Spanien, die Grenze nach Süden – Die Folgen von Schengen

Nicht nur an ihren Ostgrenzen steht die ‚Festung Europa‘ vor Problemen. Auch die Südflanke macht den Festungsbauern zu schaffen. Die südlichen EG-Staaten (mit Ausnahme Frankreichs) befinden sich dabei in der eigentümlichen Situation, daß sie selbst bis vor kurzem noch Auswanderungsländer waren.

Für Spanien begann sich der Migrationssaldo etwa 1985 umzudrehen. Aber noch 1990 lebten weitaus mehr Spanier im Ausland als Ausländer in Spanien: den 1,7 Mio. emigrierten Spaniern standen nur 475.000 legal und ca. 300.000 illegal in Spanien lebende Ausländer gegenüber.[1] 1985 wurde in Spanien erstmals ein Ausländergesetz verabschiedet. Mit diesem Gesetz reagierte der Staat indes nicht auf innere Probleme: Ausländische Arbeitskräfte leisteten gute Dienste in der Textil- und Bauindustrie und als Saisonarbeiter in der Landwirtschaft. Das Gesetz reagierte auf den Druck der EG-Staaten, zu denen auch die spanische Regierung ihr Land gesellen wollte.[2]

Dieses Ausländergesetz wurde in den folgenden Jahren immer rigider angewendet. Nur ein verhältnismäßig geringer Teil der Nicht-EG-Ausländer konnte den Weg in die Illegalisierung verhindern und die Vorteile der Amnestie annehmen, die die Einführung des Gesetzes begleitete. Die Zahl der Ausweisungen stieg massiv an. Von 4.739 Personen waren im Jahre 1989 4.275 ausschließlich wegen ihres illegalen Status ausgewiesen worden.

Ausweisungen aus Spanien

1985 975
1986 1.497
1987 2.262
1988 3.744
1989 4.739

Quelle: Asociación pro derechos humanos de España: Informe anual 1989, Madrid 1990, S. 63

Wie sehr die EG-Staaten und insbesondere Frankreich Druck auf die spanische Ausländerpolitik ausübten und in welchem Maße die europa-begeisterte ’sozialistische‘ Regierung Gonzales auf diesen Druck reagierte, zeigte sich erneut, als sich die spanische Regierung um den Beitritt zum Schengener Abkommen bemühte: Ende Mai 1990 startete der französische Premier Rocard eine Initiative gegen illegale Einwanderungen. Die Erklärung Rocards erzielte in Spanien eine große öffentliche Wirkung, weil der französische ‚Sozialist‘ – wenngleich nur in Andeutungen – auch seine Genossen in der spanischen Regierung unter Beschuß nahm.

Die spanische Reaktion folgte prompt. Sie bestand jedoch nicht etwa in einer Zurückweisung der Bemerkungen Rocards, sondern in umfangreichen Razzien gegen Illegale, die zu Hunderten abgeschoben wurden. Die überwiegende Mehrheit der Abgeschobenen waren Marokkaner.

Diese Reaktion auf die französische Warnung wurde belohnt. Auf dem spanisch-französischen Ministertreffen am 1.7.90 versprach der französische Außenminister Dumas nicht nur seine Unterstützung für die Bewerbung Spaniens als Sitz der europäischen Umweltbehörde, sondern auch für den Beitritt zum Schengener Abkommen, das zwei Wochen vorher von den Benelux-Staaten, Frankreich und der BRD unterschrieben worden war.[3]

Visumpflicht

Der endgültige Beitritt erfolgte ein Jahr später und war mit weiteren Verschärfungen der spanischen Ausländerpolitik verbunden.[4] Mit der Unterschrift unter das Übereinkommen verpflichtete sich Spanien gleichzeitig die gemeinsame Visumsregelung anzuerkennen.[5] Die spanische Regierung kam dieser Regelung sogar zuvor, indem sie am 15.5.90 die Visumspflicht für alle Maghreb-Staaten einführte.[6] Eine Sonderregelung gilt nur für die zu Spanien gehörenden Städte auf dem afrikanischen Kontinent, Ceuta und Melilla. Zwischen diesen Städten und dem Mutterland sollen weiterhin Grenzkontrollen durchgeführt werden. Zweitens schuf man eine Regelung für den kleinen Grenzverkehr zwischen den marokkanischen Provinzen Tetuán und Nador, deren Bürger nach wie vor visumsfrei nach Ceuta und Melilla, nicht aber auf die europäische Seite des spanischen Staates reisen können.[7] Von dieser Ausnahme abgesehen galt damit zum erste Mal nach 25 Jahren eine Visumspflicht für Marokkaner in Spanien. Gleichzeitig wurden die Einreisebestimmungen für Ausländer aus Nicht-EG-Staaten verschärft: Sie müssen neben einem Weiter- oder Rückreiseticket nun zusätzlich einen Betrag von mindestens 50.000 Peseten (ca. 850 DM) vorweisen.

Bezogen sich die Kontrollen gegen Illegale bis zu diesem Zeitpunkt noch auf diejenigen, die ohne längere Aufenthaltsgenehmigung in Spanien blieben bzw. dort arbeiteten, so wurden die Kontrollen nun auch auf die afrikanische Seite der Meerenge von Gibraltar (vor)verlegt.

Das spanische Parlament beschloß als Ausgleich für die Visumspflicht am 10.7.91 eine sechs Monate dauernde Amnestie für Illegale, die aber – ebenso wie 1985 – nur zu einem Teil erfolgreich war. 120.000 von geschätzten 300.000 Ausländern ohne Aufenthaltsgenehmigung konnten damit ihren Aufenthalt in Spanien legalisieren. Voraussetzung war, daß sie vor dem 15.5.91 eingereist waren und in Spanien „verwurzelt“ waren, d.h. einen Arbeitsvertrag von mehr als sechs Monaten vorweisen konnten. Letzteres stellte sich als schwierig heraus, da das Interesse der Unternehmer just dem Status des Illegalen und der damit verbundenen Niedriglohnarbeit galt (und gilt).[8]

Die Meerenge von Gibraltar

Die Visumspflicht und die schärferen Kontrollen verursachten einen weiteren Effekt: Sie ließen die illegale Einreise über die Meerenge von Gibraltar ansteigen. Bereits in den ersten acht Monaten des Jahres 1991 wurden über 400 marokkanische ‚Boat people‘ von der Guardia Civil aufgegriffen und nach Marokko zurückgebracht.[9] In den ersten 11 Monaten des Jahres 1992 wurden in der Provinz Cadiz insgesamt 1.555 Bootsflüchtlinge festgenommen.[10] Bei den Booten handelt es sich zumeist um die Kähne marokkanischer Küstenfischer, die für eine Überquerung der Meerenge kaum tauglich sind. Für 1991 schätzten marokkanische Behörden, daß ca. 1.000 Personen bei der Überfahrt ertrunken sind.[11] Spanische Schätzungen sind niedriger: In den ersten zehn Monaten des Jahres 1992 wurden 23 Leichen in der Provinz Cadiz angespült, geschätzt werden für denselben Zeitraum insgesamt 400 Ertrunkene.[12]

Bei den Schleppern dürfte (ähnlich wie im Falle der deutschen Ostgrenze) kein allzu hoher Organisationsgrad angenommen werden. Auch wenn von einem durchschnittlichen Preis von 600 bis 1.000 DM pro Person ausgegangen wird (d.h. von einem Gewinn zwischen 15.000 und 25.000 DM pro Fahrt), wäre die Annahme großer Organisationen ein Fehler. Vielfach handelt es sich um Personen, die vorher als Haschisch-Kuriere tätig waren und nun in das lukrativere Geschäft des Menschenschmuggels umgestiegen sind. Maurice Lemoine ordnet diese Schleppergruppierungen folgerichtig in den allgemeinen Prozeß der Verarmung ein.[13]

Neben den Maghrebinern sind es Schwarzafrikaner, die die Meerenge in Booten zu überqueren suchen; sie bilden ca. 15% der ‚Boat People‘.[14] Nach Spanien kamen sie bis 1990 vor allem über die kanarischen Inseln. Im Juli 1990 begann die spanische Regierung jedoch die Kontrollen auf den Kanaren zu verstärken. Das eingesetzte Personal der ‚Guardia Civil‘ wurde aufgestockt, Festnahmen mehrten sich.[15] Während Marokko bis zu diesem Zeitpunkt die Rückschiebung eigener Staatsangehöriger weitgehend formlos akzeptierte, stellten über Marokko eingereiste Schwarzafrikaner ein Problem dar. Da ihre Identität in den seltensten Fällen nachgewiesen werden konnte und illegaler Aufenthalt nur eine Ordnungswidrigkeit darstellte, waren die spanischen Polizeien gezwungen, die Illegalen nach vier Wochen wieder freizulassen. Diese Situation änderte sich zunächst auch mit dem Rückübernahmeabkommen vom 13.2.92 nicht. Mit dem zahlenmäßigen Anwachsen der ‚Boat people‘ in den Sommermonaten 1992 wurde die Frage der Rückübernahme von Afrikanern dann zum Gegenstand eines diplomatischen Konflikts zwischen Spanien und Marokko. Der Höhepunkt der Auseinandersetzung kam im Juli 1992: Am 12.7.92 wiesen die spanischen Behörden 84 afrikanische Flüchtlinge ins Niemandsland zwischen Marokko und der Enklave Melilla zurück, wo sie 15 Tage ausharren mußten. Nachdem Marokko nicht zur Aufnahme bereit war, lenkten die spanischen Behörden am 27. Juli nach Protesten von Menschenrechtsorganisationen und Gewerkschaften zunächst ein.[16] Die Flüchtlinge wurden von der ‚Policía Nacional‘ und der ‚Guardia Civil‘ zurückgebracht – in die Abschiebehaft. Es folgten hektische Konsultationen zwischen beiden Ländern, an deren Ende das marokkanische Innenministerium nachgeben mußte.[17]

Verstärkt wurde auch die polizeiliche Aufsicht über den Bootsverkehr. Der Ankündigung Marokkos im November 1992, Grenzkontrollen und -überwachung verstärken zu wollen, folgte der Bau von zusätzlichen 160 Küstenbeobachtungsposten.[18] Gleichzeitig wurde die Visumspflicht für alle afrikanischen Länder mit Ausnahme der Maghreb-Union eingeführt.

In Spanien wurde im Herbst 1992 nach dem Ende der olympischen Spiele die im Vorjahr gebildete ‚Guardia Civil del Mar‘ (Seeabteilung der ‚Guardia Civil‘) in größerem Umfang an die andalusische Küste verlegt. 125 Beamte einer Spezialeinheit mit fünf Schnell- und zwei Patrouillenbooten ergänzten damit den Zollüberwachungsdienst, dem bis dahin in großem Maße die Kontrolle in Tarifa (Provinz Cádiz) oblag. Auch an Land sollte das Personal der beiden Staatspolizeien ‚Guardia Civil‘ und ‚Policía Nacional‘ in der Provinz Cádiz auf 3.400 Mann erhöht werden.[19]

Auswirkungen

Seit November scheint der Verkehr der „pateras“, der Nußschalen, zwischen Marokko und der spanischen Küste weitgehend zum Erliegen gekommen zu sein.[20] Ob die Einwanderung von Afrika in die südlichen Länder der EG ganz gestoppt ist, dürfte allerdings zu bezweifeln sein. So gab der spanische Innenminister Corcuera bei Gesprächen mit seinem französischen Amtskollegen schon Ende September letzten Jahres an, die meisten Illegalen kämen über Portugal oder reisten legal mit Touristenvisa ein, um dann im Land zu bleiben.[21]

Zusammenfassend zeigt sich ein ähnlicher Vorverlagerungsprozeß, wie er auch an der Ostgrenze der EG festzustellen ist. Auch hier stellt sich die Frage, wo Europas Grenze verläuft:

  • Seit den späten 80er Jahren hat es Spanien geschafft, nach Europa zu rücken. Der Preis hierfür waren u.a. Veränderungen seiner Ausländerpolitik und damit bis zu einem gewissen Grad auch die Aufgabe der Brückenkopf-Funktion zwischen Europa und Afrika einerseits sowie Lateinamerika andererseits, die das Land für sich reserviert hatte.
  • Die instabilen und verarmenden Länder des Maghreb – abhängig von den Wirtschaftsbeziehungen zur EG – wurden dagegen in die Aufgabe europäischer Grenz(vor)posten gedrängt. Marokko erhält dafür Brosamen vom Tisch der EG: Hatte das Europa-Parlament noch im Januar 1992 die Vergabe von Krediten an Marokko wegen Verletzung der Menschenrechte blockiert, so schien es im Oktober desselben Jahres keine Zweifel an der marokkanischen Demokratie mehr zu hegen.[22]
  • Die Flüchtlinge des übrigen afrikanischen Kontinents sollen nun der Abschiebung durch die Behörden der Maghreb-Staaten überantwortet werden.
Heiner Busch ist Redaktionsmitglied und Mitherausgeber von Bürgerrechte & Polizei/CILIP.
[1] El País v. 30.5.1990
[2] die tageszeitung v. 10.5.1990
[3] El País v. 2.7.1990
[4] siehe die Protokolle und Erklärungen zum Beitritt, in: Gesetzentwurf der Bundesregierung – Entwurf eines Gesetzes zu den Übereinkommen vom 27.11.90 über den Beitritt der italienischen Republik, vom 25.6.1991 über den Beitritt des Königreichs Spanien vom 25.6.91 über den Beitritt der Portugiesischen Republik zu dem Schengener Übereinkommen vom 19.6.90, Deutscher Bundestag – Drucksache 12/3804 vom 24.11.1992
[5] Gemeinsame Erklärung zu Art. 9 II, ebd. S. 20 ff.
[6] El País v. 16.5.1990
[7] Erklärung in bezug auf die Städte Ceuta und Melilla, ebd., S. 21 ff.
[8] die tageszeitung v. 20.6.91; Das Parlament Nr. 12 v. 13.3.1992
[9] Das Parlament Nr. 12 v. 13.3.1992
[10] Der Spiegel v. 16.11.1992
[11] Afrika-Post, Heft 11/92
[12] Der Spiegel v. 16.11.1992
[13] Le Monde diplomatique Nr. 12/92
[14] ebd.
[15] El País v. 25.7.1990
[16] El País v. 28.7.1992
[17] El País v. 25.8.1992
[18] Süddeutsche Zeitung v. 12.12.1992
[19] El País v. 10.9.1992
[20] die tageszeitung v. 21.11.1992
[21] El País v. 30.9.1992
[22] die tageszeitung v. 21.11.1992