Um 1860 begann der britische Kolonialbeamte William James Herschel in Bengalen Fingerabdrücke zu nutzen, um Betrug bei der Auszahlung von Ruhegehältern an pensionierte Sepoys, die subalternen indischen Soldaten, zu verhindern. Damit legte er das Fundament für die Biometrie, die sich heute zur Schlüsseltechnologie entwickelt hat für die Kontrolle von grenzüberschreitender Mobilität und Migration, aber in wachsendem Maße auch der einheimischen Bevölkerung. Als „kolonialen Bumerang“ beschrieb Michel Foucault das Phänomen, dass Praktiken und Technologien, die in den Kolonien zur Durchsetzung und Sicherung imperialer Herrschaft entwickelt wurden, früher oder später auch in ihrem Mutterland zum Einsatz kommen. Redaktionsmitteilung weiterlesen
Literatur
Zum Schwerpunkt
Die fortgeschrittenen Technologien der Grenzkontrollen scheinen in mehrfacher Hinsicht entfernt. Das klassische Bild einer physisch gesicherten und nur an Kontrollstellen durchlässigen Grenze ist für Europäer*innen erst an den Schengen-Außengrenzen erfahrbar. Werden diese in ihrem teilweise und zunehmend befestigten Formen in den Blick genommen, so sehen wir regelmäßig nur die durch Zäune, Mauern, Gräben, Wachtürmen errichteten Grenzen. Kaum bis gar nicht wahrnehmbar sind hingegen die mit den Potenzialen der Digitalisierung aufgerüsteten Formen der Überwachung des Grenzraums, der Kontrolle von Einreisewilligen sowie der präventiven Durchleuchtung der Grenzgeschehens. Der Wandel staatlicher Grenzen seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert ist verbunden mit der Etablierung neuer Grenzkontrolltechnologien. Wer letztere verstehen will, muss zugleich in Rechnung stellen, dass Funktionen, Formen und Orte von (staatlichen) Grenzen sich verändert haben.
Mit der Europäisierung des Außengrenzgeschehens hängt vermutlich zusammen, dass zu diesem Thema nur wenige Text in Deutsch vorliegen. Wir geben im Folgenden eher Hinweise auf wenige leicht oder kostenlos zugängliche Veröffentlichungen, die einen exemplarischen Zugang zum Thema ermöglichen. Damit werden wir weder der umfänglichen Diskussion über den Form- und Bedeutungswandel von Grenzen gerecht, noch den vielfältigen zivilgesellschaftlichen Initiativen, die kritische Öffentlichkeit herstellen, Protest und Solidarität mit durch Grenzen Ausgeschlossenen praktizieren. In den Beiträgen des Schwerpunktes finden sich entsprechende Hinweise. Literatur weiterlesen
Summaries
Focus: Technology against migration
Sensors and Data of Fortress Europe
by Dirk Burczyk, Christian Meyer, Matthias Monroy and Stephanie Schmidt
In order to detect and prevent uncontrolled migration, the European Union is increasingly using advanced technologies. These can be divided into sensor-based and data-based applications. The commercial interests of the providers go hand in hand with the technological development of Europe’s external borders. However, there are also approaches by non-governmental organizations to use the observation technologies for the purpose of sousveillance. Summaries weiterlesen
COMING SOON: 131 (März 2023) Mit Technologien gegen Migration
Redaktionsmitteilung
Eric Töpfer
Sensoren und Daten der Festung Europa
Dirk Burczyk, Christian Meyer, Matthias Monroy, Stephanie Schmidt
Technologische Gewalt an den Grenzen der EU und USA
Petra Molnar
Migrationsabwehr als angewandte Wissenschaft
Norbert Pütter
KI-Technologien für die EU-Grenzkontrolle
Lise Endregard Hemat
Polizeiliche Detektion von Menschen in Fahrzeugen
Clemens Arzt
Warnungen aus Großbritannien
Lucie Audibert
Blick auf die Grenze mit Gegenforensik
Giovanna Reder
Virtual Reality-Trainings bei Polizeibehörden
León von der Burg, Johannes Ebenau, Jasper Janssen
Landesversammlungsgesetz Hessen
Marius Kühne
Der „Fall Maninger“
Anna M. Fauda
Inland aktuell
Meldungen aus Europa
Literatur
Mitarbeiter*innen dieser Ausgabe
Einigung zu „elektronischen Beweismitteln“
Das Europäische Parlament und der Rat haben sich im Januar 2023 auf zwei Gesetzesvorhaben zur Sicherung und Herausgabe elektronischer Beweismittel in Strafsachen geeinigt.[1] Das „E-Evidence“-Paket besteht aus einer Verordnung sowie einer ergänzenden Richtlinie. Hintergrund des Gesetzgebungsverfahrens ist, dass Strafverfolgungsbehörden zunehmend auf im Ausland gespeicherte Daten zugreifen wollen. Deren Herausgabe richtet sich traditionell nach den Vorschriften der internationalen Rechtshilfe. Allerdings werden entsprechende Verfahren von den Behörden als zu langsam und ineffizient wahrgenommen. Daher haben die USA bereits 2018 den sog. CLOUD ACT erlassen, der US-amerikanische Technologiefirmen verpflichtet, auch Daten, die auf ihren Servern im Ausland gespeichert werden, an US-Strafverfolgungsbehörden herauszugeben. Ein ähnliches Verfahren sieht die E-Evidence-Verordnung vor, auf die sich die europäischen Rechtssetzungsorgane nun geeinigt haben. Einigung zu „elektronischen Beweismitteln“ weiterlesen
API-Daten für mehr Fluggastdatenspeicherung
Am 13.12.2022 hat die EU-Kommission einen Vorschlag für eine „Verordnung über die Erhebung und Übermittlung von API-Daten zur Verhütung, Aufdeckung, Untersuchung und Verfolgung von terroristischen Straftaten und zur Änderung der Verordnung (EU)2019/818“ (API-VO) vorgelegt.[1] Die Advanced Passenger Information (API) wird von den Fluggesellschaften bei der Einreise in den Schengenraum während der Abfertigung der Fluggäste erhoben und bereits seit 2004 als Liste an die Grenzpolizeibehörde des Zielstaates übermittelt. Die API-Daten enthalten die Angaben aus den Reisepässen der Flugreisenden. Sie gelten laut Kommission als „verifizierte“ Daten über die tatsächlich an Bord befindlichen Fluggäste, während die Passenger Name Record (PNR)-Daten, die vorab von Fluggesellschaften und Reiseunternehmen an die Behörden übermittelt werden, „unverifizierte“ Daten enthalten – ob diese Fluggäste tatsächlich an Bord sind oder kurzfristig noch weitere Fluggäste zugestiegen sind, geht aus den PNR-Daten nicht hervor. API-Daten für mehr Fluggastdatenspeicherung weiterlesen
Sicherheits- und Ordnungsgesetz MV verfassungswidrig
Nachdem in den Jahren ab 2017 in den meisten Bundesländern die Polizeigesetze verschärft wurden, erhoben einige Protestbündnisse Verfassungsbeschwerden gegen die Gesetze. Anfang Februar 2023 veröffentlichte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) eine Entscheidung zur Beschwerde des Bündnisses SOGenannte Sicherheit sowie der NGO Gesellschaft für Freiheitsrechte gegen das Sicherheits- und Ordnungsgesetz Mecklenburg-Vorpommern (SOG MV).[1] Das Gesetz enthielt eine Vielzahl von Regelungen zur verdeckten Datenerhebung, die das BVerfG nun beanstandete. Unter anderem ging es um die polizeilichen Befugnisse zur Observation von Personen, zur Anfertigung von Bild- und Tonaufnahmen, zum Einsatz von Vertrauenspersonen und verdeckten Ermittler*innen, zur Überwachung von Wohnräumen und Telekommunikation sowie zur Online-Durchsuchung. Sicherheits- und Ordnungsgesetz MV verfassungswidrig weiterlesen
Brandenburg bekommt Polizeibeauftragte
Nach zwei Jahren zäher Verhandlungen hat die rot-schwarz-grüne Koalition in Brandenburg am 16. Dezember 2022 ihr Versprechen aus dem Koalitionsvertrag umgesetzt und ein Gesetz zur Einrichtung einer Polizeibeauftragtenstelle verabschiedet.[1] Damit wird Brandenburg nun das siebente Bundesland mit einer solchen Ombudsperson. Anders als in den anderen Ländern, wo die Stellen zusätzlich als Bürger- oder Feuerwehrbeauftragte immer auch andere Aufgaben haben, wird sie in Brandenburg ausschließlich für Polizeithemen zuständig sein. So wie die bereits existierenden Beauftragten ist aber auch die Stelle in Brandenburg Hilfsorgan des Landtags bei der parlamentarischen Kontrolle, soll die Bevölkerung im „Dialog“ mit der Polizei unterstützen und auf eine einvernehmliche Erledigung von Beschwerden hinwirken; zugleich ist sie zuständig für Eingaben aus der Polizei. Dafür verfügt die*der Beauftragte über umfassende Auskunfts-, Akteneinsichts-, Anhörungs- und Betretungsrechte. Brandenburg bekommt Polizeibeauftragte weiterlesen