von Fredrik Roggan
Was nach der Strafprozessordnung bereits seit 1968 zulässig ist, wird nun auch in die Polizeigesetze der Länder eingeführt: die Überwachung der Telekommunikation, kurz: TKÜ. Dabei dienen die – technisch betrachtet – sich entsprechenden Maßnahmen der Polizei unterschiedlichen Zwecken und sind rechtlich daher zu unterscheiden.
Thüringen hat im Jahre 2002 als erstes Bundesland Regelungen zur Telekommunikationsüberwachung (TKÜ) in sein Polizeigesetz aufgenommen. Die Regelung in § 34 a Abs. 1 des Thüringischen Polizeiaufgabengesetzes (ThürPAG) sieht wie die der inzwischen gleichfalls ergänzten Polizeigesetze von Niedersachsen und Rheinland-Pfalz[1] einen Auskunftsanspruch der Polizei gegenüber den Anbietern von TK-Dienstleistungen vor.
Diese müssen der Polizei auf Anordnung sowohl den Inhalt von Telefongesprächen, Fax-Sendungen oder E-Mails mitteilen als auch die näheren Umstände der Kommunikation. Zu Letzteren, den so genannten Verbindungsdaten, gehören Beginn und Ende eines Gesprächs oder der Zeitpunkt einer Sendung, der Kommunikationspartner eines überwachten Anschlusses sowie die Funkzellen, in denen sich Mobiltelefone automatisch anmelden. Da hierdurch der Standort eines Handynutzers erkennbar wird, funktionieren Mobiltelefone bekanntlich wie „Bewegungsmelder“.[2] Sowohl von der technischen Seite her als auch hinsichtlich des Umfangs der Überwachung entspricht die „präventive“ TKÜ damit jener nach der Strafprozessordnung. Unterschiede gibt es allenfalls hinsichtlich der Lieferung von Verbindungsdaten über Gespräche und Sendungen aus der Zeit vor der Anordnung. Bei der repressiven TKÜ gilt hier ein Zeitraum von sechs Monaten. Thüringen sieht eine Begrenzung von zwei Monaten vor, in Rheinland-Pfalz ist nur die Rede von „zurückliegenden Zeiträumen“.
Grundsätzlich haben die Landesgesetzgeber die Kompetenz, solche Regelungen in ihren Polizeigesetzen zu erlassen.[3] Zwar ist in Art. 73 Nr. 7 GG die Rede davon, dass die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz für die Telekommunikation beim Bund liege. Hier ist jedoch nur die fernmeldetechnische Seite von Kommunikationsvorgängen gemeint.
Allerdings ist bereits die Bezeichnung der neuen Polizeibefugnisse als „präventiv“ klärungsbedürftig. Sie wären auch aus bürgerrechtlicher Sicht unproblematisch, wenn es nur darum ginge, Menschen aus lebensbedrohlichen Situationen – etwa Geiselnahmen oder Entführungen – zu retten. Bei solchen gegenwärtigen Gefahren für Menschenleben besteht in der Tat seit Jahrzehnten eine Regelungslücke. Wenn es um die Rettung von Geiseln geht, kann sich die Polizei nämlich nicht auf die strafprozessuale Befugnis aus § 100a StPO berufen, denn in solchen Fällen wird der Schwerpunkt ihrer Tätigkeit regelmäßig auf der Ebene der Gefahrenabwehr und nicht auf der Verfolgung einer bereits begonnenen Tat liegen. Insoweit kommen nur polizeirechtliche Eingriffsermächtigungen in Betracht.[4]
Die hier zur Debatte stehenden Bestimmungen gehen jedoch über diesen Rahmen hinaus und wenden sich von einem Verständnis ab, das das Polizeirecht ausschließlich als rechtliches Instrumentarium der Polizei zur Abwehr konkreter Gefahren sieht.
Gesetzliche Voraussetzungen …
Die drei genannten Bundesländer lassen die TKÜ zunächst als Maßnahme zur Gefahrenabwehr zu. Niedersachsen und Rheinland-Pfalz verlangen sogar das Vorliegen einer gegenwärtigen Gefahr für hochrangige Rechtsgüter wie Leben, Gesundheit oder Freiheit einer Person. Wenn und solange unter einer gegenwärtigen Gefahr eine Sachlage verstanden wird, „bei der die Einwirkung des schädigenden Ereignisses bereits begonnen hat oder bei der diese Einwirkung unmittelbar oder in allernächster Zeit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bevorsteht“, dann sind solche Befugnisse unbedenklich.[5] Während Thüringen aber gar nicht erst die Gegenwärtigkeit einer Gefahr verlangt, können in Rheinland-Pfalz TKÜ-Maßnahmen – zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr – über drei Monate hinweg angeordnet und um weitere drei Monate verlängert werden. Ob man bei einem derart langen Zeitraum noch vom Vorliegen einer gegenwärtigen Gefahr sprechen kann, muss bezweifelt werden.
Thüringen und Niedersachsen begnügen sich nicht mit solchen Widersprüchlichkeiten. Sie lassen die TKÜ gleich auch zur vorbeugenden Verbrechensbekämpfung zu. Die Polizei kann nach Thüringer Rechtslage die genannten Auskünfte auch schon dann verlangen, wenn „Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass Personen Straftaten im Sinne des § 100a StPO begehen wollen.“ Das niedersächsische Sicherheits- und Ordnungsgesetz spricht noch allgemeiner von „Straftaten von erheblicher Bedeutung“. In beiden Ländern können auch „Kontakt- und Begleitpersonen“ – Freunde, Geschäftspartner oder Familienangehörige – von entsprechenden Datenerhebungen betroffen sein.
… und ihre fehlende Begrenzungswirkung
Derartige Polizeibefugnisse sind weit im Vorfeld von Straftaten angesiedelt. Insbesondere ist keinerlei Tatverdacht erforderlich. Es genügt vielmehr die polizeiliche Prognose, dass eine Person irgendwann einmal irgendeine Straftat begehen könnte. Damit erhält die Polizei auch im Bereich der Telekommunikationsüberwachung eine weitreichende Definitionsmacht.[6] Sie wird von der Verpflichtung entbunden, eine tatsächlich zu besorgende Gefahr für die öffentliche Sicherheit zu begründen. Dadurch kann auch der ohnehin nahezu uferlose Straftatenkatalog in § 100a StPO kaum mehr begrenzend wirken.[7] Denn ob eine dort genannte Straftat jemals begangen wird, ist unerheblich. Noch unbestimmter ist der Verweis auf „Straftaten von erheblicher Bedeutung“ in der niedersächsischen Regelung: Sie schließt lediglich aus, dass in unbestimmter Zukunft zu begehende Delikte aus dem Bereich der Kleinkriminalität mittels TKÜ erforscht werden. Diese „tatbestandliche Anforderung“ ist derart unbestimmt, dass der Bayerische Gesetzgeber seinen entsprechend gefassten Entwurf nach datenschützerischer Kritik zurückzog.[8] Unter dem Gesichtspunkt der Normbestimmtheit unterliegen solche Ermächtigungen nicht zu überwindenden rechtsstaatlichen Zweifeln.
Strukturermittlungen …
Die Bedeutung derart weitreichender Befugnisse liegt weniger darin, strafverfahrensrelevante Erkenntnisse zutage zu fördern. Ihr Ziel ist vielmehr, Informationszugänge zu erschließen und auf diese Weise Ansatzpunkte für anderweitige Ermittlungen zu erhalten. Dies gilt insbesondere für die Erhebung von Verbindungsdaten. Potenzielle Täter, so das polizeiliche Argument, verhinderten die Gewinnung interessanter Informationen über den Kommunikationsinhalt durch konspiratives Verhalten, etwa durch eine der vermuteten Überwachung angepasste Wortwahl. Die Auswertung von Verbindungsdaten – also die Antwort auf die Frage, wer wen wann von welchem Anschluss anrief oder anmailte oder sonst zu kontaktieren versuchte – könne der Polizei aber ein Bild des Umfeldes und der Bewegungen der Betroffenen vermitteln und lege so das Fundament zur Vorsorge für die Abwehr von Gefahren.[9] Tatsächlich wird die Polizei auf diese Weise in die Lage versetzt, qua eigener Kompetenz ganze Szenen zu erforschen und dadurch ein an polizeilichen Interessen orientiertes Lagebild zu erstellen.
… als Abkehr von rechtsstaatlichem Polizeirecht
Der rechtsstaatliche Preis solcher Polizeiarbeit ist hoch: Die Einbeziehung von Unverdächtigen und Nichtstörern wird zum gesetzlichen Normalfall. Rechtsstaatliche Schutzmechanismen versagen: Der Anfangsverdacht stellt keine Begrenzung geheimpolizeilicher Ausforschungen mehr dar. Er besitzt im rechtsstaatlichen Strafverfahrensrecht aber eine wichtige Begrenzungs- und Steuerungsfunktion: Er bestimmt wenigstens in gewissem Maß den Gegenstand polizeilicher Ermittlungen und verhindert so Ermittlungen „ins Blaue hinein“.[10] Aus den Regelungen zur Vorfeld-TKÜ lässt sich allenfalls ein Verbot unsinniger Ermittlungen ableiten. Polizeirechtlich gesehen verlieren Nichtstörer ihren spezifischen Schutz. Während sie außerhalb der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung nur im polizeilichen Notstandsfall in Anspruch genommen werden dürfen,[11] sind sie hier reguläre Informationslieferanten wider Willen.
Noch eklatanter offenbart sich die legalisierte Grenzenlosigkeit der neuen Befugnisse bei den sog. Kontakt- und Begleitpersonen: Selbst gänzlich Unbeteiligte, etwa Freunde und engere Bekannte, werden zum polizeilichen Ausforschungsobjekt.[12] Deutlicher können Gesetzgeber die Missachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes kaum ausdrücken.[13]
Das Adjektiv „präventiv“ ist für diese Art der TKÜ beschönigend. Denn bei den neuen Befugnissen geht es nicht nur darum, durch das Abhören von Telefonen verirrte Bergwanderer zu retten oder Geiseln aus den Händen von Verbrechern zu befreien. Die neuen Regelungen sind vielmehr ein weiterer Schritt weg von im ursprünglichen Sinne präventiver, d.h. gefahrenabwehrender Polizeiarbeit. Redlicherweise wäre daher von Vorfeldüberwachungen zu sprechen, die ohne Gefahr und ohne Straftatverdacht zulässig sind. Zwar änderte solch sprachliche Präzisierung nichts am gesetzgeberischen Herumtreten auf dem Telekommunikationsgeheimnis aus Art. 10 Abs. 1 GG, das in der Verfassung zwar als „unverletzlich“ bezeichnet wird, inzwischen aber als klinisch tot gelten muss.[14] Gründe der Pietät gebieten jedoch auch gegenüber Verstorbenen eine sprachliche Aufrichtigkeit.