Wer nach Alternativen zur gegenwärtigen ‚Politik Innerer Sicherheit‘ sucht, nach bürgerrechtlich orientierten Vorschlägen einer Kriminalpolitik, die mehr als Kriminalisierungspolitik ist, und nach Apparaten, die nicht nach bürokratisch-obrigkeitsstaatlichen Prinzipien organisiert sind, wird zwei Merkmale feststellen, die auch auf die Schwerpunkt-Beiträge dieses Heftes zutreffen: Erstens überwiegt – quantitativ wie qualitativ – die Kritik gegenüber den Vorschlägen. Zweitens handelt es sich in der Regel um punktuelle Reformforderungen, die zwar explizit oder implizit auf die zugrundeliegenden Vorstellungen über den Begriff, die Institutionen, die Akteure, das Recht etc. Innerer Sicherheit verweisen. Ein halbwegs konsistentes Konzept der Alternativen ist jedoch nirgendwo in Sicht. Häufig ist an die Stelle demokratisierender Reformen das Beharren auf Verfassungspositionen getreten. Angesichts der tatsächlichen Wandlungen des Komplexes der Inneren Sicherheit gehorchen demokratisch-rechtsstaatliche Positionen häufig den tagespolitischen Erfordernissen. Mit einer ‚Bewahren statt Verändern‘-Strategie soll das Schlimmste verhindert werden. Für Vorstellungen, die der Maxime ‚Bewahren durch Verändern‘ folgen, fehlen weniger Luft oder Phantasie, sondern ein politisches Klima, in dem alternativen Ansätzen überhaupt eine Chance eingeräumt wird.
Der konzeptionelle Mangel stellt sich dann besonders deutlich ein, wenn die Vorschläge nicht einzeln, sondern insgesamt betrachtet werden. Auch wenn sie als einzelne zu überzeugen vermögen und aus bürgerrechtlich orientierter Perspektive dringend geboten erscheinen, so bleiben zentrale Fragen durchweg unbeantwortet und häufig sogar ungestellt. Einige Beispiele:
- Wie kann eine Polizei als ‚Bürgerpolizei‘ gestaltet werden, ohne daß an die Stelle bürokratischer Dominanz die der angepaßten und ausgrenzungsbereiten Mittelschichten tritt? Wie kann eine bürgerrechtliche Kriminalpolitik die BürgerInnen aktivieren, ohne sie zugleich dem ’starken Staat‘ in die Arme zu treiben?
- Welches Verhältnis soll zwischen Zentralisierung und Dezentralisierung bestehen? Welche ‚Sicherheits-Aufgaben‘ können sinnvollerweise mit welchen Formen lokal (dezentral) wahrgenommen werden? Welche Implikationen hat das für die (polizeiliche) Datenverarbeitung?
- Welche Rolle spielt Europa? Wenn der Kooperation zwischen den Staaten der Vorzug vor polizeilichen EU-Einrichtungen gegeben wird, wie muß eine solche Kooperation gestaltet werden, damit sie politisch (zumindest) kontrollierbar bleibt?
- Welchen Stellenwert kommt dem Recht als Eingriffs- bzw. Schutzrecht zu? Wie können beide Wirkungen prozedural und insitutionell abgesichert werden?
- Worin soll die Bedeutung des Strafrechts liegen, wenn Entkriminalisierung Priorität genießt, bestimmte Handlungen aber nicht geduldet werden (sollen)?
Es sind jedoch nicht diese Fragen, welche die Umsetzung vorliegender Alternativen verhindern, sondern fehlender politischer Wille.
In den Beiträgen zum Schwerpunkt finden sich die Hinweise auf die jeweilige Literatur, denn das hier Versammelte ist durchweg eine Zusammenfassung vorliegender Vorschläge. Einige wenige Titel verdienen gesonderte Erwähnung.Die Grünen im Bundestag/ Alternative Liste Berlin (Hg.):„Nicht dem Staate, sondern den Bürgern dienen“, Bonn, Berlin 1990
Dieses von der ‚AG Bürgerrechte‘ im Auftrag der Grünen Bundestagsfraktion erstellte Gutachten umreißt die wichtigsten – und nach wie vor aktuellen – Grundlinien einer Reform der deutschen Polizeien in demokratisierender Absicht. Die Stichworte lauten: Alltagsorientierung, Dezentralisierung, Entbürokratisierung, stärkere Kontrolle der Polizei. Die seitherige Entwicklung läßt Reformen in diese Richtung nötiger denn je erscheinen.
Müller-Heidelberg, Till: „Innere Sicherheit“ Ja – aber wie. Plädoyer für eine rationale Kriminalpolitik, in: Humanistische Union (Hg.): „Innere Sicherheit“ Ja – aber wie? (Humanistische Union, Schriften Bd. 20), München 1994, S. 13-72
Nach einer Kritik herrschender Bedrohungsbilder und Bekämpfungsstrategien stellt der Vorsitzende der Humanistischen Union auf den letzten 18 Seiten seines Beitrags die „Vorschläge der HU zur Erhöhung der Inneren Sicherheit“ vor. Sie reichen von Legalisierungs- und Entkriminalisierungsforderungen und dem Vorrang der Prävention bis zur Reform von Polizei (Entlastung von polizeifremden Aufgaben, Öffnung der Polizei für Ausländer, Namensschilder für Polizisten, verbesserte Ausbildung) und Strafvollzug.
Albrecht, Peter-Alexis u.a.: Strafrecht – ultima ratio. Empfehlungen der Niedersächsischen Kommission zur Reform des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts, Baden-Baden 1992
Albrecht, Peter-Alexis/Hassemer, Winfried/Voß, Michael (Hg.): Rechtsgüterschutz durch Entkriminalisierung. Vorschläge der Hessischen Kommission „Kriminalpolitik“ zur Reform des Strafrechts, Baden-Baden 1992
Börner, Bertram/Fabricius-Brand, Margarete (Hg.): 3. Alternativer Juristinnen- und Juristentag, Baden-Baden 1994
In den drei Bänden steht die Entkriminalisierung verschiedener Deliktsbereiche im Vordergrund. Für Betäubungsmittel-, Eigentums- und Vermögens-, Straßenverkehrsdelikte sowie die Nötigung und das politische Strafrecht werden (unterschiedlich weit gehende) Vorschläge unterbreitet. Leider sind diese noch immer nicht von der Wirklichkeit überholt.
Freilich gibt es auf den politischen Bühnen der Republik – bei (einigen) Parteien, in den Parlamenten – eine Fülle von wichtigen Vorschlägen, die hier nicht aufgeführt werden können. Exemplarisch sei jedoch hingewiesen auf:Bündnis 90/Die Grünen, Bundestagsfraktion: „10 Eckpunkte für ein alternatives Sicherheitskonzept: Bürgerrechte erhalten – Kriminalität verhüten – Öffentliche Sicherheit stärken!“, Bonn 23.7.97
Etwas unglücklich im Sommerloch plaziert, enthalten diese Vorschläge viel von dem, was man sich dringlich in der Politik Innerer Sicherheit verändert wünschte. Trotz der mitunter anklingenden realpolitischen Tribute, wird eine Position formuliert, die sich wohltuend von den Panik- und Kriminalisierungsdiskursen abhebt. Die 10 Punkte reichen von der Entdramatisierung der Kriminalitätsgefahren (Organisierte Kriminalität, Ausländerkriminalität) und Legalisierungsforderungen (Drogen; Prostitution als Beruf) über „eine bürgernahe und demokratische Polizei“ (Kennzeichnung der PolizistInnen, „Abrüstung des polizeilichen Ermittlungsinstrumentariums“, „ortsnahe Aufklärung und Präventionsstrategie“, Ablehung von Europol), den Vorrang der Prävention und der Bekämpfung von Kriminalitätsursachen bis zu Reformen des Strafvollzugs und zur Modernisierung des strafrechtlichen „Sanktionensystems“. Wenn auch die Brüche in den bekannten (grünen) Konfliktfeldern nicht zu übersehen sind (etwa: „konsequente Strafverfolgung der Täter“ bei Gewalt gegen Frauen und Kinder), so werden durch die begleitenden Forderungen (Schutz und Interessen der Opfer haben Vorrang, Therapie und Bewährungshilfe für die Täter) die grundlegenden kriminalpolitischen Überzeugungen zumindest nicht Lügen gestraft.
(sämtlich: Norbert Pütter)