Die Untersuchung zu „Motivation, Einstellung und Gewalt im Alltag von Polizeivollzugsbeamten“ verspricht eine Zustandsbeschreibung der deutschen Polizeien aus der Sicht ihrer Beschäftigten. Die Ergebnisse sind wenig überraschend und wegen methodischer Probleme mit Vorsicht zu genießen. Insgesamt deuten sie eher die Spitze als das Ausmaß von Problemen an. Das gilt nicht nur, aber auch für das Thema „Rassismus und Polizei“.
Nach der langjährigen Kritik am „racial profiling“ und nach dem Tod von George Floyd, der auch hierzulande massenweise Proteste gegen Polizeirassismus ausgelöst hatte, führten die gehäuften Berichte über rechtsextreme Chatgruppen von deutschen Polizist*innen im Herbst 2020 zur öffentlichen Forderung, den Rassismusverdacht gegenüber der deutschen Polizei mit wissenschaftlichen Mitteln zu erforschen. Der damalige Bundesinnenminister Horst Seehofer lehnte eine solche Untersuchung kategorisch ab: „Es wird keine Studie geben, die sich mit Unterstellungen und Vorwürfen gegen die Polizei richtet.“ Um die öffentliche Debatte zu entspannen – und zugleich andere Interessen zu bedienen –, verständigte sich die Bundesregierung darauf, zwei Studien in Auftrag zu geben:[1] Eine Untersuchung zum „Alltagsrassismus“ sollte die „Entwicklung und Verbreitung diskriminierender Handlungen in der Zivilgesellschaft, in Wirtschaft und Unternehmen sowie öffentliche Institutionen … erforschen, die durch rassistische Einstellungen motiviert sind.“ Diese Studie („InRa-Studie. Institutionen & Rassismus“) wird mittlerweile vom „Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt“ betrieben und gegenwärtig in 23 Teilprojekten umgesetzt.[2]
„Zudem“, so die Pressemitteilung des Bundesinnenministeriums (BMI), „soll eine Untersuchung des Polizeialltags beauftragt werden. Ziel ist es, den Polizeialltag, das Verhältnis zwischen Polizei und Gesellschaft und die veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen genauer zu analysieren. Dazu gehören auch Gewalt und Hass gegen Polizeibeamte.“ Durch diesen Doppelbeschluss wurden Rassismus und Polizei möglichst weit getrennt, statt nach Rassismus innerhalb der Polizei wurde der forschende Blick auf die Polizei als Opfer von Gewalt, Hass und „gesellschaftlichen Rahmenbedingungen“ ausgerichtet.
Bereits Anfang Dezember 2020 teilte das Bundesinnenministerium mit, dass die Deutsche Hochschule der Polizei (DHPol) mit der Durchführung der Studie beauftragt wurde. In dreijähriger Laufzeit sollten drei Themenkomplexe untersucht werden: „Motivation der Berufswahl, Berufsalltag und Gewalt gegen Polizisten“. Das BMI erwartete „Best-Practice-Modelle und Handlungsempfehlungen“, um „Arbeitszufriedenheit und Motivation“ positiv beeinflussen und „Gewalterfahrungen minimieren“ zu können. Neben Hilfsangeboten, die für „durch Gewalt oder extreme Arbeitsbelastung betroffene Polizeibeamte“ entwickelt werden sollten, wurde von der Studie auch erwartet, dass die „Maßnahmen, die sicherstellen, dass der Grundsatz der Nulltoleranz gegenüber Antisemitismus, Rechtsextremismus und Rassismus in und von der Polizei gelebt wird, fortgeschrieben und bei Bedarf weiterentwickelt werden“.[3] So kam der Rassismus nur durch die Hintertür in die Studie: nicht als zu erforschender Gegenstand, sondern als etwas, was es wegen „gelebt(er)“ „Nulltoleranz“ eigentlich gar nicht geben darf.
MEGAVO
Die Untersuchung lief (und läuft weiterhin) unter dem Titel „Motivation, Einstellung und Gewalt im Alltag von Polizeivollzugsbeamten – MEGAVO“. In der von der späteren Leiterin der Studie Anja Schiemann, mittlerweile Professorin für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Universität zu Köln und gegenwärtig als Gastprofessorin für das MEGAVO-Projekt an der DHPol tätig, geschriebenen „Projektskizze“ wurden drei „Forschungsfragestellungen“ formuliert, die in drei Modulen untersucht werden sollten: Im ersten Modul die Motive zur Berufswahl, einschließlich der mit ihnen verbundenen „Einstellungsmuster“, sowie die Wandlungen von Motiven und „Wertorientierungen“ im Laufe des Berufslebens; im zweiten Modul die Erfahrungen von Polizist*innen im Berufsalltag, einschließlich der Einschätzungen zu Arbeitsplatz und -ausstattung und zur „Work-Life-Balance“; und im dritten Modul die „negativen Erfahrungen von Polizeibeamten in Bezug auf kritische und eskalierende Situationen“.[4]
Die Skizze kündigte eine „Mixed-Methods-Studie“ an: quantitative und qualitative Methoden sollten kombiniert werden, damit die „Validität der Ergebnisse gesteigert werden kann“. Die Daten für das erste Modul sollten durch eine „Vollerhebung und Befragung aller Polizeibeamten des Bundes und der Länder mittels Online-Fragebogen“ gewonnen werden. Auf Grundlage der Befragung sollten Experteninterviews stattfinden, um „Kriterien zu identifizieren“, wie der o. g. „Grundsatz der Nulltoleranz“ auch in Zukunft gewährleistet werden kann. Die besonderen Herausforderungen im Berufsalltag sollten durch „teilnehmende Beobachtungen, Fokusgruppen und Einzelinterviews“ erhoben werden. Die drei Module sollten in vier „Arbeitspakten“ umgesetzt werden: (1) Berufswahl-Motive: Online-Befragung zu Beginn und am Ende des dreijährigen Projekts sowie Experteninterviews, (2) Berufsalltag: teilnehmende Beobachtung, Fokusgruppengespräche, Experteninterviews und die Entwicklung eines spezifischen Fragebogens, (3) Gewalt gegen Polizisten: Einzelinterviews, (4) Motivations- und Einstellungsmuster: Online-Erhebung mit Wiederholung sowie nachfolgende Panelerhebungen.
Erste Ergebnisse
Das Projekt startete im März 2021. Anfang April 2023 wurde ein Zwischenbericht vorgelegt, in dem erste Ergebnisse aus den teilnehmenden Beobachtungen und die Daten der (ersten) Online-Befragung präsentiert wurden.[5] Die teilnehmenden Beobachtungen hatten im Laufe eines Jahres in 26 Dienststellen (Kriminal-, Schutz- und Bereitschaftspolizei) in fünf Bundesländern stattgefunden. Jede Dienststelle wurde an sechs Tagen teilnehmend beobachtet; in der Regel an drei aufeinander folgenden Tagen innerhalb von zwei Wochen. Die Ergebnisse dieses Teils waren wenig spektakulär: dass sich die Motivation für den Polizeiberuf im Laufe des Lebens ändert, dass Kollegialität als besonders wichtig erachtet wird, dass die Hilfsangebote bei außergewöhnlichen Belastungen ausgebaut werden sollten etc. Allerdings wurde auch auf beobachtete „Reifizierungen und Stereotypisierungen“ hingewiesen, die durch den nachfolgenden Satz jedoch sogleich in die Nähe des bekannten Arguments gebracht wurde, dass die negative Einstellungen gegenüber bestimmten Gruppen auf die schlechten Erfahrungen der Polizist*innen mit diesen zurückzuführen seien: „Ebenso wurde die Gefahr einer Bewusstseinsänderung, besonders in Brennpunktwachen durch wiederholt erlebte kritische Situationen, von manchen Polizeivollzugsbeamt:innen bestätigt.“ (S. 15)
Die Online-Befragung hatte von November 2021 bis Oktober 2022 stattgefunden. Mit Ausnahme von Baden-Württemberg und Hamburg (und der Polizei des Bundestages) wurden alle Polizeibeschäftigten in Deutschland schriftlich um Beteiligung gebeten. Am Ende der Befragung lagen 50.825 auswertbare Fragebögen vor. Die Beteiligungsquote lag im Durchschnitt bei etwas über 16 % aller Beschäftigten, mit einer Spannweite von 6 bis 33 % (wobei in 12 Ländern/Behörden die Beteiligung 15 % überschritt). (S. 17) Insgesamt zeigten die Antworten wenig Überraschendes: hohe Identifikation mit dem Beruf, überwiegend zufrieden mit der Arbeit, stark variierende Belastungen … Im Hinblick auf die „Einstellungen zu Diversität, Autoritarismus … sowie zum demokratischen System konnte „allenfalls eine kleine Anzahl von Personen“ identifiziert werden, „die ein konsistent menschen- und demokratiefeindliches Weltbild aufweist“. (S. 72)
Im Juli 2024 wurde der „Projektbericht 2021-2024“ der Öffentlichkeit vorgestellt.[6] In einer Pressemitteilung von September lobte Bundesinnenministerin Nancy Faeser die Studie, weil sie „differenzierte Erkenntnisse zu Einstellungen und Alltagserfahrungen“ der Polizei biete.[7] Eine „gute, unabhängige Polizeiforschung“ sei nötig, „um die Arbeitsbedingungen zu verbessern und Fehlentwicklungen zu begegnen“. In fünf Punkten fasste die Pressemitteilung zentrale Ergebnisse der Studie zusammen:
- Motivation im und Identifikation mit dem Polizeiberuf sei „insgesamt recht hoch“.
- Das Risiko, im Dienst Opfer einer Gewalttat zu werden, sei „um ein Mehrfaches höher als in der Gesamtbevölkerung“.
- „Mehrheitlich“ entspräche „die Einstellung der Beamtinnen und Beamten … der freiheitlich-demokratischen Grundordnung; sie sei „von Toleranz und Zustimmung zur Demokratie geprägt“.
- „Menschenfeindliche Positionen“ ließen sich „wie in der Gesamtbevölkerung auch in der Polizei feststellen“. Im Vergleich weniger Vorurteile hätten Polizist*innen gegenüber Frauen und Muslim*innen, mehr gegenüber Asylsuchenden und Wohnungslosen.
- Im Hinblick auf „problematische Einstellungen“ sei das Bewerbungs- und Auswahlverfahren sowie ein „gutes Aus- und Fortbildungsangebot von besonderer Bedeutung“.
Quantitativ: Die Online-Befragung
Der Zwischenbericht hatte dem qualitativen Teil 10 Seiten, dem quantitativen 55 Seiten gewidmet. Auch im Schlussbericht der ersten Förderphase (denn das Projekt wird fortgeführt werden) nimmt die Online-Erhebung deutlich mehr Raum ein. Dies gilt nicht nur für die Präsentation der Befragungsergebnisse, sondern auch für die Darstellung des methodischen Vorgehens. Der Bericht fasst zusammen und vergleicht die Antworten der ersten Erhebung mit denen der zweiten, die ab November 2023 stattfand. An der zweiten Erhebung nahmen Berlin und Thüringen nicht teil; da der Bericht Wert auf den Vergleich legt, wurden in die Auswertung deshalb nur die Antworten aus 12 Bundesländern und den beiden Polizeien des Bundes aufgenommen.
Die Online-Befragung war an alle Bediensteten der Polizei adressiert, also auch an Tarifbeschäftigte und Beschäftigte außerhalb des Polizeivollzugsdienst. Je nach Tätigkeitsbereich wurde das Frage-Sample gesplittet, einige Fragenkomplexe wurden nur einer Zufallsauswahl vorgelegt. Großen Aufwand betrieb das Projekt zur Herstellung von Repräsentativität. So wurden die Profile der Teilnehmenden mit denen aller Polizeibeschäftigen im Bundesland bzw. bei der Bundesbehörde verglichen und durch einen Korrekturfaktor letzteren angeglichen. Die Gewichtungen wurden für die Merkmale Alter und Geschlecht sowie Beamt*innen im oder außerhalb des Vollzugsdienstes oder Tarifbeschäftigte vorgenommen. Nicht gewichtet wurde hingegen die Verteilung auf die drei Laufbahngruppen und auf Schutz-, Kriminal- und Bereitschaftspolizei. (S. 54f.) Man ahnt, welch gewaltiger Aufwand betrieben wurde, um diese Daten zu beschaffen und entsprechende Korrekturen vorzunehmen.
Der Online-Fragebogen der 2. Erhebung umfasste maximal 40 bzw. je nach Tätigkeit wenigstens 32 Fragen. Einige wenige Fragen wurden offen gestellt, bei anderen wurden Antwortalternativen vorgegeben. Bei ca. 10 Fragen wurden 4- oder 5-stufige Skalen vorgegeben, etwa von „stimme gar nicht zu“ bis „stimme sehr zu“. (S. 56) Der Fragenkatalog insgesamt ist im Abschlussbericht leider nicht dokumentiert; bei den „Skalen-Fragen“ lässt sich die Fragestellung aus der Ergebnisdarstellung ablesen. Um die Aussagekraft der Daten zu retten, wurden in den Fragebogen sechs Fragen aufgenommen, durch die sozial erwünschtes Antwortverhalten aufgedeckt werden sollte. Die Fragen wurden nur einem durch Zufallsauswahl bestimmten Teil der Befragten vorgelegt. Aus den Prüffragen ergaben sich nur schwache Hinweise auf durch soziale Erwünschtheit verfälschte Antworten. (S. 57f.)
Bereinigt um die beiden Bundesländer, die an der zweiten Befragung nicht mehr teilnahmen, konnten für den Endbericht 40.222 Fragebögen ausgewertet werden. (S. 59) Die durchschnittliche Beteiligung an der Befragung sank auf etwas über 14 % aller Polizeibeschäftigten (mit einer Spanne von 4 bis 27 %). (S. 52) Zu Recht rühmen sich die Verfasser*innen, ihr Sample gehöre „zu den größten Stichproben, die in Deutschland im Bereich der empirischen Polizeiforschung bisher erreicht wurden“. (S. 5) Allerdings kann dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass nur eine bescheidene Minderheit der Zielgruppe zur Teilnahme bewegt werden konnte. Die rechnerische Angleichung an das Beschäftigtenprofil ändert nichts daran, dass über 85% der Adressat*innen an der Befragung nicht teilnahmen, obwohl sie vom Dienstherrn unterstützt wurde und sie zur Beteiligung schriftlich aufgefordert wurden. Die Studie kann keine Auskunft darüber geben, welche Gründe zur Nichtteilnahme führten; erwähnt werden „vermutlich individuelle Gründen“. (S. 52) Vielleicht spielte die Ansage der Behördenleitung eine Rolle, vielleicht die Stimmung in der Dienstgruppe, vielleicht die Skepsis gegenüber jeder Art von „Beforschung“, vielleicht der Zeitaufwand, vielleicht der Umstand, dass die Daten über den Extrapol-Server des Bundeskriminalamtes liefen (unklar ist, ob die Fragen nur auf Dienstgeräten beantwortet werden konnten)? Angesichts dieser Unwägbarkeiten sind Zweifel an der Repräsentativität der Daten angebracht. Die Studie lässt Aussagen über 14% der Polizeibeschäftigen in Deutschland zu; und es scheint durchaus plausibel, dass damit eher der Ausschnitt „loyaler“ Polizist*innen erfasst wurde als jene, deren Einstellungen und Handlungen als problematisch empfunden werden könnten.
Unterstützt durch 50 Tabellen und 13 Abbildungen werden die Ergebnisse der Online-Befragung auf gut 100 Seiten vorgestellt. Die in acht Kapiteln (von „Motivation“ über „Teamkulturen“ bis „Ansichten außerhalb des Polizeivollzugsdienstes“) präsentierten Daten können hier nicht gewürdigt werden. Auffallend ist, dass entgegen der ursprünglichen Absicht, auch Tarifbeschäftigte befragt wurde. Zusammen mit den Beamt*innen außerhalb des Polizeivollzugsdienstes führt dies dazu, dass Sinn und Adressat*innen der Studie immer diffuser werden. Im Meer der Zahlen versinkt die von der Öffentlichkeit gehegte Hoffnung, sich ein genaueres Bild vom Zustand der Polizeien in Deutschland machen zu können.
Werden die methodischen Probleme für einen Moment beiseitegelegt, so lassen sich in der Studie einzelne Inseln entdecken, die genauer zu erkunden sich lohnen würde. Nur drei Beispiele mit den Daten der zweiten Erhebung: (1) Der Aussage „Es gibt geheime Organisationen, die großen Einfluss auf politische Entscheidungen haben“ stimmen 13 % zu, weitere 17 % halten sie „teils/teils“ für richtig. (S. 103) Verschwörungsmythen scheinen also weit verbreitet. (2) Was haben Polizist*innen getan, wenn sie Fehlverhalten ihrer Kolleg*innen beobachtet haben: „gar nichts“ getan zu haben, gaben bei korruptem Verhalten und bei sexistischen Äußerungen je 35 % an, nach rassistischen Äußerungen taten 32 % nichts, auf beobachtete sexuelle Übergriffe oder die Verletzung von Dienstpflichten hatten jeweils 27 % der Befragten nicht reagiert. Diejenigen, die reagiert hatten, hatten nur selten das Fehlverhalten angezeigt (zwischen 1 und 10 %) und etwas häufiger Vorgesetzte informiert (zwischen 5 bis 24 %). Überwiegend wurde das Fehlverhalten mit den Betroffenen oder mit Kolleg*innen besprochen. (S. 130) Bis zur „gelebten Nulltoleranz“ scheint der Weg noch weit. (3) Nach ihrer Viktimisierungserfahrung im Dienst wurden nur Bedienstete im Vollzugsdienst und aus anderen operativen Bereichen befragt. Die Antwortspanne reicht von 67 % der Befragten, die angaben, in den letzten zwölf Monaten beschimpft oder provoziert worden zu sein, bis zu 1 %, die von sexuellen Übergriffen berichteten. (S. 89) Die nachfolgenden „Detailanalysen“ kommt zu dem wenig überraschenden Befund, dass die Angehörigen von Schutz- und Bereitschaftspolizeien häufiger von Opferwerdungen berichten als andere Befragte. (S. 91)
In keinem der drei exemplarisch genannten Ergebnisse findet eine intensivere Analyse statt: Offen bleibt, in welchen Situationen Polizist*innen Opfer von welcher Art von Angriffen/Anfeindungen wurden. Offen bleibt, warum ein Großteil der Polizist*innen Fehlverhalten ihrer Kolleg*innen zwar wahrnimmt, aber nichts tut. Offen bleibt, welche Bedeutung es haben soll, dass 30 % der Befragten mit Verschwörungsmythen sympathisieren. Freilich kann eine quantitative Erhebung derartige Fragen nicht beantworten; hier wäre der Raum für den qualitativen Teil der Studie.
Die qualitative Studie
Während bei der Online-Befragung methodische Bedenken thematisiert und durch ein aufwendiges Design – wenn auch vergeblich – zu entkräften versucht wurden, gibt der qualitative Teil der Studie sich methodisch naiv. Dabei wurde auch hier durchaus ein erheblicher Aufwand betrieben: Teilnehmende Beobachtung in 26 Dienststellen, sechs Fokusgruppengespräche mit Beteiligten aus den drei Laufbahngruppen, 38 Interviews mit Führungskräften, 42 Interviews mit Polizist*innen im operativen Dienst sowie in der zweiten Runde (als Telefoninterviews) nochmals Gespräche mit 58 Führungskräften und mit 22 Trainer*innen und Lehrenden. Hinzu kamen noch zwei Gespräche mit Bürger*innen. (S. 7) In einer Fußnote wird bemerkt, dass die Interviewpartner*innen „bundesweit akquiriert“ wurden. Kein Wort verliert die Studie darüber, wie die Auswahl der Interviewten praktisch zustande kam. Im Zwischenbericht (S. 13) wird immerhin erwähnt, dass für die teilnehmende Beobachtung „die beforschten Dienstgruppen … oft seitens der Organisation ausgewählt“ wurden. Dieser Umstand bleibt bei der Darstellung der Ergebnisse unberücksichtigt. Da nicht thematisiert, kann nur vermutet werden, dass die Rekrutierung der Interviewten ähnlich verlief. Mit anderen Worten: Es handelt sich um eine Auswahl von Polizist*innen, die durch eine Kombination von behördlichem Vorschlag und persönlicher Freiwilligkeit entstand. Die Erkenntnisse, die auf dieser Basis gewonnen werden, können allenfalls einen kleinen Einblick über die Sichtweisen einiger weniger Polizist*innen geben – ohne dass klar wäre, wie stark verzerrt das Antwortspektrum durch die Auswahl der Befragten ist.
Ein weiteres methodisches Problem betrifft die teilnehmende Beobachtung. Sie wird nicht nur unzureichend dargestellt (wie viele Personen waren an den sechs Tagen in den Dienststellen anwesend, was taten die Polizist*innen „unter Beobachtung“, wie gestaltete sich die Interaktion zwischen Forschenden und Beforschten, wie konnten Beeinflussungen durch die Anwesenheit im Feld verringert werden – bei nur sechs Tagen ist der Gewöhnungseffekt sehr gering – ?), ihr methodisches Potenzial wird vollends verschenkt. In der Projektskizze hieß es, die teilnehmende Beobachtung diene dazu, „Einblicke in den Arbeitsalltag“ zu erhalten, es gehe darum, „am Alltag der beforschten Subjekte Teil (zu nehmen), um deren Handlungen wahrnehmen zu können“. Der Fokus richte „sich dabei nicht nur auf verbalsprachliche Daten, sondern auch auf die Verhaltensweisen und Handlungen der Menschen“. (S. 8) Von diesem Versprechen ist in den Berichten nichts geblieben: An keiner Stelle werden beobachtete „Verhaltensweisen und Handlungen“ geschildert; die teilnehmende Beobachtung scheint zu (informellen) Gesprächen mit Polizist*innen im Dienst genutzt worden zu sein. Was gewonnen und genutzt wurde, waren weitere „verbalsprachliche Daten“ – und ein diffuser Eindruck der Forschenden über die Lage im polizeilichen „Feld“.
Die „qualitativ“ gewonnenen Einsichten sind durchweg trivial:
- Wer hätte nicht vermutet, dass Polizist*innen „aus dem Einsatz- und Streifendienst sowie besonderen Einsatzeinheiten … einem erhöhten Viktimisierungsrisiko“ unterliegen, wobei Kriminalpolizist*innen seltener von tätlichen Angriffen bedroht werden als Schutzpolizist*innen, und bei diesen „persönliche Konflikte“ im Vordergrund stehen, während Gefährdungen für die Bereitschaftspolizei im Rahmen von „Großlagen“ entstehen? (S. 29)
- Wie sollte die Polizei geführt werden, damit sie „positiv auf Einstellungsbildung“ wirkt, „hohe Motivation und Arbeitszufriedenheit“ und auch noch „für die Gewinnung der Nachwuchskräfte wichtig“ sein könnte? „Flache Hierarchien, Transparenz und kompetente, empathische und sensible Führungskräfte“, so lautet die Antwort der Interviewten (S. 17): Das ist die reine Lehre der offiziellen, von den Verantwortlichen proklamierten „Polizeikultur“ und keine vertiefte Einsicht in den Zustand der deutschen Polizeien.
- „Als besonders motivierend wahrgenommen werden Rückendeckung und selbst kleinste Zeichen der Wertschätzung. So kann ein einfaches Dankeschön, sei es seitens der Kolleg:innen, der Vorgesetzten, der Bürger:innen oder der Politik, motivieren“. (S. 20) Heißt das, „selbst kleinste Zeichen“ sind in der Polizei nicht üblich, oder will die Studie gegen Feindbilder anschreiben, indem sie feststellt: Polizist*innen sind wie du und ich, sie freuen sich über Gesten der Wertschätzung ihrer Arbeit?
Auch im qualitativen Teil der Studie wird vermieden, den Themen genauer auf den Grund zu gehen. Da die Studie die „Innenansicht der Polizei aus der Sicht ihrer Mitarbeitenden“ (S. 4) darstellen will, verwundert es nicht, dass typische polizeiliche Selbstbilder zur Sprache kommen. Das reicht von der Gefahrengemeinschaft (= es geht immer um Leben und Tod, deshalb müssen wir zusammenhalten) (S. 16) bis zur „Vergeblichkeitserfahrung“ (= die Justiz macht nicht, was die Polizei von ihr erwartet). (S. 27) Diese Bilder werden von der Studie reproduziert, statt sie zum Anlass für eine Analyse zu nehmen. Hier wäre es hilfreich gewesen, Zusammenhänge mit den Befunden der Online-Befragung herzustellen, und diese mit den Expert*innen zu reflektieren. Wie sehr die Studie sich scheut, in die Tiefe zu gehen, zeigt sich auch an der Thematisierung der Ausstattung der Polizeien. Im Zusammenhang mit der Arbeitsmotivation heißt es: „In den Interviews fanden sich in allen drei Organisationseinheiten generell mit der Ausstattung zufriedene Polizeivollzugsbeamt:innnen“. (S. 19) Wenig später werden einige Ausstattungs-Defizite genannt (von der Schutzkleidung bis zur EDV-Ausstattung). (S. 23) In der Online-Befragung ergibt die Frage nach der Ausstattung eine niedrige, aber noch positive Bewertung. (S. 78) Bei der Frage nach den stärksten alltäglichen Belastungen erreicht „fehlende Mittel/Ausstattung“ den 7. Platz mit 38 % Zustimmung. (S. 82) Lassen diese Daten nicht den Schluss zu, dass die sachliche Ausstattung der Polizeien offenkundig kein vordringliches Problem ist?
Auf S. 48 enthält der Abschlussbericht ein neun Zeilen langes Kapitel mit der Überschrift „Zugriffsrechte beschneiden und der Ausbau externer Prüfmechanismen“. Hier wird verwiesen auf „verdachtsunabhängige Kontrollen“ und solche an „kriminogenen Orten“, die „potenziell störanfällig für Willkür“ seien und auf „vulnerable Personengruppen“ träfen. Es werde „vielfach argumentiert, dass die Zugriffsrechte der Polizei einschränkt werden sollen“, externe Kontrollmechanismen würden gefordert. Auf die Einführung von Kontrollquittungen im Entwurf des Bundespolizeigesetzes wird verwiesen. Darin erschöpft sich das gesamte Kapitel – kein Bezug auf die Interviews, kein Bezug auf die Gespräche auf den Dienststellen, kein Bezug zur Online-Erhebung. Neun Zeilen, die allein zeigen, dass die Verfasser*innen Diskussionen wahrgenommen haben; dass sie einer Auseinandersetzung mit diesen Argumenten aus dem Weg gehen, zeigt erneut die Begrenztheit der gesamten Untersuchung.
Rassismus?
Es war politisch gewollt, dass die Frage nach rassistischen Einstellungen und Praxen der Polizei nur eine untergeordnete Rolle in der Untersuchung spielt. Im qualitativen Teil des Endberichts wird allgemein das Problem beschrieben, dass „Vorurteile oder unhinterfragte Stereotype“ sich auf die „Kontrollpraxis auswirken könnten“. Deshalb sei es wichtig, „sich die Stereotype … bewusst zu machen“. In der teilnehmenden Beobachtung habe sich gezeigt, „dass viele Polizeivollzugsbeamt:innen in Hinsicht auf Sprachgebrauch und Interkulturalität sensibilisiert waren.“ (S. 40)
Im quantitativen Teil ist den Einstellungen eine längere Auswertung gewidmet: Selbstverortung im politischen Links-Rechts-Spektrum, Einstellungen zu Diversität und zum politischen System, Ausmaß „Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“, Autoritarismus, Rechtsextremismus. (S. 97-125). Was die Verfasser*innen unter „Rassismus“ verstehen, bleibt dabei unklar. Auf S. 109 wird ein „Index Rassismus“ ausgewiesen, der aus den Antworten auf die Aussagen „Schwarze Menschen werden im Alltag sehr oft diskriminiert“ und „Wer anders als die Mehrheit der Bevölkerung aussieht, wird in Deutschland überhaupt nicht benachteiligt“ ermittelt wurde. Auf der 5-poligen Skala liegt der Index bei 2,5 (also unterhalb des Mittelwerts von 3). Die Aussagen messen weniger rassistische Einstellungen als die Sensibilität gegenüber Diskriminierungen von ‚fremd‘ aussehenden Menschen. Zudem bleibt unklar, was ein Indexwert von 2,5 bedeutet; auch die auf S. 121 vorgenommene Berechnung mittlerer Zustimmungs- und Ablehnungswerte schafft eher Verwirrung als Klarheit. Gefährlich irreführend werden die Zahlen, wenn die MEGAVO-Indices mit denen der „Mitte-Studien“ verglichen werden. (S. 116) Derart kann dann festgestellt werden, dass Polizist*innen im Vergleich zur Durchschnittsbevölkerung mehr Vorbehalte gegen Asylbewerber*innen, aber weniger gegenüber Muslim*innen haben. Zwar ist den Verfasser*innen bewusst, dass die soziodemografische Zusammensetzung von Polizei und Bevölkerung nicht übereinstimmen (S. 114), der Wunsch zum Vergleich hält sie jedoch nicht davon ab, die repräsentativen Daten der „Mitte-Studien“ mit den hochgradig selektierten Antworten ihrer Online-Befragung zu vergleichen. Ist das der Weg, die Polizei als ein quasi natürliches, mit leichten Schwankungen versehenes Spiegelbild der Gesellschaft erscheinen zu lassen?
Die Verfasser*innen des Endberichts räumen ein, dass es „nicht einfach ist, den Anteil der bei der Polizei arbeitenden Personen zu beziffern, die ein geschlossenes menschenfeindliches und demokratiegefährdendes Weltbild aufweisen“. Denn einerseits ließe sich nur „eine sehr kleine Gruppe“ („kaum die Prozentmarke überschreiten“) ausmachen, „die durchgängig problematische Haltungen an den Tag legten“. Andererseits stimmten in fast allen Aspekten 10 % und mehr der Befragten den vorgegebenen Stereotypen zu. Mit dem Graubereich (= „teils-teils-Antworten“) von zum Teil über 40 % ergebe „sich ein realistischeres Bild der in der Polizei verbreiteten Grundhaltungen.“ Man finde wenig „radikale Positionen“, aber einige „Eindrücke, die auf Verunsicherungen und uneindeutige Positionen schließen lassen.“ (S. 124)
Vom Nutzen der Wissenschaft
Wenn es die Absicht war, die öffentliche Brisanz von „Rassismus in und durch die Polizei“ mit dem Mitteln der Wissenschaft zu entschärfen, so ist das mit der MEGAVO-Studie gelungen. Bereits mit der Rahmung durch Motivation, Arbeitssituation und Gefahren für Polizist*innen war diese Strategie eingeschlagen worden. Die beauftragte Studie hat das Vorhaben in einem denkbar harmlosen Forschungsansatz umgesetzt. Im Kern hat die Studie Meinungen, Einschätzungen, mitgeteilte Erfahrungen und Einstellungen erhoben. Durch die unklare Rekrutierung der Beforschten/Beteiligten sind die Ergebnisse weit von repräsentativen Aussagen entfernt. Sie werfen vermutlich eher ein Licht auf den unproblematischen Teil der Polizeien – im Hinblick auf seine Demokratie-Tauglichkeit erweist sich selbst der jedoch nicht als „unproblematisch“.
Neben vielen quasi internen Problemen von MEGAVO – etwa die mangelnde Verknüpfung der beiden Teile –, liegt die größte Hypothek des gesamten Projekts darin, dass man sich fast ausschließlich auf Meinungen und Bewertungen stützt. Im Hinblick auf Rassismus wird den beliebten Untersuchungen von „Einstellungen“ gefolgt. Wäre es nicht zielführenden, es würden „Handlungen“ statt „Einstellungen“ untersucht? Es würden Fakten über Kontrollpraktiken, über Einsatzanlässe oder über die Arbeitsbelastung erhoben, statt Meinungen darüber abzufragen? Aus einer solchen Untersuchung könnten alle mehr lernen. Die politisch Verantwortlichen, die Polizeiführungen und die Wissenschaftler*innen müssten sie nur wollen.