Ein Nachtrag: „Die größte Datenaktion der Berliner Polizei“

von Lena Schraut*

Vor und während der IWF-Tagung 1988 im herbstlichen Berlin nutzte die Polizei vor allem das Mittel der verdachtsunabhängigen Personenkontrollen, um Informationen zu gewinnen. Als Rechtsgrundlage dienten zum einen das Berliner Polizeirecht (ASOG) und die Straßenverkehrsordnung, zum anderen der Kontrollstellenparagraph 111 StPO. Wir berichteten darüber in CILIP 31 (S.99 ff.). Inzwischen gibt es einige Details mehr zum Umfang der Kontrollen nach 111 StPO und eine, dem Generalbundesanwalt geltende Rüge des Bundesgerichtshofes.

Der Berliner Senat hatte vor und während der IWF-Tagung eine Art Nachrichtensperre verhängt, die vor allem den Bemühungen von Mitglieder des Abgeordnetenhauses galt, sich mittels parlamentarischer Anfragen einen Überblick über die polizeilichen Maßnahmen zu beschaffen.

Durch Pressemeldungen, die vor allem auf Betroffenenberichte basierten, entstand der Eindruck, die meisten Kontrollen seien auf der Grundlage des ASOG vorgenommen worden. Erst als der Berliner Senat sich nach und nach dazu bequemte, den Schleier von den Vorkehrungen der Berliner Polizei zu lüften, ergab sich ein anderes Bild.

Es stellte sich heraus, daß es nicht – wie in CILIP 31 berichtet – 10 Kontrollstellen nach 111 StPO im Stadtgebiet und an den Grenzübergängen gegeben hatte, sondern darüberhinaus noch weitere 37 an den Grenzübergängen: insgesamt ist 33 mal auf den 111 StPO zurückgegriffen worden, um die einreisenden und 4 mal, um die ausreisenden Personen kontrollieren zu können. Vom 4. August bis 28. September wurden die beiden Grenzübergänge Heiligensee und Dreilinden durchschnittlich jeden 2. Tag für mehrere Stunden vormittags oder nachmittags zu Kontrollstellen erklärt (s. Kleine Anfrage der AL, Nr. 5209 vom 17.11.88). Allein in Berlin gab es somit 41 Kontrollstellen innerhalb von 2 Monaten.

Kontrollstellen nach 111 StPO, deren Einführung 1978 damit begründet wurde, daß sie nur dazu dienen würden, konkrete Straftaten mit terroristischem Bezug aufzuklären, werden längst flächendekkend in präventiver Absicht eingesetzt, um bestimmte politische Szenen auszuforschen und zu verunsichern. Die rechtsdogmatischen Einschränkungen des 111 StPO, daß 1. eine Straftat begangen sein muß (zur Erinnerung: eine konkrete terroristische Straftat gab es zum Zeitpunkt der Einrichtungsanordnung im Mai nicht; der Anschlag auf Tiedtmeier erfolgte erst am 21.9.88) und 2. Anhaltspunkte vorhanden sind, daß eine Kontrollstelle – nicht 41 – an einem bestimmten Ort und zu einem bestimmten Zeitpunkt Fahndungserfolge verspricht, gelten längst nicht mehr, wenn besondere Sicherheitslagen ins Haus stehen.

So war es schon 1987, als die Volkszählung und der Besuch Reagans zu ähnlichen Maßnahmen führte.
Zwar hat inzwischen der Bundesgerichtshof diverse Beschwerden gegen die Kontrollstellenpraxis aus Anlaß der IWF-Tagung abgewiesen, gleichwohl aber die IWF-Kontrollstellenentscheidung des Ermittlungsrichters beim BGH vom 20.5.1988 deutlich gerügt.

In einem Beschluß vom 30.9.1988 (Strafverteidiger, 1/1989, S.1 f.) heißt es:

„Gegen die Rechtmäßigkeit der richterlichen Anordnung vom 20.5.1988 bestehen Bedenken. Die in 111 Abs.2 StPO für den Regelfall vorgesehene Anordnungskompetenz des Richters soll eine vorherige wirksame Kontrolle durch ihn gewährleisten. Mit diesem Gesetzeszweck dürfte es kaum zu vereinbaren sein, wenn er die Polizei ermächtigt, für einen längeren Zeitraum nach ihrem eigenen Ermessen zu jeder Tages- und Nachtzeit an jedem öffentlich zugänglichen Ort der Bundesrepublik Kontrollstellen einzurichten. Das durch 111 StPO geschaffene Fahndungsmittel wird auch bei der Verfolgung überörtlich auftretender terroristischer Gewalttäter nicht dadurch ineffektiv, daß der Richter die nach Sachlage möglichen und notwendigen Begrenzungen in dem Anordnungsbeschluß selbst festlegt; bei neuen Erkenntnissen und Gefahr im Verzug können die StA und deren Hilfsbeamte die Einrichtung weiterer Kontrollstellen aus eigenem Recht anordnen.“

In einem Schreiben des Generalbundesanwalts vom 28.November 1988 aus Anlaß der Sitzung des Bundestags-Innenausschusses am 30. November l.J. räumte der Generalbundesanwalt zwei „versehentlich“ von seiner Anordnung abweichende Anwendungsfälle des Kontrollstellenbeschlusses ein:

– zum ersten am 8. Juni anläßlich einer Veranstaltung in Gelsenkirchen mit dem Titel „Neue Militärstrategien und Aufstandsbekämpfung in der Dritten Welt“, mitgetragen von der Fraktion „Die GRÜNEN“,

– zum zweiten am 27.Juni 1988 bei einer Informationsveranstaltung zum IWF der Deutschen Jungdemokraten in Köln.

Auf den oben zitierten Beschluß des 3. Strafsenats des BGHs eingehend, kündigte Rebmann im übrigen an, 111 StPO „restriktiver als bisher“ anzuwenden, um fortzufahren: „Insbesondere werde ich für eine stärkere Eingrenzung der Anordnung in zeitlicher und räumlicher Hinsicht Sorge tragen.“

Eine Strafanzeige des Mitgliedes im Bundesvorstand der Humanistischen Union, Dr. Müller-Heidelberg, gegen den Generalbundesanwalt wegen Rechtsbeugung in dieser Sache, harrt noch der Entscheidung.

Die vom BGH formulierte „Einschränkung“ muß keineswegs dazu führen, daß die Zahl von Kontrollstellen abnimmt, hat doch der BGH in diesem Beschluß der Staatsanwaltschaft und ihren „Hilfsbeamten“, also der Polizei, zugleich auf den Ausweg hingewiesen, notfalls „aus eigenem Recht“, d.h. unter Nutzung der Rechtsfigur „Gefahr im Verzuge“, Kontrollstellen einzurichten.

Inzwischen wurde als weitere IWF-Datenaktion bekannt, daß das BKA am 27.08.88 den gesamten Bestand der Dateien „Besonderer Fahndungsbestand Landfriedensbruch“ und der Arbeitsdatei PIOS Landfriedensbruch (APLF) in Listenform an das Bundesamt für Verfassungsschutz übermittelt hat (so der Prüfbericht des Bundes-Datenschutzbeauftragten über die Abteilung Staatsschutz des BKA einschließlich der Arbeitsdatei PIOS Innere Sicherheit – APIS, Dez. 1988, S.39). Diese Listen wurden wahrscheinlich den Arbeitsgruppen zur Verfügung gestellt, die das Bundesamt und die Landesämter für Verfassungsschutz aus Anlaß der IWF-Tagung gebildet hatten (s. „Spiegel“, 5.9.88).

Weitere Literatur:
Jan Ehrhardt/ Catharina Kunze, Kontrollstellen außer Kontrolle, in: Demokratie und Recht, Nr.2/1989
Deutscher Bundestag, Drs.11/2066 vom 28.3.1988 (Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage – Drs. 11/1962 – … Einrichtung von Kontrollstellen gemäß 111StPO),
Deutscher Bundestag, Drs.11/3130 vom 17.10.1988 (Antwort auf die Kleine Anfrage – Drs. 11/2790 – Kontrollstellen anläßlich der IWF-Tagung)
* Mitglied der AL-Fraktion im Abgeordnetenhaus von Berlin und seit Jahren sachkundige Polizei-/Datenschutzexpertin