Literatur

Literatur zum Schwerpunkt

Im folgenden sollen nur einige Hinweise auf die inzwischen reichhaltige, aber leider vielfach inhaltlich sehr dünne Literatur zum Thema der europäischen Inneren Sicherheit gegeben werden. Als wenig brauchbar erweisen sich u.a. Sammelbände mit Reden einschlägiger offiziöser Konferenzen. Ein Beispiel hierfür ist folgender Band:

Theobald, Volkmar (Hg.): Von der Europäischen Union zur „Europäischen Sicherheitsunion“. Die Gemeinsame Politik der Inneren Sicherheit in der EU (Schriftenreihe zur Neuen Sicherheitspolitik, Bd. 15), Berlin 1997 (Verlag Arno Spitz), 206 S., DM 39,80
BMI-Staatssekretär Kurt Schelter wiederholt hier zum x-tenmal seine Phrasen über die EU-Sicherheitspolitik und Schengen. Wie in den üblichen ministeriellen Presseerklärungen steht auch hier zu lesen, daß es keine Freizügigkeit an den Binnengrenzen ohne Ausgleichsmaßnahmen geben dürfe. H. Ziegenaus bringt den bayerischen, J. Storbeck den Europol-Textautomaten. Der Automat von Herrn Birzele hat inzwischen den ministeriellen Geist aufgegeben und der von Herrn Schmidt-Jortzig druckt vor allem Phrasen. Halbwegs interessant zu lesen sind allenfalls die Aufsätze/Reden des schleswig-holsteinischen Datenschutzbeauftragten Helmut Bäumler und des Kriminologen Hanns-Heiner Kühne. Zwölf Jahre nach dem ersten Schengener Abkommen und vier Jahre nach Maastricht darf man einfach mehr erwarten als Luftblasen.
Schriftenreihe der PFA, 1997, H. 1: „Europa der durchlässigen Grenzen“

Dieser Titel zierte schon diverse Publikationen der Polizeipresse und zumindest einige der Aufsätze scheinen Zweit-Aufgüsse alter Artikel zu sein. In diese Kategorie gehören u.a. die Beiträge des ständigen Ideologieproduzenten R. Pitschas und des Europol-Chefs Storbeck, der sich leider zum Wanderprediger seines Amtes degradiert. Interessant, weil mit einem Minimum an neuen Informationen bestückt, sind allenfalls die Beiträge aus Österreich (H. Leimer, BMI Wien) und Belgien (S. Brammertz, Staatsanwalt).
Kriminalistik 51. Jg., 1997, H. 2
Von Interesse sind hier u.a. die Beiträge von J. Wolters (BKA) und J. Sturm (BMI) über das Verhältnis von Schengen, Interpol und Europol. Mit der neuen Rolle des BGS beschäftigt sich hier M. Hellenthal (Referatsleiter BGS im BMI). Der Autor peppt den alten BGS mit einer neuen Management-Frisur auf. Informationen finden sich hier vor allem auf zwei Seiten Fußnoten, im eigentlichen Text wird das Konzept des „staatlichen Sicherheitsunternehmens Bundesgrenzschutz“ und die „grenzüberschreitende Sicherheitskooperation“ in eher luftigen Worten beschrieben. In gleicher Weise hat sich der Autor in der o.g. Ausgabe der PFA-Schriftenreihe geäußert.
Schmedt, Conrad: BGS erhält neue Organisation, in: Zeitschrift des BGS 24. Jg., 1997, H. 11/ 12, S. 3-26
Wesentlich informationsreicher als die Aufsätze Hellenthals ist diese Darstellung der Reorganisation des BGS (mit Organigrammen, Personaldaten etc.).
Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen im Landtag von Baden-Württemberg: Anlaßunabhängig oder willkürlich? Anlaßunabhängige Polizeikontrollen im Spannungsfeld zwischen Polizeipraxis und Bürgerrechten, Stuttgart 1996, ca. 80 S.
Das Thema Schleierfahndung, das im vorliegenden Heft von Albrecht Maurer als auch von Martin Kutscha aufgenommen wird, war bereits 1996 Gegenstand einer Anhörung, die in dieser Broschüre dokumentiert wurde. Die polizeiliche Position findet sich u.a. in folgenden Artikeln:
Klaiber, Raimund: Neues Polizeirecht in Baden-Württemberg – Verdachts- und ereignisunabhängige Personenkontrollen, in: Die Kriminalpolizei 14. Jg., 1996, Nr. 4, S. 177-183
Moser v. Filseck, Dietrich: Baden-Württemberg novellierte das Polizeirecht, in: Die Polizei 88. Jg., 1997, H. 3, S. 70-74
Spörl, Karl-Heinz: Zur Einführung einer verdachts- und ereignisunabhängigen Personenkontrolle in Bayern, in: Die Polizei 88. Jg., 1997, H. 8, S. 217-219 Abschließend sei auf drei Publikationen hingewiesen, die KritikerInnen des polizeilichen Europas nicht missen sollten:
Initiative gegen das Schengener Abkommen (Hg.): Tatort Europa. Asyl und innere Sicherheit in der EU, Bonn 1997
Es handelt sich um eine Zusammenstellung von Artikeln über alle wesentlichen Aspekte des polizeilichen Europas (Europol, Schengen, Schleierfahndung, Schengen-Beitritte, Polizeikooperation mit den MOE-Staaten, etc.).
Bunyan, Tony (ed.): Researching the European State – a critical guide, London 1996 (Statewatch), 66. S, £ 7
Eine umfangreiche anotierte Literaturliste über die 3. Säule, Schengen, Polizeikooperation, Gefängnisse u.a.; mit Autoren- und Sachregister.
ders. (ed.): Key texts on justice and home affairs in the European Union, vol. 1, From TREVI to Maastricht (1976-1993), London 1997 (Statewatch), 143 S., £16
Dies ist der erste Band von wichtigen und z.T. bisher unveröffentlichten Texten aus der EU-Kooperation in Sachen Innere Sicherheit. Der 2. Band soll demnächst erscheinen. Sowohl der Research-Guide als auch die Key Texts sind erhältlich bei Statewatch, PO-Box 1516, London N 16 OEW.
(sämtlich: Heiner Busch)

Sonstige Neuerscheinungen

Hirsch, Alexander: Die Kontrolle der Nachrichtendienste (Schriften zum Öffentl. Recht, Bd. 711), Berlin 1996 (Duncker & Humblot), 339 S., DM 86,-
Die Münchener juristische Dissertation verspricht im Untertitel eine „vergleichende Bestandsaufnahme, Praxis und Reform“. Der Autor beabsichtigt die „umfassende Untersuchung über die Wirksamkeit“ der „Kontrollmechanismen“ der Dienste (S. 15); seine Arbeit soll eine „Hilfestellung in der kritischen Auseinandersetzung mit diesem Thema“ bieten (S. 17). Der darstellend-analytische erste Teil enthält eine rechtliche Würdigung der Kontrollvorschriften und -einrichtungen, Ausführungen über die „Praxis der bestehenden Kontrolle“ auf Bundesebene sowie einen vergleichenden „Überblick über weitere Kontrollsysteme“ (in den Bundesländern und in neun ausländischen Staaten). Im zweiten Teil entwickelt der Autor die eigenen „Reformvorschläge“. Der besondere Reiz des Bandes besteht darin, daß er die Grenzen einer bloß juristischen und formalen Darstellung des Kontrollarrangements verlassen will. Vielmehr sollen konkrete Verbesserungsvorschläge entwickelt werden, die sich aus den offenkundigen Mängeln der Praxis und dem verfassungsrechtlich Möglichen und Gebotenen ergeben. Gemessen an diesem Anspruch enttäuscht die Untersuchung. Dabei fällt noch am wenigsten ins Gewicht, daß die Ausführungen über die Praxis der Kontrollen mit 20 Seiten ausgesprochen knapp ausgefallen sind und der Quellenschutz des Autors so weit geht, daß er selbst die Anzahl seiner Gesprächspartner verschweigt. Entscheidend für Argumentation und Reichweite bleiben vielmehr die vielen apodiktischen Aussagen, durch die der Gegenstand der Untersuchung beschnitten wird. Auf S. 18 wird betont, es sei „gerade im Bereich der geheimen Nachrichtendienste wichtig, sich einer politischen Wertung zu enthalten“, Bekenntnisse zur Notwendigkeit von Auslands- und Inlandsgeheimdiensten folgen. Zur Diskussion um Verkleinerung der oder neue Aufgaben für die Dienste wird eine Stellungnahme abgelehnt. Statt dessen wird im Hinblick auf die Kontrollproblematik erklärt: „Die Geheimhaltung der Aktivitäten der Dienste ist eine faktische Notwendigkeit“ (S. 63). Die „Dienste“ werden so in ihren bestehenden Aufgaben, Tätigkeiten und Methoden aus der Untersuchung ausgeschlossen; „Kontrolle“ wird zu einem Problem der Kontrollmechanismen, nicht zu einem geheimdienstlicher Praxis. Demgegenüber spricht vieles dafür, daß die eigentliche Kontrolle darin liegt, die Tätigkeitsbereiche, die Handlungsfreiheiten und die politische Instrumentalisierbarkeit der Dienste zu verkleinern. Angesichts des in Einzelheiten nicht unkritischen, aber insgesamt milden Blickes auf die deutschen Geheimdienste bleiben die im letzten Teil unterbreiteten Reformvorstellungen bescheiden: Veröffentlichung des Gesamtbudgets der Dienste (S. 312), ein nicht näher bestimmtes „umfassendes Informationsrecht“ der Parlamentarischen Kontrollkommission (S. 282), die Information der Fraktionsvorsitzenden über (S. 284) oder die Teilnahme des Datenschutzbeauftragten an deren Beratungen (S. 300). All dies, so Hirsch, kann aber nur gedeihen, wenn ein gegenseitiges Vertrauen zwischen Kontrollierten und Kontrolleuren herrscht (S. 308). Das Plädoyer, solche Parlamentarier von der Kontrolle auszuschließen, „die nicht den traditionellen Parteien angehören“ (S. 293), überrascht deshalb nicht. Symptomatisch für die Orientierung der Arbeit steht an ihrem Ende nicht der Aufruf zu mehr Kontrolle oder Wachsamkeit Geheimdiensten gegenüber, sondern die Empfehlung, die „Öffentlichkeitsarbeit“ zu intensivieren, um „zu einer besseren Akzeptanz der Dienste in der Bevölkerung“ zu kommen (S. 323).

Henze, Saskia/ Knigge, Johann: Stets zu Diensten. Der BND zwischen faschistischen Wurzeln und neuer Weltordnung, Hamburg, Münster 1997 (rat/Unrast-Verlag), 146 S., DM 19,80
Fußend auf ihrer politikwissenschaftlichen Diplomarbeit von 1996 geben Henze/Knigge einen Gesamtüberblick über den Bundesnachrichtendienst. Nach den einleitenden Kapiteln, die sich mit Quellenlage und Begriffsbestimmungen beschäftigen, werden in vier größeren Abschnitten Geschichte, Arbeitsweise, akuelle Wandlungen und die (außen)politische Bedeutung des Dienstes dargestellt. Gemessen an seinen eigenen Ansprüchen, vorhandenes Wissen über den BND zusammenzutragen und ihn in strukturierter Form nachvollziehbar aus einer kritischen Perspektive zu beschreiben, ist der Band durchaus gelungen. Das Fachpublikum wird keine Neuigkeiten entdecken; wer aber einen Überblick über Deutschlands Auslandsgeheimdienst sucht, der/die ist mit dem Band gut beraten.
Dreher, Gunther/ Feltes, Thomas (Hg.): Das Modell New York: Kriminalprävention durch ‘Zero Tolerance’? (Empirische Polizeiforschung, Bd. 12), Holzkirchen/Obb. 1997 (Felix Verlag), 203 S., DM 45,-
Spätestens seit dem Sommer des letzten Jahres reden alle von New York, „zero tolerance“ und „broken windows“. Der vorliegende Band dokumentiert den gegenwärtigen Stand der Debatte in der Bundesrepublik. Gegliedert in drei Teile (Hintergründe und Fakten über New York, Kritik sowie „das deutsche Modell New York“) werden einerseits die wichtigsten Texte abgedruckt: Wilson und Kellings Aufsatz von 1982, die einführenden Bemerkungen Fritz Sacks anläßlich der Veröffentlichung im Kriminologischen Journal sowie Henner Hess´ Beschreibung der New Yorker Polizeistrategien. Andererseits werden Beiträge versammelt, die das vermeintliche Wunder von New York und seine möglichen Folgen für Deutschland aus kriminologischer, publizistischer und polizeilicher Sicht diskutieren. Zwar dominiert eine skeptisch-kritische Sichtweise, die Schlußfolgerungen variieren jedoch erheblich. Neben deutlicher Ablehnung (Legge, Korell/Liebel) einer „Kriminalpolitik in Wild-West-Manier“ (Feltes, S. 130f.) stehen Versuche, „New York“ für eigene Anliegen zu funktionalisieren. Etwa am Ende von Feltes´ Einführungsbeitrag, der zwar einige „Fakten“ ins rechte Licht setzt, aber von der Debatte doch Anregungen für neue Polizeistrategien in Deutschland erwartet (S. 15). Noch deutlicher wird die Indienstnahme im letzten Teil des Bandes, wenn Polizeiführer aus Berlin und Stuttgart ihre „Lehren“ aus New York verkünden: Ein Konglomerat aus Alltagsweisheiten (Den Anfängen wehren!), sozialwissenschaftlich angehauchten Erklärungsmodellen (Ausgrenzung und zerstörte Familien), Rationalisierungen bei Polizei („Berliner Modell“), Justiz und Sozialverwaltungen („Haus des Jugendrechts“), Bekenntnissen zu Sauberkeit und Ordnung und symbolischer Politik mittels „Gelber Engel“ im Ordnungsdienst (S. 166f.). Keiner will (offen) New Yorker Polizeiverhältnisse, aber alles läßt sich mit New York begründen. Wegen dieses Zusammenhangs scheint es in der Tat interessanter, der von Feltes aufgeworfenen Frage nachzugehen, warum gerade ein ausgesprochen repressiver polizeipolitischer Ansatz eine derartige Resonanz in Deutschland finden konnte (S. 129). Vor allem in R. Behrs lesenswertem Beitrag über „zweifelhafte Vorbilder“ wird der Versuch einer Antwort unternommen: Die New York-Debatte sei ein Element gegenwärtiger „Angstpolitik“, das „Autoritarismuskonzepte salonfähig“ mache und denjenigen, „die es schon lange wieder gern ein bißchen härter hätten“, sehr gelegen komme (S. 151).
Nitschke, Peter (Hg.): Die deutsche Polizei und ihre Geschichte. Beiträge zu einem distanzierten Verhältnis (Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Polizeigeschichte e.V., Bd. 2), Hilden 1996 (Verlag Deutsche Polizeiliteratur), 301 S., 39,80 DM
Der Sammelband vereinigt 13 Beiträge zur Geschichte der Polizei in Deutschland. Das Spektrum der Themen reicht von einem einleitenden Überblick zum polizeihistorischen Forschungsstand (Reinke) bis zum Prozeß der „Polizierung“ und „Sozialdisziplinierung“ in der Frühen Neuzeit (Nitschke), von der Polizei im Kaiserreich (Jessen) über die Konflikte zwischen Reichswehr und preußischer Polizei in den ersten Jahren der Weimarer Republik (Leßmann-Faust) bis zur Geschichte des Bundesgrenzschutzes (Semerak), vom „Werden der deutschen Kriminalpolizei“ (Teufel) über die Rolle von Polizeieinheiten im Dritten Reich (Kopitzsch; Primavesi) bis zur „Kasernierten Volkspolizei“ in den Anfangsjahren der DDR (Arlt; Dietrich). Die Beiträge sind nicht nur thematisch heterogen. Auch die AutorInnen unterscheiden sich in der Art ihrer Beschäftigung mit Polizeigeschichte: Universitär arbeitende HistorikerInnen stehen neben solchen, die im Auftrag der Apparate deren Geschichtsarbeit betreiben, und solchen, die selbst im Polizeidienst stehen oder standen.
Die Güte der einzelnen Beiträge schwankt erheblich. Bei einigen handelt es um schlicht-affirmative Hofberichterstattung (Teufel, Semerak). Andere präsentieren zwar interessantes Material (Wego in der Zusammenfassung ihrer Arbeit über die Geschichte des nordrhein-westfälischen LKA, Zaika über polizeiliche Einsatzlehre), wegen des fehlenden analytischen Abstands der AutorInnen bleibt der Ertrag für die LeserInnen aber beschränkt. Wieder anderen Aufsätzen sieht man an, daß sie Bruchstücke größerer Texte sind.
Der Band schöpft jedoch die befruchtenden Potentiale nicht aus, die in der Vielfalt der Gegenstände, Positionen und forschungspraktischen Zugänge liegen könnten. Statt dessen handelt es sich um eine Ansammlung von Einzelarbeiten, die ohne jeden Bezug zueinander bleiben. Der Versuch, das „distanzierte Verhältnis“ genauer zu bestimmen, wird an keiner Stelle unternommen. Dabei treten zentrale polizeigeschichtiche Fragestellungen in vielen Beiträgen deutlich zutage: Wie entwickelte sich das Verhältnis von militärischer und polizeilicher Ordnungswahrung? Welche Beziehungen bestanden zwischen politischer Herrschaft und polizeilichem Handeln? Wie „paßten“ die Vorstellungen der PolizistInnen zu den Aufgaben, die der Institution Polizei zugewiesen waren? Wie und mit welchen Folgen (auch für die Polizei) wurden „Probleme“ überführt? Nicht diese Fragen zu beantworten, aber sie zu stellen und als strukturierendes Prinzip nutzbar zu machen, das hätte aus diesem Sammelband mehr machen können als 13 Beiträge zwischen zwei Buchdeckeln.
(sämtlich: Norbert Pütter)
Hans Lisken: Rechtsstaat – was sonst? Ausgewählte Schrift, Baden-Baden 1997 (Nomos-Verlag), 253 S., DM 69,-
Mit diesem Buch danken die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Düsseldorfer Polizeipräsidiums Hans Lisken, der von 1981-1996 ihr Präsident gewesen ist. Ein ungewöhnlicher Dank an einen ungewöhnlichen Polizeipräsidenten, einen der evangelisch-protestantisch motiviert nicht nur beidbeinig auf dem Boden der fdGO steht, sondern der das Grundgesetz und die Grundrechte an die erste Stelle staatlich-polizeilichen Handelns rückt. So sind seine Gelegenheitsschriften, die mit dem titelgebenden Rundfunkvortrag nach dem Buback-Attentat im April 1977 anheben, ausgerichtet: für einen Rechtsstaat, der durchgehend grundrechtlich bezogen ist; konsequenterweise für den sparsam skrupulösen Einsatz der harten Waffe des Strafrechts und gegen die Fehlmeinung Straferhöhungen lösten soziale Probleme; gegen alle Ausdehnungen der Polizei in den „gesellschaftssanitären Bereich“ und für eine strikte Beachtung auch der innerexekutiven Gewaltenteilung. Beispielsweise zwischen Polizei und Verfassungsschutz. Allerdings sind all diese sympathischen Äußerungen in mehrfacher Weise beschränkt: sie lassen nichts über die praktischen Erfahrungen des Polizeipräsidenten und seine Probleme erfahren; sie nehmen die gegebenen Institutionen, beispielsweise den Verfassungsschutz hin, ohne dieselben grundsätzlich in Frage zu stellen. Im Rahmen des gegebenen Gefüges drückt sich Lisken jedoch klar und eindeutig aus. Ob es sich um die seinerzeitige berufsverböterische Kreation des „Verfassungsfeindes“ handelt, die Einschränkung der Gewissensfreiheit von Kriegsdienstverweigerern oder Vorfeldeingriffe durch die Polizei – überall votiert Hans Lisken im Zweifelsfall für ein bürgerrechtliches Mehr.
Thomas Balistier: Straßenprotest. Formen oppositioneller Politik in der Bundesrepublik Deutschland, Münster 1996 (Westfälisches Dampfboot, 357 S., DM 48,-
„Die zentrale Forschungsabsicht“, so schreibt Balistier einleitend, „besteht darin, die symbolischen Formen des Straßenprotests, ihre Grammatik sowie ihre Konjugationen und Deklinationen zu untersuchen. Wie stellen sich die symbolischen Formen in den unterschiedlichen Medien dar, wie werden sie von Akteuren der verschiedenen sozialen Bewegungen benutzt und variiert, wie sehen ihre Zielprojektionen aus, und zu welchen Aktionsformen führen sie schließlich?“
Absichtsgemäß bietet Balistier so etwas wie einen phänomenologischen Überblick über das nicht zuletzt friedensbewegt nachrüstungsoppositionell geprägte Protestgeschehen von 1979 bis 1989. Seine insgesamt informationsreiche Studie, die nahezu exklusiv aus schriftlichem Material erarbeitet worden ist, leidet allerdings nicht nur an zu modegetönten Hoffnungen (der angeblich im Protestgeschehen erkenntliche weitere „zivilgesellschaftliche“ Fortschritt; die Überschätzung des Bundesverfassungsgerichtsurteils zum § 240 StGB vom Frühjahr 1995). Balistier mengt die diversen Demonstrationen vor allem zu stark ineinander. Und vor allem: Die Arbeit bleibt weithin analysefrei.
Jünschke, Klaus/ Tekin, Ugur (Hg.): Kölner Stadtbuch Jugendkriminalität. Gegen die Kriminalisierung von Jugendlichen, Köln 1997 (Edition der Andere Buchladen), 425 S., DM 24,80
Dem Untertitel entsprechend lautet die Hauptthese dieses Buches: „Die wirkliche Gefahr geht vom repressiven staatlichen Umgang mit Jugendlichen aus“ (S. 6), nicht von den angeblich gewaltbesoffenen Jugendlichen selbst. Das auch wissenschaftlich geschwätz- und geldreich abgehandelte Thema „Jugend und Gewalt“ als Gewalt, die unter den Jugendlichen, ja in ihnen ‘wese’, wird von den in diesem Stadtbuch präsentierten Informationen und analytischen Hinweisen zurecht als Abschiebethema qualifiziert. Die etablierte Politik und die ihr korrespondierenden etablierten gesellschaftlichen Kreise schieben das von ihnen jedenfalls mitverursachte Problem ab, indem sie darauf ausgehen, die Jugendlichen, und typischerweise vor allem formell ausländische Jugendliche, die übermäßig vertreten sind, zu kriminalisieren. Hierbei ist dieses Kölner Stadtbuch, das für alle bundesdeutschen Städte von Interesse ist, nicht primär darauf angelegt, zu analysieren, sondern durch wohl aufbereitete Informationen zu helfen. Vom Recht der Kinder und Jugendlichen reicht die informative Palette über die kompetente Skizze des Jugendschutzes, die Kennzeichnung der JVA zu Köln einschließlich ihres Grundrisses bis hin zu Möglichkeiten der Entkriminalisierung und eines nicht repressiven Opfer-Täterschutzes. Das Buch überzeugt durch seinen auf Hilfe orientierten Ansatz. Es gefällt durch die differenzierte Art, Probleme wahrzunehmen. Und es informiert bestens durch die Fülle seiner verläßlichen Angaben bis hin zu Adressen kompetenter Anwältinnen und Anwälte. Gewiß: viele Spezifika sind „kölsch“; indes diese gut montierte Kölner Informationsbrille kann überall in der Bundesrepublik aufgesetzt werden, um entsprechende Hilfseinrichtungen zu finden oder, so sie fehlen, zu gründen.
Schenk, Dieter: Der Chef. Horst Herold und das BKA, Hamburg 1998 (Hoffmann und Campe in Zusammenarbeit mit dem Spiegel Buchverlag), 544 S., DM 48,-
Machen Männer Geschichte? Apparate machen sie (die Männer, zuweilen die Frauen, und die Geschichte). Und diese Apparate männergemacht, machen die Männer. Aus „Chefs“ (und Bundeskanzlern aller Art) werden banale Rollenspieler. Im Guten. Im Bösen. Meist im Zwischenbereich sonnenfleckigen Graus. Dieter Schenk, selbst jahrzehntelang Kriminalbeamter in diversen, zuletzt hochrangigen Positionen, also ein Kenner und ein schreibender Könner hat eine Art Horst-Herold-Werkbiographie vorgelegt. Eine Werk- oder genauer Handlungsbiographie „nur“ insofern, als er zwar einen Teil der Biographie Herolds vor allem in den einleitenden Abschnitten seines Buches berücksichtigt und quer durch das Buch immer wieder die „Nuß“ der Persönlichkeit Herolds zu „knacken“ sucht, jedoch vornehm, Herolds Wünsche zurecht achtend, keinerlei Informationen präsentiert, die Herolds Privatsphäre unmittelbar beträfen. Insofern ist dieses Buch ein Ausdruck des „informatio-nellen Selbstbestimmungsrechts“ im besten Sinne.
Horst Herold „der Chef“? Ja, gewiß, insofern Herold das BKA im Zeichen der Computerisierung und des antiterroristischen Kampfes Hand in Hand zu einer riesigen Behörde im Verlaufe der 70er Jahre umgestaltet hat. Und diese Spuren prägen dasselbe bis heute. Ja, insofern Herold, ganz unbeschadet von seinem Umgang mit Mitarbeitern, dem Dieter Schenk ein eigenes Augenmerk widmet, eine der wichtigsten ´Figuren´, wenn nicht die zentrale Gestalt rund um den Deutschen Herbst in der fahndungsaufwendigen und zugleich weithin fahndungsvergeblichen fast totalen „Mobilmachung“ des „Systems Innerer Sicherheit“ gewesen ist. Diesem doppelten „ja“ steht ein „nein“ gegenüber, sollte die Chefbezeichnung assoziieren lassen, als ob Herold zusammen mit dem technisch auf- und ausgebauten Apparat „Herr“ der Dinge gewesen sei. Gerade Dieter Schenks auf eine Fülle von Interviews und Heroldsche Informationen gestützte Arbeit belegt dies. Herold, der „Datenverarbeitung, wissenschaftliche Kriminaltechnik und Terrorismusbekämpfung“ miteinander „vernetzt“ hat, war nicht nur dem angeblich allein „kybernetischen Prinzipien gehorchenden System“ dem Anscheine nach selbstläufiger und sich selbst optimierender „Informationsprozesse“ „gegenüber gutgläubig“ (S.78f. und passim) Herold wurde zugleich dreifaches Opfer seines aseptischen Sicherheitswahns, den eine datenverarbeitungsgestützte, also mit einem „Erkenntnisprivileg“ ausgerichtete, „gesellschaftssanitär“ orientierte Polizei in die allgemeine kriminalistische Präventionstat umsetzen sollte. Opfer, als er in hybrider Selbst- und Techniküberschätzung „alles im Griff“ zu haben oder in denselben bekommen zu können wähnte. Opfer, als er sich deswegen in eine geradezu totalitäre antiterroristische Sicht verbiß. Darum mangelte es ihm vor allem an der dritten Weberschen Eigenschaft eines guten Politikers. Nicht an der Leidenschaft zur Sache sozial motivierter Verbrechensbekämpfung als Verbrechensvorbeugung. Nicht am Verantwortungsbewußtsein gegenüber Land und Leuten (weniger gegenüber Demokratie und Menschenrechten). Wohl aber litt Herold am Ende geradezu grotesk, die Politische Klasse der Bundesrepublik repräsentierend, an einem Mangel an Augenmaß. Und der war (bzw. ist) entscheidend. Opfer wurde Herold zum dritten nach dem Ende und in der Art des Endes seiner Laufbahn. Abgeschoben hinter eine BGS-Kaserne zu Rosenheim wurde ihm nicht einmal erlaubt, sich und seine Sicht zureichend und umfangreich zu rechtfertigen. Sein Amtsnachfolger Boge stellte sich quer. Also waren mehr oder minder verordnete Sprachlosigkeit und Informationsarmut die Folge vom Format her kleinerer Nachfolger, indes auch eigener, von Wahnelementen gesprengelter Hybris.
Dieter Schenks insgesamt fast zu ausgewogene Arbeit liest sich alles in allem gut und partienweise ausgesprochen spannend. Kenner der Zeit und der Heroldschen Aktivitäten im BKA erfahren wenig Neues – einige Mitteilungen sind allerdings von eigenem Interesse, so Herolds Wirken im Umkreis der IMK, insbesondere im AK II oder im Rahmen der Schleyer-Entführung. Sie und Nichtkenner werden jedoch zuverlässig und im zurückhaltenden Urteil differenziert informiert. Dieter Schenks Heroldsche Handlungsbiographie kann dort nicht zufriedenstellen, wo er die einzelnen Abschnitte allzu sprunghaft miteinander kollagiert: von Ausführungen über Herolds Fixierung auf den Sachbeweis, seinen subjektlosen Objektivismus, springt Schenk etwa unverbunden zur Skizze von Herolds Verhältnis zu seinem Fahrer. Mißfallen erweckt auch die Art der zuweilen aneinander gereihten aus Interviews oder anderen Quellen gezogenen Aussagen. Vor allem zwei Lücken sind jedoch zu vermerken: zum einen der nahezu vollkommene Mangel an tiefer dringender Analyse; zum anderen der Mangel, den Kontext der 70er Jahre so einzubeziehen, daß vor allem die Leser mit Erinnerungslücken oder mit der kleineren Gnade der späten Geburt versehen sich ein einigermaßen angemessenes, das heißt in den Kontext der Zeit eingebettetes Bild machen könnten.
(sämtlich: Wolf-Dieter Narr)