Überwachte Fahrt für freie Bürger? Automatische Nummernschilderkennung

von Daniel Boos

Die Koppelung von Videokamera und Computer macht es möglich. Automatische Fahrzeugnummern-Erkennungssys­teme ermöglichen nicht nur die Erhebung von Straßengebühren, sondern auch polizeiliche Kontrollen.

Seit es sie gibt, sind Autonummern für die Polizei interessant, weil sie nicht nur die Identifikation des Fahrzeugs, sondern auch die seines Besitzers ermöglichen. Sie sind eindeutig und außerdem in einem zentralen Register bzw. einer nationalen Datenbank erfasst. Die Abfrage dieses Registers erfolgte bisher zumeist manuell, d.h. einE PolizistIn musste das Kennzeichen per Funk an eine Zentrale übermitteln oder – im günstigsten Fall – direkt in ein Datenfunkgerät eingeben.

Das große Verkehrsaufkommen und die beschränkten Ressourcen führten jedoch dazu, dass nur ein sehr kleiner Anteil von Fahrzeugen überhaupt überprüft werden kann.[1] Die seit der Mitte der neunziger Jahre entwickelte Technik der automatischen Fahrzeugnummernerkennung soll hier Abhilfe schaffen: Automatische Fahrzeugnummernschild-Erkennungssysteme (AFNES) „lesen“ das von einer Videokamera übertragene Bild der Autonummer und führen – je nach Einsatzzweck – direkt eine Abfrage in einer bestehenden Datenbank durch. Neuere Systeme können dabei bis zu 3.000 Nummern pro Stunde erkennen, selbst wenn die Autos mit einer Geschwindigkeit von 160 km/h passieren.[2] Es handelt sich im Prinzip um eine automatisierte Videoüberwachung, bei der im Gegensatz zur herkömmlichen Videoüberwachung nicht nur die Bilder übertragen und aufgezeichnet, sondern zugleich auch analysiert werden. Ein Mustererkennungsverfahren wandelt das Bild eines Fahrzeugschildes in Text um, der vom Computer weiter verarbeitet und z.B. abgeglichen werden kann. Neben fix installierten Systemen bietet der Markt mittlerweile portable Geräte oder den Einbau in Autos an. Auch der Anschluss an geschlossene Videoüberwachungssysteme (closed circuit television – CCTV) ist möglich. Die Einsatzgebiete reichen von der Verkehrsüberwachung über die Erhebung von Straßengebühren oder die Überwachung von Zufahrtsberechtigungen bis hin zu polizeilichen oder gar geheimdienstlichen Zwecken.

Die Mischung von verschiedensten Einsatzzwecken war bereits beim ersten Einsatz von Kennzeichenerkennungssystemen sichtbar. In den 70er Jahren waren zu Zwecken der Verkehrsüberwachung Videokameras an den Ringstraßen um die Londoner City installiert worden. Nach Anschlägen der IRA Anfang der 90er Jahre wurden sie an ein AFNES angeschlossen, das die Abfrage polizeilicher Datenbestände ermöglichte. „Your number could be on“, titelte die „Times“ am 13. Mai 1994. Der „Ring of Steel“ ermöglichte es ferner, so Steve Wright von der Omega Foundation, den Weg von Autos um die City herum, ihre Ein- und Ausfahrt aus dem umschlossenen Gebiet nach zu verfolgen.[3]

Vom stählernen Ring ist auch bei dem aktuell bekanntesten Projekt des großflächigen Einsatzes der automatischen Fahrzeugnummernerkennung die Rede: Um das Verkehrsaufkommen in der City zu reduzieren, kassiert die Londoner Stadtregierung seit dem 27. Februar 2003 eine Gebühr für die Fahrt in die Innenstadt. Die Eingangspunkte zu einer Fläche von 21 km2 werden dazu von 203 fix installierten Kameras überwacht. Das angeschlossene AFNES soll prüfen, ob die FahrzeughalterInnen die Maut bezahlt haben. Die Erkennungsrate liege bei 90 %.[4] Die Stadtregierung will die Fahrzeug-Erkennung beibehalten, auch wenn sich herausstellen sollte, dass die Maut zur Ausdünnung des Verkehrs untauglich sei. Sie soll helfen, die Hauptstadt gegen terroristische Angriffe zu schützen. Laut „Observer“ waren der britische Inlandsgeheimdienst MI 5 und die Staatsschutzabteilung der Metropolitan Police (Special Branch) seit dem 11. September 2001 an der Entwicklung des Systems beteiligt.[5]

Projekt Laser

Großbritannien ist nicht nur Vorreiter bei der Videoüberwachung, sondern auch bei der Nummernschilderkennung. Zur Evaluation und Förderung ihres polizeilichen Einsatzes betreiben die britischen Polizeien ein umfassendes Programm namens „Project Laser – Denying criminals the use of the roads“ (Kriminellen die Benutzung der Straße verweigern).[6] Die bei der Fahrzeugerkennung anfallenden Daten werden dabei über das Police National Network mit dem Versicherungsregister, dem Führerschein- und Fahrzeughalterregister (DVLA), dem Police National Computer (PNC) sowie lokalen polizeilichen Datenbanken abgeglichen.

Mit Unterstützung u.a. des Innenministeriums integrierte etwa die Polizei von Northamptonshire ein AFNES in ein bereits bestehendes geschlossenes Videoüberwachungssystem.[7] Bei einer Evaluation von April bis Dezember 2001 lösten 1,5 % der Autos im Aufnahmebereich der Kameras einen Alarm aus. Da das Einsatzteam nur aus sechs Beamten bestand, habe man nur auf 8 % der Alarme reagieren können. 2.516 Wagen wurden angehalten, 388 Personen festgenommen. Ein Drittel der Festgenommenen war ohne gültigen Führerschein unterwegs, ein weiteres Viertel der Festnahmen bezog sich auf sonstige Fahrzeug-Krimina­lität (Fahrzeugdiebstahl, fehlende Versicherung, nicht bezahlte Steuern etc.). Seit der Nutzung der automatischen Fahrzeugnummernerkennung sei die Fahrzeug-Kriminalität im überwachten Gebiet um 10 % gesunken, außerhalb dieses Raumes aber leicht angestiegen. Wie bei der Videoüberwachung generell stellt sich daher auch bei der Fahrzeug-Erken­nung die Frage nach einem Verlagerungseffekt.

Eine „eindrückliche“ Zahl von 1.662 Festnahmen realisierte ein 16-köpfiges Team in den West-Midlands bei 171 Einsätzen mit einem mobilen AFNES.[8] Davon entfielen 376 auf Diebstahl, 34 auf Raub, 27 auf Einbruch, 200 auf Drogendelikte und 250 auf Fahrzeugkriminalität. In 2.000 Fällen seien Steuern nicht bezahlt gewesen. 64 gestohlene Fahrzeuge und Diebesgut im Wert von 500.000 Pfund wurden konfisziert.

Das Innenministerium und die Vereinigung der Polizeichefs feiern die automatische Nummernschilderkennung als Erfolg auf der ganzen Linie. Derzeit umfasst das Projekt Laser acht regionale Polizeien. Kurzfristig ist eine Ausdehnung auf insgesamt 21 vorgesehen. Erklärtes Ziel des Projektes ist es, für jede Polizei in England und Wales mindestens ein mobiles System zur Verfügung zu stellen. Der Einsatz soll sich aus den gesteigerten Einnahmen aus Geldbußen und Strafen selbst finanzieren.

Erfahrungen in der Schweiz

1998 startete die Schweizerische Polizeitechnische Kommission (SPTK), ein Dienstleistungsorgan der Konferenz der Kantonalen Polizeikommandanten, zusammen mit der Aargauer Kantonspolizei ein erstes Pilotprojekt. Im Baregg-Tunnel, einem Straßentunnel der Autobahn A1, wurden zwei Videokameras mit der Möglichkeit zur Fahrzeugnummernerkennung installiert. Die A1, die Bern und Zürich verbindet, ist eine der am stärksten befahrenen Straßen der Schweiz, das tägliche Verkehrsaufkommen im Baregg-Tunnel lag 2002 bei durchschnittlich 92.000 Motorfahrzeugen. Die Kameras schienen also gut platziert. Das AFNES wurde mit der nationalen Fahndungsdatenbank RIPOL verbunden.[9] RIPOL enthält u.a. die Daten der als gestohlen gemeldeten Fahrzeuge und der Halter von nicht versicherten Motorfahrzeugen. Ergab der Abgleich einen Treffer in der Datenbank, so wurde automatisch ein Streifenwagen alarmiert, der das Fahrzeug anhalten sollte. Falls sich keine Übereinstimmung ergab, wurden die Daten umgehend gelöscht. Wegen der sofortigen Löschung und dem eingeschränkten Einsatzgebiet erklärte der Eidgenössische Datenschutzbeauftragte denn auch das System für unproblematisch.[10]

Der Feldversuch dauerte 113 Tage und wurde danach eingestellt.[11] Die Erfolgsquote der Erkennung von Nummernschildern war mit 30 % sehr gering, was u.a. daran lag, dass Schweizer Kennzeichen unterschiedliche Formate aufweisen und vielfach auch zweizeilig sind. Während des Versuchs gab es 500 Alarme, die in 262 Fällen einen Streifenwagen-Einsatz nach sich zogen. Bei den insgesamt 180 durchgeführten Kontrollen wurden 30 Auto- oder Nummernschilddiebe erwischt. Trotz der niedrigen Erkennungsrate von Fahrzeugnummern aus dem Pilotprojekt erließ die SPTK Ende 1999 eine Empfehlung an die Kantone zum Einsatz von automatischen Fahrzeugnummern-Erkennungssystemen.

Bereits im Mai 1999 hatte die Stadtpolizei Zürich einen zweiten Versuch gestartet – und zwar am Sihlquai, einem Punkt der Zürcher Innenstadt, den täglich rund 10.000 Autos passieren.[12] Sie verwendet dabei ein System der Firma CES namens Carsnap.[13] Es ist ebenfalls direkt mit RIPOL verbunden und meldet automatisch einen „Treffer“, wenn ein gestohlenes Nummernschild oder das Kennzeichen eines gestohlenen bzw. unversicherten Fahrzeuges erkannt wird. Nur beim Vorliegen einer strafbaren Handlung werden Daten aufgezeichnet.[14]

Seit Dezember 2002 ist das System rund um die Uhr im Betrieb, wobei es innerhalb des ersten Monats gleich 45 Alarme gab. Dabei konnte die Polizei 20 Fahrzeuge anhalten und sieben Personen verhaften. 27 Autofahrer waren ohne Versicherungsschutz unterwegs, 12 hatten ihre Fahrzeuge nicht zur Kontrolle vorgeführt und fünf Personenwagen waren als gestohlen gemeldet.[15] Im März 2003 kaufte die Stadtpolizei für 85.000 Franken ein zweites System. Dieses ist mobil und kann deshalb überall in der Stadt eingesetzt werden.

Auch andere Kantone planen, automatische Fahrzeugnummern-Erken­nungs­systemen anzuschaffen. Die St. Galler Kantonsregierung hatte bereits einen positiven Beschluss gefasst, verzichtete dann aber aufgrund der erwarteten hohen Kosten und angesichts der schwierigen Haushaltslage auf die Anschaffung des Systems. Ganz abgeschrieben sind die Pläne jedoch nicht. Für einen späteren Zeitpunkt sucht man nach einer kostengünstigeren Lösung.[16]

„High-Tech-Fahndung“ in Bayern und Hessen

Auch deutsche Polizeibehörden haben Interesse an AFNES-Systemen. Bayern startete im Herbst 2002 einen Versuch mit mobilen und fest installierten Systemen von fünf verschiedenen Firmen. Das Staatsministerium des Innern (StMI) nannte dabei drei Einsatzgebiete: Erstens sollte die Fahrzeugkennzeichen-Erkennung für Ringalarmfahndungen etwa nach Banküberfällen genutzt werden. Zweitens wollte man durch die Koppelung eines AFNES mit einer Radaranlage Geschwindigkeitsübertretungen feststellen und dabei gleichzeitig einen Abgleich mit Fahndungsdaten vornehmen; hierfür wurden zwei mobile Systeme und ein fest auf einer Autobahn-Schilderbrücke installiertes System getestet. Durch ebenfalls fixe Kameras an den Grenzübergängen Schirnding und Waidhaus-Autobahn an der EU-Außengrenze zu Tschechien wollte man drittens sämtliche ein- und ausreisenden Fahrzeuge mit dem Fahndungsbestand abgleichen. Für diesen letzten Bereich sah der Datenschutzbeauftragte keine rechtliche Grundlage.[17]

Rechtliche Grundlagen will Hessen mit einer Änderung des Sicherheits- und Ordnungsgesetzes schaffen. Hier spricht man offen von einer Nutzung dieser Technik für die Schleierfahndung.[18] Zwar würden die Daten nur gespeichert, wenn ein Abgleich positiv ist. Da als Einsatzzweck aber die „vorbeugende Bekämpfung“ von Straftaten mit erheblicher Bedeutung vorgesehen ist, könnte die automatische Nummernschild-Erkennung theoretisch auch zur Erstellung von Bewegungsbildern genutzt werden. Ob und in welchem Maße die Nummernschild-Erkennung zum Überwachungsinstrument wird, hängt von dem Datenbestand ab, mit dem sie gekoppelt ist.

Der polizeiliche Jubel über die „High-Tech-Fahndung“ verdeckt nicht nur die Gefahren für den Datenschutz. Die technische Weiterentwicklung brachte höhere Erkennungsraten und mit der Nutzung mobi­ler Systeme auch neue Einsatzmöglichkeiten. Die Nummernschilderkennung selbst verläuft zwar automatisch, die anschließende Verfolgung er­fordert aber entsprechende personelle Ressourcen. Spätestens wenn Ka­mera-Standorte sich herumsprechen, dürften Verdrängungseffekte eintreten, die die Erfolge gegen die meist leichte Kfz-Kriminalität begrenzen. Nummernschild-Erkennungssysteme sind keine Wunderwaffen.

Daniel Boos wohnt in Zürich, ist Mitglied der Swiss Internet User Group (SIUG) und gehört zu den Organisatoren der Big-Brother-Awards Schweiz (www.bigbrotherawards.ch).
[1] Norris, C.; Armstrong, G.: The Maximum Surveillance Society, Oxford 1999, p. 214
[2] www.met.police.uk/job/job905/live_files/4.htm
[3] Wright, S.: Auf dem Weg zum globalen Überwachungsstaat, in: Bürgerrechte & Polizei/ CILIP 61 (3/1998), S. 43-51 (46)
[4] www.tfl.gov.uk/tfl/cc_fact_sheet_key_numbers.shtml
[5] www.guardian.co.uk/archive/Article/0,4273,4143807,00.html
[6] www.policereform.gov.uk/bureaucracy/Change_Proposal_Reports/Intelligence_Hand-ling/ANPR/anpr.html
[7] www.parliament.the-stationery-office.co.uk/pa/cm200102/cmhansrd/vo011102/text/ 11102w01.htm
[8] www.policereform.gov.uk/bureaucracy/Change_Proposal_Reports/Intelligence_Hand page2.html
[9] Verordnung über das automatisierte Fahndungssystem (RIPOL Verordnung): www.admin.ch/ch/d/sr/1/172.213.61.de.pdf
[10] www.edsb.ch/d/doku/jahresbericht/tb6/kap2.htm#16
[11] Tages-Anzeiger v. 12.12.1998
[12] Neue Zürcher Zeitung v. 20.3.2001
[13] www.carsnap.ch
[14] Gemeinderat Zürich, Prot. v. 22.1.2003, www.grzh.ch/2002/414.html
[15] Tages-Anzeiger v. 22.2.2003
[16] St. Galler Tagblatt v. 18.9.2003
[17] StMI: Presseerklärungen Nrn. 676 und 678/02 v. 22.11.2002
[18] Hessisches Ministerium des Innern: Presseerklärung v. 19.11.2003

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