von Jürgen Gottschlich
„Zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitlich demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes kann die Bundesregierung, wenn die Voraussetzungen des Artikels 91 Abs. 2 vorliegen und die Polizeikräfte sowie der Bundesgrenzschutz nicht ausreichen, Streitkräfte zur Unterstützung der Polizei und des Bundesgrenzschutzes beim Schutze von zivilen Objekten und bei der Bekämpfung organisierter und militärisch bewaffneter Aufständischer einsetzen. Der Einsatz von Streitkräften ist einzustellen, wenn der Bundestag oder der Bundesrat es verlangt.“ Diese Formulierung ist das Ergebnis einer langen und heftigen politischen Debatte über die Notstandsgesetze in den 60er Jahren, die schließlich durch eine entsprechende Grundgesetzänderung der Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD beendet wurde. Seither war es ruhig geblieben um diese Notstandsgesetze – seit ihrer Verabschiedung wurden sie nie angewendet, als drohendes Repressionsinstrument gerieten sie schließlich nahezu in Vergessenheit.
Es gehört zu den vielen zweifelhaften Verdiensten des CDU-Kronprinzen und Fraktionsvorsitzenden Wolfgang Schäuble, daß zumindest die interessierte Öffentlichkeit Anfang dieses Jahres wieder im Grundgesetz blätterte. Scheinbar aus heiterem Himmel hatte der Schwabe kurz vor Weihnachten 1993 in die Mottenkiste des Obrigkeitsstaates gegriffen und in einem Brief an seine Fraktion angeregt, die Bundeswehr zukünftig nicht mehr nutzlos in den Kasernen sitzen zu lassen, sondern verstärkt auch für Notfälle im Innern einzusetzen – quasi als polizeiliche Reservearmee. Die bisherigen Notstandsregeln seien zu rigide, über eine neuerliche Verfassungsänderung müsse zumindest nachgedacht werden.
Zwei – drei – vier – marschieren wir
Beispielhaft, aber nicht erschöpfend, nannte Schäuble als neue Einsatzmöglichkeiten der Armee die Abwehr terroristischer Gefahren und die Grenzsicherung gegen die Hungerleider aus dem Osten. Um von der Harmlosigkeit seiner Überlegungen zu überzeugen, malte der Fraktionschef eine Situation aus, in der – anders als in Holland, wo die Armee bei der Bekämpfung der Hochwasserkatastrophe zum Zuge kam – die Bundeswehr nicht einmal zur Umleitung des Verkehrs hätte eingesetzt werden dürfen. Dabei unterschlug er allerdings frech, daß die Bundeswehr im Katastrophenfall sehr wohl zum Einsatz kommen kann, nur eben keine hoheitlichen Aufgaben (z.B. Straßen sperren) übernehmen darf. Auch die übrigen Beispiele erwiesen sich bei einigem Nachfragen als ähnlich obskur: Im Nachrichtenmagazin ‚Der Spiegel‘ erinnerte Schäuble an eine Situation aus seiner Zeit als Bundesinnenminister, wo er, verantwortlich für die Sicherheit eines Weltwirtschaftsgipfels in Bonn, angeblich mit Schrecken eine gravierende Lücke in der Abwehr feststellen mußte, weil Polizei und Bundesgrenzschutz (BGS) über kein Equipment zur Abwehr terroristischer Angriffe aus der Luft verfügten – und die Pershing der Bundeswehr durfte er ja nicht benutzen.
Am weitesten in den Bereich praktischer Politik führt dagegen der Hinweis auf die Flüchtlingsabwehr an der Ostgrenze. Neben dem Schüren von Ressentiments gegen Fremde – ein bei Schäuble noch an anderen Punkten erkennbares Motiv politischer Vorschläge – gibt es tatsächlich Bestrebungen, den BGS durch Soldaten zu verstärken. Während entsetzte Kritiker fragten, ob denn wohl bald die Bundeswehr mit schweren Waffen auf anrückende „Wohlfahrtsasylanten“ schießen solle, bereitete das Innenministerium in Absprache mit dem Verteidigungsministerium eine „personelle Verstärkung des BGS für Grenzsicherungsmaßnahmen an den Ostgrenzen durch Soldaten der Bundeswehr“ vor. Dabei ist vorgesehen, „aktive Soldaten in einem Größenumfang von insgesamt 465 Mann zur Grenzverstärkung in den BGS im Wege der Kommandierung, Abordnung, Beurlaubung oder eines sonst geeigneten dienstrechtlichen Instruments zu integrieren.“ Diese Soldaten sollen vor allem an sog. Wärmebildgeräten eingesetzt werden, die ebenfalls die Bundeswehr zur Verfügung stellt, und für deren Bedienung noch kein BGS-Personal ausgebildet ist. Ein vom Innen- und Verteidigungsministerium beim Justizministerium in Auftrag gegebenes Rechtsgutachten kam (erwartungsgemäß) zu dem Schluß, daß gegen einen solchen Einsatz verfassungsrechtlich keine Bedenken bestehen, sondern die zeitweilige Verwendung von Soldaten im BGS im Wege der Amtshilfe rechtlich vertretbar sei. Ein Einsatz von Bundeswehreinheiten an der Grenze wäre zwar verfassungswidrig, aber bei dem geplanten Projekt solle es ja gerade nicht darum gehen, die Bundeswehr als Institution einzusetzen, sondern einzelne Soldaten vorübergehend in die Kommandostruktur des BGS einzubinden, um die Institution BGS so zu verstärken. Artikel 87 a Abs. 2 GG, der den Bundeswehreinsatz im Falle des Notstandes regelt, sei mithin nicht tangiert. So war die Debatte über die Verwendung der Bundeswehr im Innern schon Ende 1992 eingeleitet worden und sie diente Schäuble denn auch als Folie, um seinen Vorstoß im Dezember ’93 zu begründen. Statt weiterhin an juristischen Modellen zu basteln, wie die Bundeswehr unterhalb der verfassungsrechtlichen Hürde im Innern eingesetzt werden könnte, forderte Schäuble kurz und knackig eine neuerliche Änderung des Grundgesetzes.
Hintergrund: Normaliät
Für den CDU-Vordenker gab und gibt es ein ganzes Bündel von Motiven, die Debatte über die Bundeswehr als Repressionsinstrument im Innern loszutreten. Zum einen eignet sich dieses Thema wie kaum ein anderes, den Christdemokraten im Kampf um Stimmen am rechten Rand Profil zu verschaffen. Insofern paßt es genau in eine Strategie, der CDU – wenn ihr schon der Status als Volkspartei abhanden zu kommen droht – zumindest im rechtskonservativen Lager die uneingeschränkte Herrschaft zu sichern. Schäuble gilt etlichen Kennern der Partei als führender Kopf dieser Langzeitperspektive. Kurzfristig kommt hinzu, daß die CDU und speziell Wolfgang Schäuble in den Debatten um die letzten Verfassungsänderungen, etwa beim Asylrecht, bei den Auslandseinsätzen der Bundeswehr und dem Großen Lauschangriff gute Erfahrungen gemacht hat. Ganz unabhängig davon, ob eine Grundgesetzänderung letztlich wirklich durchgesetzt werden konnte, bestimmte die CDU über Monate die öffentliche Debatte. Die SPD kam aus der Defensive gar nicht mehr heraus, sondern sah sich immer wieder genötigt, auf die Union zu reagieren. Daß Schäuble damit auch seinen parteiinternen Führungsanspruch als zweiter Mann nach Helmut Kohl festigen konnte, versteht sich fast von selbst. Das entscheidende Motiv aber ist ein anderes. Das Schlüsselwort sowohl für Wolfgang Schäuble wie auch für die meisten anderen führenden Regierungspolitiker heißt Normalität. In einem Beitrag für die ‚Frankfurter Allgemeine Zeitung‘ bekannte sich Schäuble auch ganz ausdrücklich zu diesem Motiv:
„Als Innenminister habe ich erlebt, wie schnell die Kapazitäten der Sicher-heitskräfte erschöpft sein können. (…) Für die Herausforderungen, von denen ich spreche, kann man nicht unbegrenzt Sicherheitskräfte gleichsam auf Vorrat halten. Die Bundeswehr mit ihren personellen, fachlichen und logistischen Möglichkeiten aber stünde im Notfall bereit, wenn die besonders strengen Einschränkungen, die man ihr in Deutschland aus historischen Gründen auferlegt hat, auf ein Maß gebracht werden, das in anderen Demokratien ganz normal ist. Im Kern ist die Diskussion also die gleiche, wie die über humanitäre, friedensschaffende oder friedenssichernde Einsätze. Wie immer sind wir Deutschen ungeheuer findig, wenn es gilt, Argumente dafür zusammenzubasteln, was alles nicht geht. (…) Doch wie wäre es, wenn wir unsere Energie einmal nicht zum Verhindern, benutzen sondern zum Handeln? Von heute auf morgen muß ja nicht entschieden werden. Aber es ist nicht einzusehen, daß wir uns gewohnheitsmäßig mit Denkverboten umstellen. Eine Risikoreserve, die in den Sicherheitsverbund von Polizei und Bundesgrenzschutz auch die Bundeswehr im Notfall einbezöge, wäre machbar und vernünftig.“
Hinter dieser Argumentation steckt die ganze Debatte über den Status des neuen, vereinigten Deutschland. Dabei geht es nicht in erster Linie um den tatsächlichen praktischen Einsatz von Soldaten im Innern, sondern um die Durchsetzung eines neuen Selbstverständnisses. Die Nachkriegsgeschichte ist abgeschlossen, die von den Alliierten auferlegten Beschränkungen sind gegenstandslos geworden, und dem neuen deutschen Selbstbewußtsein wäre es nicht angemessen, diese Beschränkungen als Selbstbeschränkungen beizubehalten. Bei Franz-Josef Strauß, dem einstigen charismatischen Führer der CSU, hieß das kurz und einprägsam: das Büßerhemd muß runter.
Die Frage stellt sich, ob der von Schäuble um die Jahreswende gestartete Testballon im laufenden Wahlkampf noch einmal, diesmal dann mit größerer Hartnäckigkeit und mehr Treibstoffreserven erneut losgeschickt wird. Eine gewisse Vorentscheidung über die Wiederverwendbarkeit der Debatte ist am 12. Juli in Karlsruhe gefallen. Da der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichtes die ‚out-of-area‘-Einsätze der Bundeswehr für verfassungskonform erklärt hat, besitzt Wolfgang Schäuble eine gute Plattform, den von ihm selbst so genannten Zusammenhang von äußerem und inneren Einsatz der Bundeswehr als übergreifendes Normalisierungsprojekt erneut zum Thema zu machen.
Und das mit Aussicht auf Erfolg, zumindest als Wahlkampfthema. Zwar weiß auch Schäuble, daß es in dieser Legislaturperiode keine Verfassungsänderung mehr geben wird, daß ihm die SPD im Wahlkampf natürlich keine Zweidrittelmehrheit im Bundestag schenken wird (was im übrigen aber auch für die weiteren Auslandseinsätze der Bundeswehr gilt). Dennoch darf man fast sicher sein, daß die Ablehnungsfront vom Jahresanfang bröckeln wird. Bereits jetzt zeichnet sich eine Möglichkeit ab, wie für die Konservativen aus der Diskussion um den inneren Einsatz der Bundeswehr auch so noch ein praktischer Nutzen zu ziehen sein wird. In einem Interview im ‚Hessischen Rundfunk‘ machte sich unlängst der ehemalige Verfassungsrichter Helmut Simon (SPD), sicher unbeabsichtigt, zum Anwalt einer Erweiterung des Bundesgrenzschutzes: „Der Vorschlag Schäubles gehört für mich auf die Linie des unbegreiflichen fast verantwortungslosen. Es ist ja bekannt, daß der Einsatz verfassungswidrig ist (…). Das Grundgesetz unterscheidet ganz klar zwischen militärischen und polizeilichen Aufgaben (…). Wenn wir wirklich mehr Polizei brauchen, dann sollten wir die Bundeswehr verkleinern und die Polizei vergrößern. Dringend zu warnen ist allerdings davor, polizeiliche Aufgaben auf das Militär zu übertragen, denn militärische und polizeiliche Ausbildung, Bewaffnung und Einsatzmethoden unterscheiden sich grundlegend (…). Wegen dieser Unterschiede muß man davon ausgehen, daß beim Einsatz des Militärs im Innern mehr Schaden als Nutzen eintritt.“
Vielleicht wäre das das Ergebnis, welches der Polit-Profi Schäuble neben dem propagandistischen Effekt letztlich sowieso anstrebt. In dem Beitrag der ‚Frankfurter Allgemeinen Zeitung‘ stellt er mit leicht ironischem Unterton bereits fest, daß die Sozialdemokraten, die sonst immer den Bundesgrenzschutz abbauen wollten, nun plötzlich rufen, dann „solle man eben den Bun-desgrenzschutz oder die Polizei erweitern.“ „Das mag sogar richtig sein“, stimmt er großzügig zu.