Fünf Jahre hat Bethi Ngari in verschiedenen Geflüchtetenunterkünften, die sie nur Lager nennt, in Berlin und Brandenburg gelebt. Gemeinsam mit anderen Frauen*, die von der doppelten Diskriminierung als Frauen* und Migrantinnen* betroffen und über ihre Kinder vernetzt waren, wehrte sie sich gegen die Missstände der Lager. Im Jahr 2002 gründeten sie Women* in Exile, haben sich Wissen, Selbstbewusstsein und Räume angeeignet. Heute hält Women* in Exile Kontakt zu Frauen* in Lagern, gibt Workshops für geflüchtete Frauen*, spricht auf Demonstrationen und Konferenzen und ist Teil (inter-)nationaler Netzwerke. Im Interview beschreibt Bethi, wie die Lager Protest erschweren und selbst eine basale Sicherheitsproduktion durch Community, wie sie Transformative Justice– oder Community Accountability-Konzepte herbeisehnen, verunmöglicht. Die Gruppe fordert daher abolitionistisch, Lager und rechtliche Restriktionen zum Wohnort abzuschaffen: Geflüchtete Frauen* sollen frei entscheiden können, wo sie wohnen.
Erstaufnahmeeinrichtung, Asylbewerberübergangsheim, Ankerzentrum, Flüchtlingsunterkunft: Es gibt so viele verwirrende Wörter für das, was ihr bewusst einheitlich Lager nennt. Warum verwendet ihr diesen Begriff?
Bethi: Wir haben uns dafür entschieden, um klarzumachen, dass wir an Orten untergebracht sind, die wir uns nicht ausgesucht haben. Als Geflüchtete*r wird man nicht gefragt, was man will oder wo man bleiben will. Viele, die neu in die Lager kommen, denken, dass sie nur vorübergehend dort untergebracht sind, bis eine bessere Unterkunft gefunden ist. Aber bald lernen auch sie Menschen kennen, die schon seit Jahren im Lager leben. Die Lager lassen die Menschen verzweifeln, sie fressen ihre Hoffnungen, Träume und Ambitionen. Menschen werden dort gelagert. Die Sachen mit den Lagern ist die: Man verstaut dort Dinge, damit man nicht mehr über sie nachdenken muss. Man weiß, wo sie sind, man weiß, dass sie dort lange bleiben können, und man weiß, dass man sich nicht um sie kümmern muss.
Die Verwendung des Wortes Lager ist also ein Versuch, die Brutalität des deutschen Migrationssystems zu benennen?
B.: Wir wollen mit dem Begriff das System angreifen. Wir sind uns dessen bewusst, dass der Begriff Lager in Deutschland eine historische Bedeutung hat und deswegen in der öffentlichen Wahrnehmung funktioniert. Er hilft aber auch Geflüchteten dabei, zu erkennen, dass Lager ein System sind, unabhängig von der Unterkunft.
Besonders Frauen* sind in Lagern von Gewalt betroffen. Ihr sagt, dass Frauen* in Lagern doppelt diskriminiert werden. Was meint ihr damit?
B.: Frauen* und Kinder haben in den Lagern andere Probleme als Männer. Wer in einem Lager lebt, ist umgeben von Menschen in psychischen Krisen, die nur selten ärztlich behandelt werden. Die Zimmer und Etagen sind überfüllt, man teilt sich Toiletten, Duschen und Küchen. In den vielen Konflikten, die dadurch entstehen, sind die Schwächsten am meisten gefährdet. Frauen* sind in den Lagern, die obendrein oft mitten im Wald liegen, körperlicher und sexueller Gewalt ausgesetzt; auf den Gemeinschaftstoiletten mangelt es an Hygiene, weil sie sich zu viele Menschen teilen müssen; und es gibt z. B. Konflikte, weil lesbische Frauen zusammen mit anderen in einem Zimmer wohnen müssen, die Vorurteile ihnen gegenüber haben.
Deshalb hast du dich gemeinsam mit anderen Geflüchteten in der Flüchtlingsinitiative Brandenburg engagiert, einer selbstorganisierten Flüchtlingsgruppe. Zusammen habt ihr gegen Diskriminierung gekämpft – bis du und weitere Frauen* nach drei Jahren beschlossen habt, eine autonome Frauen*gruppe zu gründen. Nicht nur, aber auch wegen des Machtgefälles in der Gruppe. Was ist dort passiert?
B.: Mehrere Jahre haben wir vor allem gegen Gesetze angekämpft, die Flüchtlinge diskriminieren, wie etwa die Residenzpflicht. Irgendwann war für mehrere Frauen in der Gruppe klar, dass wir aufgrund der Gewalt in den Lagern auch für uns als Frauen* kämpfen mussten. Wir wurden aber ausgebremst.
Von wem?
B.: Nicht nur und nicht alle Männer, aber vor allem Männer wollten nicht, dass wir über die Geschlechterungleichheit in den Lagern sprechen. Sie wollten in der Öffentlichkeit lieber Einigkeit als Geflüchtete zeigen.
Wie waren die Reaktionen in eurer Community auf die Gründung von Women* in Exile als autonome Gruppe von geflüchteten Frauen*?
B.: Viele der Männer in der Gruppe haben sich extrem angegriffen gefühlt, dass wir ihre Gruppe verlassen haben – auch, weil sie uns als ihre Repräsentantinnen* brauchten. Wir haben angeboten, weiterhin zusammenzuarbeiten, aber sie wollten nicht, dass wir Frauenthemen einbringen. Es fielen dann viele Schimpfworte, und wir wurden gefragt: Seid ihr Feministinnen* geworden? Ihr lauft den Lesben* hinterher? Das war ganz schön heftig. Die Reaktionen auf die Gründung von Women* in Exile haben aber auch gezeigt, dass die eigenständige Organisierung unumgänglich war. Inzwischen sind viele der Männer, die uns damals kritisiert haben, nicht mehr aktiv. Das ist oft so, wenn Geflüchtete einen gesicherten Aufenthaltsstatus bekommen, das Lager verlassen und arbeiten können. Trotz unseres Konflikts respektieren wir einander. Wir haben einige gemeinsame Interessen und müssen Wege finden, gemeinsam zu kämpfen, auch wenn uns das bisher nicht geglückt ist.
Women* in Exile gibt es mittlerweile schon seit mehr als 20 Jahren. Habt ihr das Gefühl, dass eure Arbeit in der Community etwas bewegt hat?
B.: Ich denke schon. Schon allein, wenn man sich unsere Entwicklung ansieht. Heute sind wir in vielen Räumen präsent, halten Vorträge und machen Workshops. Anfangs hatten wir diese Bühne noch nicht. Aber wir haben sie uns genommen. Wir Frauen* sind selbstbewusster geworden, wir sprechen über die Missstände, unter denen wir leiden, und wir glauben an unsere Fähigkeiten. Durch unsere peer to peer education können wir viele Frauen* empowern und gemeinsam viel erreichen.
Das heißt, euer Fokus bei der Communityarbeit liegt auf den Frauen*, die Haltung der Männer verändert ihr indirekt, aber das ist nicht Euer Fokus?
B.: Wir arbeiten mit den Männern zusammen, wenn es um Gesetzesänderungen geht. Aber unsere Empowerment-Arbeit ist nur für Frauen*, auch wenn das natürlich für Männer auch wichtig sein kann.
Kürzlich hat Women* in Exile das Buch „Breaking Borders to Build Bridges“ beim Assemblage-Verlag veröffentlicht, in dem du die Geschichte von deiner Ankunft in Deutschland bis heute erzählst. In deinem Beitrag bin ich immer wieder über zwei Begriffe gestolpert: Community und Autonomie. Ich erkenne sie auch in eurem Slogan: Keine Lager für Flüchtlingsfrauen* und Kinder. Abolish all Lagers. Wie kommen Community und Rechte besonders Diskriminierter darin zusammen?
B.: Wir verorten uns sowohl in der feministischen als auch in der Flüchtlingsbewegung. Wie die Reaktionen auf die Gründung von Women* in Exile gezeigt haben, trennt die Bewegungen etwas. Wir möchten eine Brücke sein zwischen den Kämpfen. Für uns geht das aber nur, indem wir zuerst sicherstellen, dass Frauen* unserer Community selbst entscheiden können, was sie wo, wann und wie tun möchten. Entscheidungsfreiheit bedeutet, ein Leben in Würde führen zu können.
Nachdem ihr euch zehn Jahre ausschließlich als geflüchtete Frauen* organisiert habt, habt ihr euch unter dem Titel „Women in Exile & Friends“ 2011 für Frauen* ohne Fluchthintergrund geöffnet. Welche Befürchtungen und Hoffnungen waren damit verbunden? Habt ihr dadurch an Autonomie verloren?
B.: Die Freundinnen* sind Frauen*, die uns lange Zeit unterstützt haben. Sie sind diejenigen, die für uns übersetzen und die Dokumentation übernehmen, und mit denen wir gemeinsam Aktionen planen. Sie waren immer da. Irgendwann haben wir uns entschieden, sie zu integrieren. Sie sollten sich als Teil der Gruppe fühlen und nicht nur Unterstützerinnen* sein. Natürlich hatten wir Angst, von Frauen* ohne Fluchthintergrund dominiert zu werden. Deswegen haben wir klar gesagt, dass wir die Ausrichtung von Women* in Exile nicht verändern werden. Wir möchten auch weiter für uns sprechen und möchten nicht, dass das andere in unserem Namen tun.
Ihr habt euch nicht nur für die Freund*innen geöffnet, sondern in der Vergangenheit auch viel mit anderen linken Gruppen zusammengearbeitet. Du hast erzählt, dass ihr euch teilweise instrumentalisiert gefühlt habt. Kannst du beschreiben, welche Erfahrungen ihr gemacht und was ihr gelernt habt?
B.: Es ist immer komplex, wenn man mit anderen Gruppen zusammenarbeitet. Jede Gruppe hat ihre eigenen Ideologien und Arbeitsweisen. Als wir bekannter wurden, wurden wir teils auch von Gruppen eingeladen, die sich nicht wirklich für unsere Arbeit interessierten. Gerade in den Anfangsjahren haben wir uns viel Mühe gegeben, sind oft über mehrere Stunden aus dem Lager angereist und wurden auf dem Weg noch von der Polizei kontrolliert. Die geringe Wertschätzung, die wir mancherorts erlebt haben, hat uns das Gefühl gegeben, als wären wir das hübsche Kleid für das Foto: Seht her, wir arbeiten mit Geflüchteten, wir sind divers! Das ist aber nicht nur ein Problem von linken Gruppen. Wir haben auch oft bei Mainstream-Netzwerken, die sich für die Integration von Geflüchteten einsetzen, Vorträge gehalten. Aber was hilft das Reden, wenn keine Taten folgen, und wir keine Unterstützung spüren?
Wie geht ihr mit diesen Gruppen um?
B.: Wir versuchen, mit den Beteiligten offen über die Probleme zu sprechen, die wir in der Zusammenarbeit sehen. Wir haben gelernt, dass es nicht immer an politischem Bewusstsein mangelt, sondern häufig die Routinen der Gruppen im Wege stehen. Wenn man darüber reden kann, ist meist schon viel gewonnen.
Euer Aktivismus ist in extrem bedrohliche Bedingungen eingebettet. Einen traurigen Höhepunkt fand die Gewalt, die Frauen* in und um Lager erleben, in dem Tod eurer Schwester Rita, die 2021 in der Nähe eines Lagers ermordet wurde. Wie denkst du über Sicherheit nach? Sind Polizei und Staat verzichtbar, wenn es darum geht, Leben zu schützen?
B.: Puh, das ist eine schwierige Frage. Wie soll die Polizei Sicherheit garantieren, wenn sie gewaltsam Abschiebungen durchführt, Leute nachts aus ihren Betten reißt und in Flugzeuge steckt und auf der Straße racial profiling betreibt? In diesen Momenten schützt uns die Polizei nicht, sondern wir sind ihr schutzlos ausgeliefert. Ich habe aber auch schon Frauen* zur Polizei begleitet, um sexuelle Belästigung anzuzeigen und für Gerechtigkeit zu kämpfen. Doch Polizist*innen sollten uns nicht nur schützen, wenn wir Anzeigen aufgeben, sondern auch z. B. in unserer Unterkunft, und dort sehe ich sie als Gewalttäter*innen. Daher kann ich diese Frage nicht eindeutig beantworten.
Du kennst viele Lager in Berlin und Brandenburg. Hast du mitbekommen, dass Geflüchtete sich in Lagern als Communities organisiert haben und ihre Sicherheit oder ihr Sicherheitsgefühl auf diese Weise steigern konnten?
B.: In Lagern gibt es so etwas wie Sicherheit nicht. Du hast Rita erwähnt. Rita hat vor ihrem Tod die Leitung des Lagers darauf hingewiesen, dass sie in Gefahr ist und ein Mitbewohner sie belästigte. Geholfen hat es ihr nicht. Ich glaube auch nicht, dass eine Community Sicherheit innerhalb des Lagers schaffen kann. Das Personal wird immer einen Grund finden, um die Menschen, die sich politisch engagieren, zu bestrafen. Und es ist nicht schwer, Menschen einzuschüchtern, die um ihren Aufenthaltstitel fürchten. Der Protest in den Lagern ist leicht zu brechen. Wenn z. B. jemand abgeschoben werden soll, kann die Person zu anderen ins Zimmer gehen, das schafft schon eine Art Community, aber die Polizei weiß von der Lagerleitung, wo sie dann an die Tür klopfen muss. Es ist wichtig, sich als Teil einer Community zu fühlen – um sich stark zu fühlen. Wenn ich aber die Situation in den Lagern betrachte, glaube ich, dass es mit Blick auf die reale Sicherheit der Menschen keinen Unterschied macht, ob die Leute sich als Teil einer Community fühlen oder nicht.
Du hattest sexualisierte Gewalt erwähnt – gibt es diesbezüglich Ansätze innerhalb des Lagers, die Situation wenigstens ein bisschen abzumildern? Unterstützen sich z. B. Frauen* untereinander? Und was ist bei diesem Thema die – positive oder negative – Rolle der Lagerleitung oder Sicherheitsdienste?
B.: Wir Frauen* unterstützen einander sehr, auch z. B. wenn Frauen* Kinder haben, passen sie gegenseitig auf diese auf. Zum Teil gibt es auch Unterstützung seitens des Lagers, z. B. Sozialarbeiter*innen, die zumindest einzelnen Personen helfen. Aber das Sicherheitspersonal schafft keine Sicherheit. Sie sind wie Gefängniswärter*innen. Sie dealen Drogen, belästigen Frauen* sexuell, und kommen z. B. ohne anzuklopfen in die Zimmer, auch wenn wir nackt sind.
Stelle dir vor, alle Lager sind abgeschafft. Wie sieht deine Vision für unsere Gesellschaft aus? Wie können Menschen dann wohnen, einzeln oder – dann ohne Zwang – vielleicht trotzdem kollektiv zusammenleben?
B.: Wie Menschen zusammenleben wollen, kann ich nicht beantworten. Die Frage, auf die unsere Gesellschaft aber eine Antwort finden muss, ist: Wie können wir Frauen* ein Leben in Würde und der Freiheit ermöglichen, zu entscheiden, wo, wie und mit wem sie leben möchten. Es geht um Selbstbestimmung. Die Frauen sollen entscheiden können. Wenn sie in einer Wohngemeinschaft wohnen wollen, können sie das tun, aber sie sollen entscheiden können.