Menschen in psychosozialen Krisen: Verpolizeilichung statt Versorgung

von Norbert Pütter und Sonja John

Der polizeiliche Umgang mit Menschen, die sich in psychosozialen Krisen befinden, die psychische Probleme haben oder denen solche zugeschrieben werden, erfährt gegenwärtig eine hohe Aufmerksamkeit. Offenkundige Defizite im Einsatz sollen durch verbesserte Aus- und Fortbildungen beseitigt werden, ohne institutionelle Reformen. In der Kriminalitätsbekämpfung werden psychisch Auffällige zu einer neuen Gefährdergruppe erklärt, gegen die präventiv interveniert werden soll. Mit ihrer kriminalistischen Durchleuchtung nehmen die Stigmatisierung der Betroffenen und ihre Distanz zum Unterstützungssystem zu.

Die Ereignisse der jüngeren Vergangenheit haben die Beziehungen zwischen Menschen mit psychischen Problemen und Innerer Sicherheit in den Fokus öffentlicher Diskussionen, politischer und polizeilicher Aktivitäten gerückt. Mit „Ereignissen“ sind zum einen jene spektakulären Anschläge im öffentlichen Raum gemeint – Trier, Münster, Solingen, Magdeburg, Aschaffenburg –, die von Männern begangen wurden, die teils offenkundig, teils ärztlich diagnostiziert erhebliche psychische Probleme hatten. Zum anderen ist in den letzten Jahren deutlich geworden, dass es sich bei den Opfern polizeilichen Schusswaffengebrauchs im Rahmen alltäglicher (schutz-)polizeilicher Einsätze vermehrt um Menschen mit und in psychosozialen Krisen handelt. Menschen in psychosozialen Krisen: Verpolizeilichung statt Versorgung weiterlesen

Literatur

Zum Schwerpunkt 

Einsätze, die Menschen mit psychischen Problemen oder in psychischen Ausnahmesituationen gelten, werden von Polizist*innen als besonders schwierig und herausfordernd wahrgenommen. Den Betroffenen wird unterstellt, dass sie auf „normale“ polizeiliche Ansprache nicht wie gewünscht reagieren, dass ihr Verhalten unberechenbar sei und mitunter wird ihnen eine besondere Gefährlichkeit zugeschrieben. Diese – weithin und seit Jahrzehnten geteilte – Problembeschreibung hat in Deutschland nur vergleichsweise geringen Niederschlag in polizeilicher Publizistik und Wissenschaft gefunden. Ein kleiner Kreis von Expert*innen beschäftigt sich mit dem Thema; überwiegend handelt es sich dabei um Psycholog*innen aus dem Polizeidienst oder den polizeilichen Hochschulen. Empirische Studien über die Interaktionen von Polizei und als psychisch auffällig wahrgenommenen Personen sind selten. Die Debatte wird geprägt von Vorschlägen für eine verbesserte Aus- und Fortbildung. Im Folgenden werden nur Hinweise auf einige jüngere Veröffentlichungen in Deutschland gegeben. Die Defizite gegenüber dem internationalen Stand der Forschung lassen sich daran ablesen, dass in vielen Texten Bezug auf Studien aus anderen Ländern (insbesondere aus dem angloamerikanischen Raum) genommen wird bzw. werden muss. Literatur weiterlesen

Redaktionsmitteilung

So hätte es sein können: Am 27. August 2024 erschießen Polizisten im nordrhein-westfälischen Moers einen 26-Jährigen. Der schon öfter in der Psychiatrie behandelte Mann war auf Passant*innen und auf Polizisten mit Messern losgegangen. Noch am Abend desselben Tages tritt Bundesgesundheitsminister Lauterbach vor die Presse: „Es kann nicht so weitergehen, dass psychisch kranke Menschen derart ‚ausrasten‘, dass der Polizei offenkundig nur noch der Schusswaffengebrauch bleibt, um die Gefahren abzuwehren. Das Hilfs-, Unterstützungs- und Behandlungssystem muss dringend verbessert werden.“

Oder: Als Reaktion auf den Anschlag in Aschaffenburg treffen die Gesundheitsminister*innen der Bundesländer zu einer außerordentlichen Sitzung zusammen. Sie bilden eine Task Force, die konkrete Vorschläge vorlegen soll, wie den Defiziten in der psychologisch-psychiatrischen Beratung und Versorgung von Geflüchteten begegnet werden kann.

In Wirklichkeit gab es weder den Weckruf von Minister Lauterbach, noch eine Initiative der Gesundheitsminister*innen. Reagiert und in Szene gesetzt haben sich stattdessen die Innenpolitiker- und -minister*innen. Sie verlautbaren das, was sie bei jeder Gelegenheit tun: mehr Personal, mehr Kompetenzen, mehr Befugnisse für die Polizei. Dabei folgen sie dem klassischen Muster: Ein sozialer Missstand wird so lange ignoriert und umgedeutet, bis er als „Sicherheitsproblem“ erscheint und entsprechend „behandelt“ werden wird. Wir beleuchten in den Beiträgen unseres Schwerpunkts verschiedene Aspekte der aktuellen Versicherheitlichung der Psyche. Redaktionsmitteilung weiterlesen

COMING SOON: 137 (März 2025) Menschen in psychosozialen Krisen

Editorial

Menschen in psychosozialen Krisen
Norbert Pütter und Sonja John
Die rechtliche Perspektive
Michael Bäuerle
Todesschüsse auf Menschen in/mit psychischen Krisen
Norbert Pütter
Auffällig heißt nicht gleich gefährlich
Interview mit Florian Stoeck
Umgang mit „schwierigen Personen“
René Talbot
Polizeibeauftragte und Eingaben psychisch Auffälliger
Sonja John
Psychiatrie und Maßregelvollzug
Ulrich Lewe
US-Polizei und Schwarze autistische Jugendliche
Elizabeth Drame, Tara Adams und Veronica Nolden

Bundesverfassungsgericht: Polizeikosten für „Hochrisikospiele“
Volker Eick

Inland aktuell
Meldungen aus Europa
Literatur und Aus dem Netz
Autor*innen dieser
Ausgabe

Grenzüberschreitende Repression im Budapest-Komplex

Vor zwei Jahren wurden beim rechtsextremen Neonazi-Treffen „Tag der Ehre“ in Budapest neun mutmaßliche oder tatsächliche Teilnehmer angegriffen und verletzt. Ungarns Justiz hat 18 Verdächtige aus Deutschland, Italien, Albanien und Syrien identifiziert, die in Haft sitzen, Haftverschonung erhalten haben oder noch gesucht werden. Ihnen wird gefährliche Körperverletzung und Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung vorgeworfen, teilweise auch versuchter Mord. In Ungarn drohen ihnen Freiheitsstrafen von bis zu 24 Jahren. Da einige Beschuldigte in Deutschland im Zusammenhang mit dem sogenannten „Antifa-Ost-Komplex“ gesucht werden, finden auch hier Verfahren statt. Grenzüberschreitende Repression im Budapest-Komplex weiterlesen

G10-Maßnahmen im Jahr 2022

Am 17. Dezember 2024 legte das Parlamentarische Kontrollgremium (PKGr) seinen Bericht über die Abhör- und Postkontrollmaßnahmen der Geheimdienste des Bundes (Bundesamt für Verfassungsschutz – BfV, Bundesnachrichtendienst – BND und Bundesamt für den Militärischen Abschirmdienst – BAMAD) nach dem Artikel 10-Gesetz (G10) für das Jahr 2022 vor.[1] Über die Maßnahmen selbst wird in der G10-Kommission des Bundestages entschieden, sowohl über die erstmalige Anordnung als auch die Fortführung alle drei Monate, sofern diese von den Diensten beantragt wird. Diese unterrichtet wiederum das PKGr, dem die allgemeine Kontrolle über das G10-Gesetz obliegt. G10-Maßnahmen im Jahr 2022 weiterlesen

Befugnisse im PolG NRW verfassungswidrig

Mit Beschluss vom 14. November 2024 (Az.: 1 BvL 3/22) entschied das Bundesverfassungsgericht (BVerfG), dass die Bestimmungen im nordrhein-westfälischen Polizeigesetz (PolG NRW) zur längerfristigen Observation bei gleichzeitigem Einsatz technischer Mittel zur Anfertigung von Bildaufnahmen und -aufzeichnungen mit dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung unvereinbar sind. Das Verfahren war dem Verfassungsgericht vom Bundesverwaltungsgericht vorgelegt worden, das über die Revision einer Klägerin zu entscheiden hatte, die selbst nicht Zielperson der Überwachung war. Sie war jedoch im Rahmen der Observation einer als sog. ‚Gefährder‘, aus dem Spektrum politisch rechts motivierter Kriminalität, eingestuften Person mehrfach beobachtet und fotografiert worden. Befugnisse im PolG NRW verfassungswidrig weiterlesen

Kooperation der Bundespolizei mit der VR China

Dass Bundespolizist*innen sich im Ausland nicht immer in bester Gesellschaft bewegen, ist spätestens bekannt, seit 2011 der Skandal um die Ausbildungsmission für den saudi-arabischen Grenzschutz bekannt wurde, die Teil eines Deals zum Verkauf eines EADS-Überwachungssystems an Riad war. Eine Kleine Anfrage der FDP-Fraktion zu „transnationaler Repression“ brachte nun ans Licht, dass die Bundespolizei auch regelmäßige Beziehungen zum Repressionsapparat der Volksrepublik China pflegt.[1] Demnach gebe es zwar keine „klassische Aus- und Fortbildung“ in Form von Lehrgängen für chinesische Polizeibeamt*innen, aber immerhin 37 „Kooperationsvorhaben“ werden für den Zeitraum von 2015 bis 2024 dokumentiert. Kooperation der Bundespolizei mit der VR China weiterlesen

Trojaner-Angriff auf Seenotretter

Der zum US-Konzern Meta gehörende Messenger-Dienst WhatsApp hat mehrere Nutzer*innen darüber informiert, dass sie von einer bislang unbekannten Quelle mit einem Trojaner ausspioniert wurden.[1] Dabei soll es sich um die Software „Graphite“ der US-israelischen Firma Paragon Solutions gehandelt haben. Unter den Betroffenen sind sieben Journalist*innen und Aktivist*innen der Seenotrettungs-NGO Mediterranea mit italienischer Vorwahl (+39); alle von ihnen haben sich zuvor kritisch mit der Migrationspolitik Italiens auseinandergesetzt. Trojaner-Angriff auf Seenotretter weiterlesen

120.000 Pushbacks an EU-Außengrenzen gezählt

Neun Menschenrechtsorganisationen aus verschiedenen Ländern dokumentieren in einem Bericht 120.457 systematische Zurückweisungen von Migrant*innen an den EU-Außengrenzen im Jahr 2024.[1] Besonders gravierend ist die Situation demnach in Bulgarien, wo 52.534 Pushbacks in Richtung Türkei registriert wurden. Auch andere EU-Länder wie Griechenland (14.482), Polen (13.600), Ungarn (5.713), Lettland (5.388), Kroatien (1.905) und Litauen (1.002) waren demnach für beträchtlich viele illegale Zurückweisungen verantwortlich. Keine Gesamtzahl, aber Einzelangaben gibt es zur zypriotischen Küstenwache, die im Jahr 2024 mindestens sieben Boote mit Hunderten Asylsuchenden zurückgewiesen hat. 120.000 Pushbacks an EU-Außengrenzen gezählt weiterlesen

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