Die Justiz- und Innenpolitik des rot-grünen Senats in Berlin – Versuch einer Bilanz

von Martina Gerlach*

Nicht einmal 2 Jahre wird der SPD/AL-Senat bis zu den Wahlen am 02. Dezember 1990 im Amt gewesen sein. Eine zu kurze Zeit, um wirklich Bilanz ziehen zu können. Eine zu kurze Zeit, Wahlaussagen und die Koalitionsvereinbarung dieser beiden Parteien mit dem, was tatsächlich rechtspolitisch geleistet bzw. unter den Tisch gefallen ist, aufzurechnen.

Unredlich wäre es bei dieser Bilanz, einfach auszuklammern, daß der neue Senat unter Bedingungen seine Arbeit aufgenommen hat, die durch das Verschwinden der DDR und des besonderen Status dieser Stadt am Ende der Legislaturperiode so nicht mehr bestehen.

Viele Probleme, die im Koalitionspapier noch großen Raum eingenommen haben (Schaffung eines Verfassungsgerichts für Berlin, Entrümpelung alliierter Rechtsvorschriften) haben sich über Nacht dadurch in Luft aufgelöst; neue, nicht voraussehbare Probleme wie jenes, was mit Richtern und Polizisten in Berlin-Ost unter einer einheitlichen Innen- und Justizverwaltung passieren soll, sind völlig unvorbereitet auf die Koalition zugekommen.
Die politische Orientierung von Rot-Grün, die sich trotz divergierender Programmatik der Koalitionspartner in der Koalitionsvereinbarung nieder-geschlagen hat, beruhte neben einem ökologischen, sozialen Stadtumbau auf dem Prinzip direkter Demokratie als Antwort auf den Legitimationsverlust staatlichen und politischen Handelns durch den Vorgängersenat und hier namentlich seines Innensenators Kewenig, der durch rechtsstaatlich zweifelhafte Polizeieinsätze und seine unbegrenzte Datensammelwut (wie z.B. durch polizeiliche Kon-trollstellen) selbst bei dem liberal-konservativen „Tagesspiegel“ jeglichen Kredit verspielt und ein vergiftetes inneres Klima hinterlassen hatte.

Nicht nur der kleinere Koalitionspartner, sondern gerade auch der spätere Bürgermeister Momper waren im Wahlkampf mit neuen Partizipationsmodellen aufgetreten und forderten ein neues Verhältnis Bürger – Staat. Waren davon in den Koalitionsvereinbarungen noch Bruchstücke erkennbar, blieb unter den alles überlappenden Problemen im Gefolge der deutschen Vereinigung von diesen Vor-stellungen allerdings zu wenig übrig.

Ausländerpolitik

Das Wahlrecht für AusländerInnen zu den Bezirksverordnetenversammlungen ist hierfür ein beredtes Beispiel.
Zwar war dieses Wahlrecht nach quä-lenden, sich monatelang hinziehenden Auseinandersetzungen – noch vor dem negativen und in einem zukünftig ge-einten Europa kaum verständlichen Spruch des Bundesverfassungsgerichts – verabschiedet worden; ein beherztes Eintreten der Koalition für dieses Wahlrecht in der Bevölkerung ist je-doch völlig ausgeblieben. Lediglich bei der sich bisher noch unter Ausschluß der Bevölkerung ent-wickelnden Debatte um eine neue Landesverfassung kommt dieses „Mehr Demokratie“ aus dem SPD/ AL-Wahlkampf im Winter 1989 noch zum Vorschein.

Ursächlich hierfür ist sicherlich nicht nur der mangelnde Mut der Koaliti-onsakteure. Schließlich sind Vorurteile gegen Rot-Grün in der Bevölkerung verbreitet und mächtig; sie erschienen für viele unüberwindlich. Mitverantwortlich ist auch die „Sen-depause“ bei Bürgerrechtsorganisatio-nen und rechtspolitischen Interessen-verbänden im Westteil der Stadt, die unter weitgehendem Verzicht auf eine eigenständige Interessenpolitik ihre Belange bei den neuen Koalitions-partnern gut aufgehoben sahen und deshalb beim Regieren zuschauten.

Unter dem Bilanzstrich eindeutig negativ muß die Flüchtlings- und Aus-länderpolitik des Senats beurteilt werden. Hier hatte eine mangelnde Courage, sich mit Ressentiments in der Bevölkerung und Blockaden im Behördenapparat bis zum Staatssekretär öffentlich auseinanderzusetzen, eine verhängnisvolle Auswirkung auf die Lebensverhältnisse unserer ausländischen MitbürgerInnen. Von der durch die AL im Sommer 1989 ausgehandel-ten Flüchtlingsanweisung u.a. mit einem Regelungsgehalt für sog. Altfäl-le, d.h. für Flüchtlinge, die seit lan-ger Zeit in Berlin leben und für solche Flüchtlinge, die wegen der Verhält-nisse in ihrer Heimat (Bürgerkrieg) dorthin nicht zurückkehren können, ein Bleiberecht und damit eine Zukunftsperspektive zu schaffen, blieb kaum etwas übrig. Gleiches gilt für die angekündigten großzügigen Zuzugs- und Aufenthaltserleichterun-gen für MigrantInnen u.a. durch Schaffung eines neuen Ausländerer-lasses, was angesichts des 1991 in Kraft tretenden neuen Aus-länder-gesetzes auf Bundesebene unterblieb.

Justizpolitik

Im Bereich „Justiz“ waren die Ansprüche von vornherein nicht zu hoch gehängt worden.
Die Koalitionspartner einigten sich auf kleinere, pragmatische Änderungen wie etwa die Wiederherstellung eines eigenständigen Justizressorts und die Abschaffung des von der CDU eingeführten manipulationsgeeigneten Rotationsprinzips im Richterwahlausschuß, was sofort in den er-sten Monaten nach der Senatsbildung umgesetzt werden konnte. Zu Beginn der rot-grünen Koalition wurden auch die Sonderabteilungen bei der Staats-anwaltschaft für Straftaten von Aus-länderInnen und im Strafvollzug ver-einbarungsgemäß aufgelöst.

Schon bei einer anderen organisatorischen Umgestaltung im Bereich der Justizorgane – die von wirklich gewichtiger Bedeutung war – tat man sich hingegen bei der Umsetzung äußerst schwer und es entstand der Eindruck von einer allzu zögerlichen, die rechte Tatkraft vermissen lassenden Vorgehensweise: die Rede ist von der Auflösung der sog. P-Staatsanwaltschaft. Erst nach einer langen Hängepartie (entstanden u.a. durch die Einsetzung einer Prüfungsgruppe und Anhörung der Verbände) wurde schließlich die Abschaffung dieser durch keinerlei Sachgründe gerechtfertigten, berüchtigten Spezialabteilungen, die u.a. für die Ermittlungsverfahren mit sog. „politischem“ Bezug zuständig waren und einen gesteigerten Verfolgungseifer gegenüber anderen Gesinnungen an den Tag legten, in die Wege geleitet.

Das rechtspolitisch bedeutsame Reformvorhaben zur Entlastung von Menschen, die unverschuldet und/ oder durch Übervorteilung durch Kre-ditinstitute in wirtschaftliche Not ge-raten sind, krankte von vornherein da-ran, daß die Gesetzgebungszuständig-keiten in diesem Bereich im wesent-lichen beim Bund liegen. Für das Land Berlin blieb daher nur ein äußerst schmaler Handlungsspielraum, so z.B. die Möglichkeit, Initiativen an den Bundesgesetzgeber zu richten. Die von der Justizverwaltung ins Leben gerufene Projektgruppe „Moder-ner Schuldturm, Schuldnerberatung und Entschuldung privater Haushalte“ kam über die ansatzweise Entwick-lung eines Konzepts für die Schuld-nerberatung nicht hinaus.

Von den umfangreichen Plänen zur Justizvollzugsreform, die nicht nur auf eine kurze Regierungszeit von weniger als 2 Jahren angelegt waren, konnten zwar viele wichtige Punkte nicht mehr realisiert werden, wie etwa der offene Vollzug als Regelvollzug. Ebenfalls blieben die vereinbarte freie Arztwahl auf eigene Kosten der Gefangenen sowie (im Rahmen einer Bundesratsinitiative) die Anhebung des Arbeitsentgelts für Strafgefange-ne, ihre Einbeziehung in die Sozialversicherung und die Reform der Untersuchungshaft auf der Strecke.

Jedoch konnten immerhin erste Schrit-te auf dem Weg zu einem humanen Strafvollzug gemacht werden: etwa die Abschaffung des Hochsicherheits-trakts, das Akteneinsichtsrecht in die Gefangenenpersonal- und Gnadenak-ten und die Beiordnung eines Anwalts auf Staatskosten für alle Jugendlichen Untersuchungshäftlinge.

In der durch die deutsch-deutsche Einheit auf die Tagesordnung gebrachten Frage einer großzügigen Generalamnestie nahm die Justizsenatorin eindeutig befürwortend Stellung, blieb jedoch in der eigenen Partei mit dieser Position isoliert.
Sie hat sich damit, wie auch in anderen Fragen, mutiger als ihre Senats-kollegInnen und ihr eigener Staatsekretär erwiesen.

Auch in der Personalpolitik hatte die Justizsenatorin eine überwiegend glückliche Hand. Das in der Koalitionsvereinbarung geforderte offene Be-werbungsverfahren, das gewährleisten soll, daß kritische und aufgeschlos-sene Persönlichkeiten in den Justiz-dienst als RichterInnen und Staatsan-wältInnen aufgenommen werden, wurde sogleich zu Beginn der Amtsperiode des rot-grünen Senats umgesetzt. Bemerkenswert ist auch, daß das höchste Richteramt in Berlin, nämlich das des Präsidenten des Kam-mergerichts und auch das Amt des Präsidenten des Landessozialgerichts jeweils mit einer Frau besetzt wurden.

Innenpolitik

Zwiespältig ausfallen muß nach den jüngsten Räumungen besetzter Häuser im früheren Ostteil der Stadt die Bilanz für den Bereich von Innensenator Pätzold.

Dort sind unter Rot-Grün in diesen wenigen Monaten zunächst positive Zeichen gesetzt worden. Dies gilt gerade dann, wenn Vergleiche mit der Politik des Amtsvorgängers angestellt werden. Dessen unrühmliche Polizeieinheit EbLT mit ihren bürgerkriegsähnlichen Knüppeleinsätzen ist aufgelöst worden. Die der Polizei verordnete Deeskalationsstrategie, wo staatliche Gewalt zur Lösung gesellschaftlicher Konflikte und zur Herstellung des friedlichen Zusammenle
bens aller BürgerInnen ultima ratio bleibt, begann zu greifen. Die für eine bürgernahe Polizei inadäquate Bewaffnung mit militärischen Waffen (Handgranaten, Maschinengewehre) wurde abgeschafft, die Auflösung der Freiwilligen Polizeireserve angekündigt.

Umso unverständlicher muß es anmu-ten, wenn just in dem Augenblick, wo verhärtete Fronten beginnen aufzu-brechen und das Verhältnis zwischen Polizei und kritischer Öffentlichkeit gerade die ersten Entspannungsten-denzen verzeichnet, mit einem Poli-zeieinsatz nach dem Muster Lummer-Kewenig all dies binnen weniger Stunden wieder zunichte gemacht wird.

Gegenüber dem Regierenden Bürgermeister und seinem Innensenator ist der Vorwurf zu erheben, daß berechtigte Chancen auf eine zivile Konfliktlösung nicht wahrgenommen wor-den sind. Vermittlungsangebote von Persönlichkeiten der Kirchen (Bi-schoff Forck) und der Ost-Berliner Bürgerbewegung (Bärbel Bohley) wurden aus Gründen der Wahlkampfprofilierung in den Wind geschlagen.

Im Landesamt für Verfassungsschutz wurde dank der Ausdauer von Abgeordneten in den Untersuchungsausschüssen, namentlich der MdAs Künast und Schraut, und einer ver-besserten Fachaufsicht durch den In-nensenator damit begonnen, den dort vorgefundenen, für einen Rechtsstaat untragbaren Augiasstall, für den der „Schmücker-Prozeß“ lediglich die Spitze des Eisbergs darstellt, auszumisten. Das Auskunfts- und Einsichtsrecht der BürgerInnen in Verfassungsschutzakten, einmalig in der BRD, stellt in diesem Zusammenhang eine wichtige flankierende Maßnahme dar, etwas Transparenz in das „Amt“ zu bringen.

Weitere „Reformen, die nichts kosten“, jedoch einen wichtigen Sym-bolcharakter für eine neue Innenpolitik in der Stadt hätten haben können, sind leider ausgeblieben. Man denke an die Kennzeichnung der einzelnen Polizisten, an die Schaffung eines Ombudsmanns oder wenigstens eines Polizeibeauftragten, wie er vom Ost-Berliner Magistrat eingerichtet worden ist. Bei Bußgeldern, die gegen Volkszählungsgegner unter dem Vorgängersenat verhängt worden waren, wurde nicht in allen Fällen „frie-densstiftend“ auf eine Beitreibung durch Zwangsmittel (Beugehaft) verzichtet.

Die Umstände und Begleiterscheinungen der unter dem SPD/AL-Senat am 18./19. Oktober 1990 stattgefundenen Durchsuchung der Parteizentrale der PDS geben für die Zukunft eines vereinten Berlin Anlaß zu Besorgnis und haften der Innen- und Rechtspolitik des Senats am Ende der Legislaturperiode den Makel an, es doch mit rechtsstaatlichen Essentials im Einzelfall nicht immer so genau zu nehmen, insbesondere dann, wenn es den politischen Rivalen trifft.
Die Kritik aus dem Lager der Koalition hiergegen war schwach und krallte sich lediglich an dem Faktum fest, daß es an der Einschaltung eines Ermittlungsrichters gefehlt hat. Dieses kritischen Stimmen verstummten völlig, als im nachhinein der ganze Finanzskandal ans Tageslicht gekommen ist.
Analogien zu 1933 oder auch zu den Kommunistenverfolgungen der Ade-nauer-Zeit sind fehl am Platz. Was jedoch bleibt und der Aufklärung bedarf, ist der Eindruck, daß hier nicht nur versucht worden ist, strafbares Verhalten aufzuklären und Beweise zu sichern, sondern auch eine oppositionelle Partei und deren Mitglieder mit justizförmigen Mitteln aus der Parteienlandschaft auszugrenzen.

Dieser Sachverhalt ist, darauf hat die Internationale Liga für Menschenrechte mit Recht hingewiesen, als ein Fall politischer Justiz anzusehen.

Fazit

Als Fazit kann gezogen werden: es hätte dem Senat sicher gut gestanden, zumindest im Nachhinein hier Kritik am eigenen Vorgehen zu üben. Trotzdem bliebe unter dem Bilanzstrich eher ein positiver Eindruck vom Verhältnis des Senats zu den Grundrechten der BürgerInnen, hätte es nicht diesen unheilvollen Polizeieinsatz gegen die Mainzerstraße gegeben. So bleibt nun ein fader Geschmack.

* Mitglied im Vorstand der Fachgruppe Richter und Staatsanwälte in der ÖTV