In Karlsruhe wollte die örtliche Staatsanwaltschaft die Mitarbeiter*innen eines Fußball-Fanprojekts zur Zeugenaussage zwingen. Ihre Weigerung wurde mit einem Strafbefehl geahndet. Das Karlsruher Vorgehen bedroht die Arbeitsgrundlage nicht nur der Fanarbeit, sondern der Sozialarbeit insgesamt, weil es das Vertrauen zu deren Adressat*innen untergräbt. Deutlich wird die Dominanz der Strafverfolgung gegenüber sozial unterstützenden Interventionen, sowie die fehlende politische Bereitschaft, durch ein Zeugnisverweigerungsrecht die Soziale Arbeit zu stärken.
Am 12. November 2022 empfängt der Karlsruher Sportclub (KSC) den Zweitliga-Konkurrenten FC St. Pauli zu einem Heimspiel. Karlsruher Fußball-Fans zünden Pyro-Technik im Stadion. Die wegen ihres 20-jährigen Bestehens besonders aufwendig geplante Jubiläums-Inszenierung geht schief, mindestens elf Personen werden verletzt. Wegen der Vorfälle wird der KSC vom Sportgericht des Deutschen Fußball-Bundes zu einer Geldstrafe von 50.000 Euro verurteilt. Die Staatsanwaltschaft leitet strafrechtliche Ermittlungen ein, die sich gegen Mitglieder der Fangruppe „Rheinfire“ richten. Im Mai 2024 beginnt der erste Prozess gegen zwei Beschuldigte; ihnen wird „gemeinschaftliche gefährliche Körperverletzung“ vorgeworfen. Die beiden Angeklagten werden zu Bewährungsstrafen (zehn bzw. zwölf Monate) und 5.000 Euro Geldstrafe verurteilt. Beim zuständigen Amtsgericht sind weitere 20 Verfahren gegen Mitglieder oder Unterstützer*innen der Gruppe anhängig.[1]
Das wäre ein vergleichsweise „normales“ Vorgehen geblieben, wenn nicht die Staatsanwaltschaft bei der Hausdurchsuchung bei einem der Verdächtigen Hinweise auf ein Nachbereitungstreffen des Karlsruher Fanprojektes gefunden hätte. Aufgrund dieses Fundes wurden die drei Mitarbeiter*innen des Projekts als Zeug*innen geladen. Als sie mit Verweis auf das besondere Vertrauensverhältnis zwischen ihnen und den Fans die Aussage verweigerten, versuchte die Staatsanwaltschaft, sie durch die Drohung mit Beugehaft zur Aussage zu zwingen. Weil die drei ihre Weigerung auch vor dem Amtsgericht Karlsruhe aufrechterhielten, erließ das Gericht drei Strafbefehle mit je 120 Tagessätzen à 60 Euro.[2]
Fanprojekte
Ihre Aussageverweigerung begründeten die Sozialarbeiter*innen des Fanprojekts mit dem Hinweis auf das Vertrauensverhältnis zwischen ihnen und den Fans, das durch ihre Aussage zerstört werden würde. Die Fanprojekte entstanden in der Bundesrepublik in den 1980er Jahren zunächst vereinzelt als eine (sozialpädagogische) Reaktion auf Gewalt im Kontext von Fußballspielen. Durch das „Nationale Konzept Sport und Sicherheit“ (NKSS) wurden sie zu Einrichtungen der kommunalen Jugendhilfe, die in den Orten der drei Bundesligen verpflichtend gebildet werden müssen. Das NKSS betont, die Fanprojekte zeichneten sich durch einen „szenennahen und sozialpädagogischen Zugang“ aus, der darauf abziele, „jungen Menschen bei der Bewältigung ihrer Schwierigkeiten zu helfen und sie vor abweichendem Verhalten zu bewahren.“[3]
Für die Sozialarbeit mit Fußballfans gelten die Grundsätze jeder Art von Sozialarbeit. Nach ihrem professionellen Selbstverständnis zeichnet sich die Sozialarbeit durch ihre besondere Beziehung zu ihrer Klientel aus. Deren Besonderheit wird gewöhnlich mit dem Begriff „Vertrauen“ umschrieben: Nur wenn die Adressat*innen der Sozialarbeit sicher sein können, dass die von ihnen offenbarten Informationen nicht an Dritte preisgegeben werden, könne eine offene Kommunikation entstehen. Diese wiederum sei Voraussetzung, um zugrundeliegende Probleme identifizieren und mögliche Problemlösungen erarbeiten zu können.[4] Steht zu befürchten, dass Sozialarbeiter*innen Informationen weitergeben, ist eine vertrauensvolle Zusammenarbeit illusorisch. Das gilt erst recht gegenüber Polizei und Staatsanwaltschaft und bei Gruppen, die diese eher als Gegner denn als „Freunde und Helfer“ wahrnehmen.
Jenseits des professionellen Selbstverständnisses ist die Einsicht, dass Vertrauen und Vertraulichkeit die Basis erfolgversprechender Sozialarbeit bilden, auch rechtlich anerkannt. Das Bundesverfassungsgericht stellte 1977 fest, dass die „Wahrung des Geheimhaltungsinteresses der Klienten … Vorbedingung des Vertrauens … und damit zugleich Grundlage für die funktionsgerechte Tätigkeit“ sei.[5] Die Vertraulichkeit der Kommunikation wird durch das Strafgesetzbuch geschützt. § 203 Strafgesetzbuch (StGB) stellt die „Verletzung von Privatgeheimnissen“ unter Strafe. „Wer unbefugt ein fremdes …, namentlich zum persönlichen Lebensbereich gehöhrendes Geheimnis … offenbart“, wird mit Freiheits- oder Geldstrafe bedroht. Adressat*innen dieser Norm sind u. a. die Beschäftigten in anerkannten Erziehungs- oder Jugendberatungsstellen, Amtsträger*innen (etwa Beschäftigte des Jugendamtes) sowie staatlich anerkannte Sozialarbeiter*innen bzw. -pädagog*innen.[6]
Das primäre Rechtsgut, das das Strafrecht mit dieser Bestimmung schützt, ist die Privatsphäre der Betroffenen. Durch das Volkszählungsurteil hat das Bundesverfassungsrecht aus den Art. 1 GG (Würdegebot) und Art. 2 GG (Persönliche Freiheit) das „Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung“ hergeleitet. Dieses Grundrecht hat dazu geführt, dass personenbezogene Daten zusätzlich in den Sozialgesetzbüchern vor unberechtigter Weitergabe geschützt werden. In § 35 Sozialgesetzbuch (SGB) I heißt es: „Jeder hat Anspruch darauf, dass die ihn betreffenden Sozialdaten (§ 67 Abs. 2 Zehntes Buch) von den Leistungsträgern nicht unbefugt verarbeitet werden (Sozialgeheimnis).“ Im zweiten Kapitel des SGB X wird der Schutz der Sozialdaten detailliert geregelt. Im Zusammenhang mit der Schweigepflicht ergibt sich als Grundsatz, dass die Daten nur im Rahmen des durch das SGB X oder andere Sozialgesetzbücher Erlaubten weitergegeben werden dürfen (§ 67b Abs. 1 SGB X).
Nach den Vorfällen vom 12. November 2022 organisierte das Karlsruher Fanprojekt das oben erwähnte Nachbereitungstreffen, zu der Betroffene und Fans eingeladen wurden. In einer Stellungnahme wies der Stadtjugendausschuss e. V. als Träger des Fanprojekts darauf hin, dass zur „Aufarbeitung“ „mit den Fans viele Gespräche geführt, „Dialogformate mit Netzwerkpartnern begleitet“ und die „Kommunikation am Standort mit allen Beteiligten koordiniert“ worden seien. Dies sei nur möglich gewesen auf der Basis einer „jahrelangen Beziehungsarbeit“, die durch das Vorgehen der Staatsanwaltschaft zunichte gemacht würde. Die Vorladungen der Sozialarbeiter*innen stellten „eine existenzielle Bedrohung für die Fanprojektarbeit in Karlsruhe“ dar.[7] Gerade die sozialpädagogischen Aktivitäten schienen der Staatsanwaltschaft besonders interessant. Denn sie wollte nicht nur die Namen der Fans erfahren, sondern – so die örtliche Berichterstattung – Informationen über „Tatvorbereitungshandlungen im Vorfeld der Fußballbegegnung“ erlangen. Wie die „große Menge an Pyromaterial trotz Sicherheitsvorkehrungen“ in das Stadion gelangen konnten, blieb auch im späteren Prozess ungeklärt.[8]
Während die Karlsruher Sozialarbeiter*innen sich auf das professionelle Verschwiegenheitsgebot und die rechtlich fundierte Schweigepflicht beriefen, begründeten Staatsanwaltschaft und Gericht ihr Vorgehen mit den Bestimmungen der Strafprozessordnung (StPO).
Strafverfolgung über alles
Die Reichweite des Sozialgeheimnisses in Fragen der Strafverfolgung wird durch die Bestimmungen der StPO bestimmt. Entscheidend sind dabei die Festlegungen zum Zeugnisverweigerungsrecht. Räumt das Gesetz jemanden dieses Recht ein, so ist diese Person nicht verpflichtet, in strafrechtlichen Ermittlungen oder vor Gericht zur Sache auszusagen. Umgekehrt bedeutet dies: alle Personen, denen die StPO dieses Recht nicht zuspricht, sind zur Aussage verpflichtet. In den § 52 und 53 der StPO wird aufgezählt, wer Aussagen zur Sache verweigern darf: In § 52 wird dies (engen) „Angehörigen des Beschuldigten“ zugesprochen, in § 53 und 53a bestimmten „Berufsgeheimnisträger(n)“. Auf das Zeugnisverweigerungsrecht können sich u. a. Priester*innen, Rechtsanwält*innen, Ärzt*innen, Parlamentarier*innen und Journalist*innen (immer im Hinblick auf die Informationen, die ihnen in dieser beruflichen Rolle bekannt wurden) berufen. Für den Bereich der Sozialen Arbeit erlaubt § 53 (Abs. 1 Nr. 3a und 3b) die Aussageverweigerung nur für die Tätigkeit in einer Drogenberatungsstelle oder in der Schwangerschaftskonfliktberatung. In diesen Fällen gewichtet der Gesetzgeber das Vertrauensverhältnis höher als das Strafverfolgungsinteresse. Für alle anderen sozialarbeiterischen Tätigkeiten gilt dies nicht.
Die grundsätzliche Dominanz (anderer) staatlicher Interessen gegenüber dem Sozialdatenschutz zeigt sich auch in den Bestimmungen des SGB X. In den §§ 68-73 SGB X wird der Grundsatz konkretisiert, dass Schweigepflicht und Sozialdatenschutz gegenüber der Strafverfolgung und der Gefahrenabwehr zurücktreten müssen. So heißt es etwa in § 69 SGB X: „Eine Übermittlung von Sozialdaten ist zulässig, soweit sie erforderlich ist … für die Durchführung … eines gerichtlichen Verfahrens einschließlich eines Strafverfahrens“, sofern diese mit den Aufgaben zusammenhängen, wegen deren Erfüllung die Daten erhoben wurden. In § 73 SGB X wird die Übermittlung generell gestattet, wenn wegen „eines Verbrechens oder wegen einer sonstigen Straftat von erheblicher Bedeutung“ ermittelt wird.
Angesichts dieser rechtlichen Konstellation scheint das Ergebnis eindeutig: Mitarbeitende von Fanprojekten können sich nicht auf den Sozialdatenschutz berufen, weil dieser durch Auskunftspflichten im SGB und das fehlende Zeugnisverweigerungsrecht in der StPO außer Kraft gesetzt wird.
Der Gesetzgeber
Die Karlsruher Vorgänge haben denn auch alte Initiativen wiederbelegt, das strafprozessuale Zeugnisverweigerungsrecht auf Sozialarbeiter*innen auszudehnen. 1991 war das Zeugnisverweigerungsrecht für die Beschäftigten in Drogenberatungsstellen eingeführt worden. In der Gesetzesbegründung bezeichnete der Bundesrat, der den Gesetzentwurf eingebracht hatte, das ausgeweitete Zeugnisverweigerungsrecht als „Ausfluss des den gesamten Strafprozess beherrschenden Rechtsgedankens, dass ‚die Wahrheit nicht um jeden Preis erforscht werden muss‘“. Die neue Regelung sei
„Resultat einer vom Gesetzgeber getroffenen Interessenabwägung, bei der der Gesetzgeber deutlich gemacht hat, daß das Allgemeininteresse an der Aufklärung von Straftaten nicht immer und automatisch höher zu bewerten ist als das Geheimhaltungsinteresse, das in manchen Berufsbereichen zwischen den Berufsangehörigen und denen, die bei ihnen Rat und Hilfe suchen, besteht.“[9]
Die Vorgänge in Karlsruhe haben die Aktivitäten von Sozialarbeiter*innen verstärkt, die „Interessenabwägung“ dahingehend zu beeinflussen, dass das Zeugnisverweigerungsrecht auch für sozialarbeiterische Tätigkeiten gilt. In ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion zählte die Bundesregierung im Dezember 2023 eine Reihe sozialarbeiterischer Arbeitsfelder auf, für die ein Zeugnisverweigerungsrecht gefordert werde: Beratungsstellen für Gewaltopfer, Fachberatungen gegen Menschenhandel, Beratungen gegen sexualisierte Gewalt, Ausstiegsberatung, Beratungen für den Bereich geschlechtsspezifische und häusliche Gewalt und die Fanarbeit. Zu anderen Bereichen, die die Kleine Anfrage auflistete (u. a. Straßensozialarbeit, Arbeit mit Obdachlosen, Arbeit mit stigmatisierten Minderheiten) lagen „der Bundesregierung … im Übrigen keine Erkenntnisse vor.“[10] Selbst die rudimentären Kenntnisse der Bundesregierung erlauben den Schluss, dass die Aussagepflicht in strafrechtlichen Ermittlungsverfahren in vielen sozialarbeiterischen Bereichen als Belastung für die eigene Arbeit wahrgenommen wird.
In der Vergangenheit ist immer wieder versucht worden, den Bundesgesetzgeber zu einer Novellierung des § 53 StPO zu veranlassen. Ein von der „Koordinierungsstelle Fanprojekte“ in Auftrag gegebenes Gutachten kam 2018 zu dem Ergebnis, dass ein generelles Zeugnisverweigerungsrecht weder sachlich geboten, noch rechtlich zulässig sei. Allerdings reiche „der vorgesehene Vertrauensschutz … für beratende Arbeitsfelder in zugespitzten Situationen nicht aus“. Die Gutachter plädierten für die Erweiterung von § 53 StPO auf staatlich anerkannte Sozialarbeiter*innen, die in anerkannten Stellen der Jugendhilfe aufsuchende Sozialarbeit (z. B. Streetwork oder Fanarbeit) mit jungen Menschen betreiben.[11]
Die durch das Gutachten verstärkte Diskussion führte Anfang 2020 zur Gründung des „Bündnis für ein Zeugnisverweigerungsrecht in der Sozialen Arbeit (BfZ).[12] Zu den acht Gründungmitgliedern des Bündnisses gehören u. a. der Berufsverband für die Soziale Arbeit (DBSH), die Bundesarbeitsgemeinschaften Streetwork, Fan- und Ausstiegsprojekt, der Arbeitskreis der Opferhilfen und die Koordinierungsstellen Fanprojekte. Entgegen der eingeschränkten Fassung des Gutachtens fordert das Bündnis „die Aufnahme der Mitarbeiter*innen der Sozialen Arbeit in die geschützte Berufsgruppen des § 53 Abs. 1 StPO“.[13]
Ende 2023 präsentierte der Bundesverband der Arbeiterwohlfahrt ein von ihm in Auftrag gegebenes Gutachten. Nach Prüfung der rechtlichen Lage, der Entwicklung sozialarbeiterischer Tätigkeitsbereiche und der Professionalisierung in der Sozialen Arbeit schlägt der Autor die Erweiterung des Zeugnisverweigerungsrechts auf staatlich anerkannte Sozialarbeiter*innen vor, die in öffentlich anerkannten Einrichtungen tätig sind. Dabei soll sich die Verweigerung nur auf Sachverhalte beziehen, die über den Sozialdatenschutz der Verschwiegenheit unterliegen.[14]
Politische Akteur*innen haben die Forderungen eher verhalten aufgenommen. Eine Ausnahme stellt der Koalitionsvertrag von CDU, SPD und Bündnis90/Die Grünen in Sachsen von 2019 dar.[15] Doch erst nach drei Jahren forderten die Regierungsfraktionen die Staatsregierung auf, „sich auf Bundesebene“ für das Zeugnisverweigerungsrecht „einzusetzen“,[16] was zeigt, wie wenig ernsthaft die Ankündigung im Koalitionsvertrag war.
In der erwähnten Antwort der Bundesregierung wird deutlich, welche (argumentativen) Widerstände einer Erweiterung des Zeugnisverweigerungsrechts entgegenstehen. Diese sei schlicht „nicht geboten“. Unter Verweis auf eine mehr als 50 Jahre alte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wird auf „das verfassungsrechtliche Gebot einer effektiven Strafverfolgung“ verwiesen, dessen Begrenzung durch ein Zeugnisverweigerungsrecht „auf das unbedingt erforderliche Maß“ zu beschränken sei. Für die beiden Beratungskonstellationen (Abtreibung, Drogen) sei dieses Maß erreicht, weil die Beratungsanlässe „typischerweise zu einer eigenen strafrechtlichen Verfolgung [für die Ratsuchenden] führen kann“. Dies sei bei Fußballfans nicht zu erwarten, denn diese liefen „üblicherweise nicht selbst Gefahr, sich wegen einer Straftat verantworten zu müssen“. Darüber hinaus gebe es vielfältige sozialpädagogische Angebote für Fußballfans (und andere Klientele), die durch das fehlende Zeugnisverweigerungsrecht nicht berührt würden. Und apodiktisch: „Aus Sicht der Bundesregierung ist es zudem verfehlt, die Schaffung und Aufrechterhaltung einer Vertrauensbeziehung von einem Zeugnisverweigerungsrecht abhängig zu machen.“[17]
Praktiken des Strafens und der Strafverfolgung
Der hohe Wert einer „effektiven Strafverfolgung“ ergibt sich aus der Logik des Strafrechts, dem eine Sicherheit schaffende Wirkung unterstellt wird. Würden die Einrichtungen der „Strafrechtspflege“ ihrer Aufgabe nur halbherzig nachkommen, wäre mit der Sicherheit auch das gesamte System infrage gestellt. Die „konsequente Strafverfolgung“ kann sich deshalb auf das geltende Recht berufen, das nur der Gesetzgeber ändern kann – wozu er bislang jedoch nicht bereit ist.
Dabei verkennt der Verweis auf die geltende Rechtslage, aus der sich ein faktischer Handlungszwang ergäbe, die Realität der Strafverfolgung. In einer Protestnote anlässlich der Karlsruher Strafbefehle verweisen Hochschullehrer*innen auf die bislang geübte Praxis:
„Staatsanwaltschaften und Polizeibehörden erkennen gewöhnlich an, dass sozialarbeiterische und sozialpädagogische Angebote einen wichtigen Beitrag zur Bearbeitung sozialer Konflikte und auch zur Vermeidung von Straftaten leisten können. Sie haben deshalb sinnvollerweise kein Interesse daran, die Grundlagen sozialarbeiterischer Intervention und Prävention zu destruieren.“[18]
Dass die Behörden nicht alle zur Verfügung stehenden Instrumente der StPO nutzen, ist keine Besonderheit im allgemeinen Umgang mit Fanprojekten im Fußball. Es gibt viele andere Bereiche, in denen die Abwägungen möglicher Folgen Polizei und Staatsanwaltschaften dazu veranlasst, ihre rechtlichen Möglichkeiten nicht auszuschöpfen. Nur zwei beliebige Beispiele: Offene Drogenszenen werden an manchen städtischen Orten toleriert, weil ihre vollständige Zerschlagung zu Verdrängungseffekten führen würde, deren Konsequenzen größere Probleme für die Stadtgesellschaft zur Folge haben würden. Auch wird das räumliche Umfeld von Drogenkonsumräumen („Druckräume“) nicht zu gezielten polizeilichen Kontrollen genutzt, obwohl der Besitz illegaler Drogen bei den Nutzer*innen der Räume regelmäßig vorliegt. Der Verzicht auf diese Kontrollen bedeutet einen Verzicht auf „effektive Strafverfolgung“. Er geschieht – zurecht –, damit das Angebot der Druckräume überhaupt angenommen wird.
Jenseits dieser einzelnen Felder muss darauf hingewiesen werden, dass jede Entscheidung über Ressourcen (Finanzen, Personal, Organisation) eine Entscheidung darüber darstellt, mit welchem Nachdruck „effektive Strafverfolgung“ betrieben wird: wenn wenig Personal zur Verfolgung von Umweltdelikten oder Börsenbetrug zur Verfügung steht, dann bleiben viele Straftaten in diesen Bereichen unentdeckt und nicht verfolgt. Insofern ist „effektive Strafverfolgung“ zwar ein hehrer rechtsstaatlicher Grundsatz, seine praktische Umsetzung aber immer von Abwägungen zwischen unterschiedlichen Interessen und (Neben)Folgen abhängig.
Die Karlsruher Vorgänge sind deshalb nicht eine quasi automatische Folge der Rechtslage, sondern sie resultieren aus einer bewussten Entscheidung, gegen die Mitarbeiter*innen des Fanprojekts vorzugehen und die negativen Folgen für deren Arbeit bewusst in Kauf zu nehmen. Angesichts des Umstands, dass auch ohne die Aussagen der Sozialarbeiter*innen 24 Tatverdächtige ermittelt werden konnten, scheint das Vorgehen gegen das Fanprojekt und die Strafbefehle deutlich unverhältnismäßig.
Sozialarbeit unter Strafandrohung
Die Karlsruher Vorgänge – von der Androhung der Beugehaft bis zur Verhängung von Strafbefehlen, deren Höhe mehreren sozialarbeiterischen Monatsgehältern entspricht – haben Auswirkungen auf die Fanarbeit insgesamt, aber auch auf andere Felder der Sozialen Arbeit. Nach eigenem Bekunden weiß die Bundesregierung nicht, in wie vielen Fällen gegen Sozialarbeiter*innen wegen unterlassener Zeugenaussagen strafrechtlich vorgegangen wurde; die Bundesländer seien hier zuständig.[19] Aus den Bundesländern sind keine Angaben dazu bekannt. In ihrem jüngsten Sachstandsbericht verweist die „Koordinierungsstelle der Fanprojekte“ allerdings darauf, dass Mitarbeiter*innen von Fanprojekten in jüngster Zeit vermehrt als Zeug*innen vorgeladen würden.[20]
Das Karlsruher Vorgehen hat allen Sozialarbeiter*innen vor Augen geführt, dass sie jederzeit als Zeug*innen in Ermittlungsverfahren mitwirken müssen. Angesichts dieses Umstands haben sie drei Verhaltensoptionen:
- Sie sagen als Zeug*innen aus und riskieren damit, dass sich das Verhältnis zu ihren Adressat*innen verschlechtert, ihre Arbeit erschwert wird und der Vertrauensverlust auf andere Projekte negativ ausstrahlt.
- Sie entscheiden sich für den „Karlsruher Weg“, verweigern die Aussagen, um das Vertrauen zu ihrer Klientel und damit die Basis ihrer Arbeit nicht zu zerstören. Dann müssen sie mit Beugehaftdrohungen und empfindlichen Geldstrafen rechnen.
- Sie betreiben die Sozialarbeit nur so weit, dass ggf. strafrechtlich relevante Sachverhalte nicht angesprochen werden. Damit vergeben sie allerdings die Chance, Probleme wahrnehmen zu können, sie gemeinsam aufzuarbeiten und daraus lernen zu können.
Die Alternativen zeigen, dass eine nachhaltige Sicherung der (Fan-)Sozialarbeit nur durch die Ausdehnung des Zeugnisverweigerungsrechts erreicht werden kann.
Politische Selbstentwertung
Die Vorgänge in Karlsruhe sind noch in einer weiteren Hinsicht lehrreich. Denn es ist eigentlich Konsens, auf die sozialen Ursachen von Kriminalitäts- und Sicherheitsproblemen hinzuweisen und in diesem Zusammenhang das Zusammenwirken von strafenden Instanzen (Polizei, Staatsanwaltschaft) und helfenden Instanzen wie der Sozialarbeit zu fordern. Diesbezügliche Forderungen erstrecken sich auf viele Konfliktfelder (von der häuslichen Gewalt bis zum Terrorismus); sie reichen von der Prävention bis zur Resozialisierung. Dabei wird seit Jahren als Basis der Zusammenarbeit betont, dass die Beteiligten ihre Arbeitsfelder und Zuständigkeiten gegenseitig respektieren und sich auf „Augenhöhe“ begegnen müssten.[21]
„Karlsruhe“ zeigt das Gegenteil: Im Ernstfall liegt die Dominanz bei den strafenden Instanzen; Sozialarbeiter*innen sind noch nicht einmal Juniorpartner, sondern unter Strafandrohung mitwirkungspflichtig. Sofern die Politik ihre Einsicht ernst nimmt, dass Sicherheitsprobleme wegen ihrer sozialen Verursachung einer sozialen Antwort bedürfen, müsste sie die Voraussetzungen schaffen, die sozial intervenierenden Institutionen in die Lage zu versetzten, ihrer Arbeit mit Aussicht auf Wirkung nachgehen zu können.