, wenn Polizisten in die Nähe kommen, probiere ich einfach wegzulaufen.“ (I. 12)

Auch soziale Folgen werden thematisiert. Menschen ziehen sich zurück oder aus dem Stadtteil weg. Die Stigmatisierung des Stadtviertels führt, so berichten die Interviewpartner*innen, damit auch zu eingeschränkten Kontakten:

„Also ich hab‘ Nachbarn, deren Kinder keinen Besuch kriegen oder kriegen dürfen.“ (I. 1)

In den Interviews wurde auch deutlich, dass ein durch Kontrollen geprägtes Aufwachsen bei Kindern zur (Selbst-)Kriminalisierung führen kann:

„Dieses Kind ist schon von klein auf mit der Polizei nur in Kontakt, dass es denkt: ‚OK, ich bin ein kriminelles Kind!‘ … dass es von sich selbst überzeugt ist. irgendwann und denkt: ‚ja wenn das so ist, dann ist es so.‘“ (I. 1)

Da das Kindeswohl als Legitimation für polizeiliche Einsätze genutzt wird, wäre, wie Betroffene fordern, differenzierter zu untersuchen, welches Ausmaß das polizeiliche Auftreten auf St. Pauli auf die im Stadtteil lebenden Kinder hat.[12]

In der Kategorie Umgangsweisen mit der Polizeipräsenz werden vielfältige Vorgehen sichtbar. Ein Instrument ist die offizielle Beschwerde bei der Polizei, um durch den institutionellen Akt diskriminierendes Verhalten von Beamt*innen zu vermerken. Gleichwohl sind die Probleme solcher Beschwerden hinsichtlich ihrer begrenzten Wirksamkeit oder sogar negativen Folgen für die Anzeigenden bekannt. Daher wird immer wieder auch eine „unparteiische Stelle“ gefordert, bei der sich die Anwohnenden melden können (I. 12). Auch die Forderung nach einem generellen Rückzug der Polizei aus dem Stadtviertel wird formuliert:

„Wenn wir die nicht brauchen, sollen die nicht kommen! Die Menschen wissen schon, wann sie die Polizei zu rufen haben und wann nicht.“ (I. 1)

Darüber hinaus werden auch Lösungen ohne die Polizei gesucht, die anschlussfähig an abolitionistische Perspektiven sind:[13]

„Dann soll man lieber diese Gelder, die man für diese verstärkte Polizei einsetzt, … vielleicht irgendwie in die Kinder … oder … Familien investieren! Gemeinnützige Nutzen für die Kinder, denen vielleicht auch mal was aufbauen, ausbauen, Spielplätze.“ (I. 1)

Kriminalisierung und sozialer Ausschluss von Betroffenen

In den fünf Gruppeninterviews wurde mit 23 Männern aus afrikanischen Ländern gesprochen, von denen viele über Italien nach Hamburg geflüchtet sind. Die meisten haben einen temporären Aufenthaltsstatus über ein „Schengenvisum“, manche eine Duldung nach abgelehntem Asylantrag, beides ohne Arbeitserlaubnis. Die Auswertungskategorien, die sich aus den Interviews ergaben, waren denen der Einzelinterviews recht ähnlich. Die Oberkategorien lauteten:

  • Aussagen über Polizeikontakte
  • Auswirkungen der Polizeikontrollen
  • Selbstaussagen der Betroffenen
  • Umgangsweisen/Widerständigkeit

Besonders eindrücklich an den Ergebnissen ist, dass die Betroffenen schildern, dass sie ohne Anlass unabhängig von ihrem Verhalten überall und jederzeit kontrolliert werden:[14]

„if you end up in St. Pauli here, if you are Black, police don’t want to see you here … if … police see you, they follow you. You do nothing … they follow you.“ (I. 2, Befragte Person (B.) 1)

Auch wird immer wieder von offen rassistischen Äußerungen und gewaltvollem Handeln der Polizei berichtet:

„he says that he don’t like Black. The more that he see Black the more he get angry.” (I. 3, B. 3) Und: „they only follow the Black people. And it’s totally trouble … too much brutality … This is not about because here is dangerous place, but about racism.“ (I. 4, B. 3)

Immer wieder erwähnt werden Gefühle von Angst, Scham, des Ausgeliefertseins, entwertet zu werden sowie der Verzweiflung und Enttäuschung:[15]

„We feel ashamed of it. We don’t want it, but we don’t have no choice because we are not allowed to work … we are not bad people, we are not criminal, we are not seller, because conditions make us to do it. Today when there is not that condition, we are all going to leave … selling drugs.” (I. 3, B. 3)

Viele Befragte erwähnen außerdem, dass die rassistischen Kontrollen sie sozial isolieren. Schwarze Personen würden offensichtlich für den Kontakt mit weißen Menschen bestraft:[16]

„we even scared to speak with people because of police … Because if you speak with white people, when he left, police will come to you.” (I. 4, B. 3)

Als belastend benennen sie auch immer wieder die willkürliche Konfiszierung von Geld und Mobiltelefonen, die oft die einzigen Kontaktmöglichkeiten zu Familie und Freund*innen sind.

Die von rassistischem Profiling betroffenen Personen sprechen auch über die von den Anwohner*innen und Aktiven erwähnten solidarischen Interventionen und betonen, wie wichtig die Einmischung anderer Menschen gegen diese Praktiken ist:

„I think it’s important when the police are controlling the Black man, as a German … if you see the police surround a Black man you can go there and listen. Or you ask him if you could help. Sometimes this really helps us because when they know somebody’s there who is German, or who knows what they are doing, sometimes they have change of mind. But we and police alone, the police will do something that is not legal with no witness.” (I. 5, B. 1)

Insgesamt ist den Interviews in Bezug auf das Rechtssystem ein Gefühl von Machtlosigkeit und Ungerechtigkeit zu entnehmen. Viele thematisieren Doppelstandards der Bestrafungsinstitutionen. Sie beschreiben immer wieder scheinbar willkürliche Maßnahmen sowie unverhältnismäßig hohe Strafen, ungerechte und rassistische Behandlung, ihren Ausschluss von den Menschenrechten:

„Where is human right the Europeans are talking about? Like, when we were in Africa, you were like: ‘If you go to Europe, there is a human right, there is a freedom of everything’. But in real life it’s not, it’s just on paper … I would say there’s a democracy in Germany, but for the Germans … not for us, the African foreigners. There‘s no democracy on us, … no justice.“ (I. 5, B. 1)

Die Interviewten wehren sich gegen ihre Stigmatisierung und Kriminalisierung und stellen diesen die eigene unbescholtene Lebensweise vor der Flucht gegenüber. Erst durch ihre Entrechtung seien sie dazu gebracht worden, sich mit prekären Jobs wie u. a. dem Handel mit Marihuana und anderen illegalisierten Substanzen durchzuschlagen. Dies sei nicht ihr Wunsch.

„There are people coming here, they really like work, they don’t want to do any wrong thing in this country … But if we don’t have work … that will push you to do something.” (I. 1, B. 5)

Auch das Ausmaß der psychischen Belastung und Schädigung durch Arrest und Haft wird in den Interviews immer wieder angesprochen, insbesondere, wenn den Betroffenen nicht gesagt wird, für wie lange sie festgehalten werden und warum.

„If you go to prison, you know, you left damaged. Mentally, physically you are damaged. Even you spend one week in prison you have damage. No matter how strong you are.” (I. 5, B. 1)

Sie kritisieren ein System, das ihnen nicht das Recht zugesteht, zu lernen, legal zu arbeiten und für sich und ihre Familien zu sorgen:

„Yes, we have an idea how to solve the problem without the police: to have permit of work, to work. But that’s the solution!“ (I. 3, B. 3)

Schlussfolgerungen

Die in den Interviews dargestellten Auswirkungen der Polizeipräsenz bestätigen wissenschaftliche Ergebnisse aus anderen Kontexten.[17] Das belastende und für soziale Problemlagen kontraproduktive Policing hat weitreichende soziale und gesellschaftliche Effekte auf die Betroffenen der Kontrollen und auf den Stadtteil insgesamt. Aus diesen Gründen sind wir zu folgenden Empfehlungen gekommen:

  • Abschaffung der Task Force Drogen

Bis Juli 2023 fielen für den Einsatz der „Task Force“ insgesamt 1.126 Mio. Polizeistunden an. Dadurch entstanden Kosten von ca. 75 Mio. € – somit 11 Mio. € und 160.000 Stunden pro Jahr.[18] Wir empfehlen die Abschaffung der Task Force Drogen und stattdessen Investitionen in gemeinwesenorientierte Soziale Arbeit.

  • Arbeitserlaubnis für Geflüchtete

Wir empfehlen die Vergabe von Arbeitserlaubnissen für Menschen, die hier leben. Wir empfehlen niedrigschwellige Möglichkeiten zur Aus- und Weiterbildung und eine Entbürokratisierung der Wege, wie Menschen in Arbeit kommen. 

  • Psychosoziale Unterstützung

Wir empfehlen die Bereitstellung von umfassenden Mitteln für Heilung und Gesundung von geflüchteten Menschen.

  • Zivilcourage begrüßen und fördern

Wir empfehlen einen anderen Umgang mit Menschen, die (zivil)couragiert eingreifen, wenn ihre Nachbarn*innen von der Polizei kontrolliert, festgehalten und vielleicht drangsaliert werden. Solchem Engagement sollte mit Respekt und nicht mit Repression begegnet werden.

  • Unabhängige Ombudsstelle

Wir empfehlen die Einrichtung einer unabhängigen Ombudsstelle für Beschwerden, die Rechtsverstößen der Polizei nachgeht.

  • Studie zu Rassismus in der Polizei

Die turnusmäßige Überprüfung der Menschenrechtslage in Deutschland im Rahmen des UN-Menschenrechtsrates ergab, dass Deutschland im Vergleich zu anderen schlecht abschneidet. Wir empfehlen die Durchführung einer umfassenden Studie zu institutionalisiertem Rassismus in der Polizei und eine anschließende Entwicklung von Implikationen für die Polizeigesetzgebung.

[1]    Niemz, J.; Singelnstein, T.: Racial Profiling als polizeiliche Praxis, in: Hunold, D.; Singelnstein, T. (Hg.): Rassismus in der Polizei, Wiesbaden 2022, S. 337-358 (344)
[2]    Wir nutzen den Begriff „Racist Profiling“ anstelle von „Racial Profiling“, um den zugrundeliegenden Rassismus zu skandalisieren, anstatt das Nutzen rassifizierter Merkmale zu normalisieren. Vgl. Golian, S.: Spatial Racial Profiling, in: Wa Baile, M. u.a.: Racial Profiling, Bielefeld 2019, S. 177-193.
[3]   Bürgerschaft Hamburg Drs. 22/5262 v. 26.7.2021
[4]   Pressestelle der Polizei 2018 zit. n. Racial Profiling auf St. Pauli. Polizeikontrollen kontrollieren taz.de v. 11.4.2018
[5]    Jörg, S.: Plakatkampagne gegen die diskriminierenden Einsatzkonzepte der Polizei, 2020, www.st-pauli-selber-machen.de/plakatkampagne-gegen-die-diskriminierenden-einsatzkonzepte-der-polizei
[6]   Die Gruppe wurde im Laufe der Forschung von vielen weiteren Personen unterstützt: u.a. Anna Biallas, Sarah Ewald, Melanie Klever, Akli Merzouki, Sophie Papemeier, Mirjam Schmidt.
[7]   Bergold, J.; Thomas, St.: Partizipative Forschung, in: Mey, G.; Mruck, K. (Hg.): Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, Wiesbaden 2020, S. 113-133; Bogusz, T.: Kollaborative Forschung, in: Selke, S. u.a. (Hg.): Handbuch Öffentliche Soziologie, Wiesbaden 2020, S. 237-245; Geldermann, A. u.a.: Diversitäts- und kultursensible Gesundheitsinformationen für mehr digitale Gesundheitskompetenz, Wiesbaden 2023
[8]    „Public anthropology“ und „public science“ bezeichnen wissenschaftliche Ansätze, die sich mit aktuellen Themen und Herausforderungen auseinandersetzen und dabei aktiv den Austausch zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit suchen, mit dem Ziel, aus der Wissenschaft heraus in gesellschaftliche Debatten und Prozesse zu intervenieren.
[9]    Staub-Bernasconi, S.: Soziale Arbeit als Handlungswissenschaft, Opladen, Toronto 2018
[10] siehe auch Belina, B.: Wie Polizei Raum und Gesellschaft gestaltet, in: Loick, D. (Hg.): Kritik der Polizei, Frankfurt/M., New York 2018, S. 119-133 (130)
[11] siehe auch Fassin, D.: Enforcing Order. An Ethnography of Urban Policing, Cambridge 2013, S. 72f.
[12] vgl. Anwohner_innen Initiative Balduintreppe: Was sollen denn die Kinder denken?, https://deadbylaw.blackblogs.org v. 29.4.2018
[13] siehe auch u. a.: Loick, D.; Thompson, V. E. (Hg.): Abolitionismus, Berlin 2022
[14] siehe auch Friedrich, Sebastian u.a.: Alltäglicher Ausnahmezustand. Institutioneller Rassismus in deutschen Strafverfolgungsbehörden, in: Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt (Hg.): Alltäglicher Ausnahmezustand. Institutioneller Rassismus in deutschen Strafverfolgungsbehörden, Münster 2016, S. 10-21 (10f.)
[15] Louw, Eben u.a.: Wenn alles anders bleibt. Psychosoziale Folgen rassistischer Polizeigewalt, in: Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt a.a.O. (Fn. 14), S. 29-46 (34-38)
[16] Wa Baile, M. u.a.: Racial Profiling und antirassistischer Widerstand, in: Wa Baile, M. u.a. a.a.O. (Fn. 2), S. 9-36 (10)
[17] siehe auch Kollaborative Forschungsgruppe Racial Profiling Schweiz: Racial Profiling. Erfahrung, Wirkung, Widerstand, Berlin 2019, www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Studien/racial-profiling.pdf
[18] eigene Berechnungen auf Basis der vierteljährlichen schriftlichen Kleinen Anfragen der Linksfraktion an den Hamburger Senat

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