Literatur

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Dass Sicherheit eine Angelegenheit der BürgerInnen sein könnte, ist eine den deutschen Sicherheitsexekutiven fremde Vorstellung. Zu tief sitzt das Misstrauen der Bürokratie gegen den Souverän. Deshalb galten die BürgerInnen herkömmlicherweise sicherheitspolitisch nur etwas als Informanten oder Denunzianten. Allein für den Notfall, sollte das Vaterland gegen äußere und innere Feinde mit Waffengewalt verteidigt werden müssen, sollte es angelernten FreizeitpolizistInnen erlaubt sein, Sicherheit und Ordnung im Alltag zu gewährleisten. Unter den gewandelten Voraussetzungen haben sich in den 90er Jahren auch die Einstellungen gegenüber den BürgerInnen geändert. Sie wurden als eine zusätzliche Ressource entdeckt, mit der zugleich Haushaltsengpässe gemildert, uniformierte Präsenz verstärkt und kleinräumige soziale Kontrolle intensiviert werden kann. Kennzeichnend bleibt jedoch auch für die jüngere Entwicklung, dass die BürgerInnen nur als Zuträger und verlängerter Arm der Polizeien in Erscheinung treten.

Die neuen bzw. modernisierten Laien- und Quasipolizeien sind in der Literatur bisher kaum gewürdigt worden. Im Folgenden geben wir nur kurze Hinweise auf die wichtigsten Beiträge.

Freizeitpolizisten in Berlin und Baden-Württemberg, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 13 (3/82), S. 41-44
Der Artikel gibt einen kurzen Überblick über die Geschichte der beiden Polizeireserven der alten Bundesrepublik.

Lewitzki, Hartmut: Freiwilliger Polizeidienst – Wege und Möglichkeiten bürgerschaftlichen Engagements, in: Baden-Württemberg, Innenministerium (Hg.): Kommunale Kriminalprävention, Stuttgart 1998, S. 133-138
Der Autor schildert die Entwicklung des baden-württembergischen Freiwilligen Polizeidienstes von der Kalten Kriegs-Reserve bis zu ihrer möglichen Rolle im Rahmen der Kommunalen Kriminalprävention.

Roos, Jürgen: Das bayerische Gesetz über die Erprobung einer Sicherheitswacht, in: Kriminalistik 48. Jg., 1994, H. 4, S. 287-290
Spörl, Karl-Heinz: Zum Einsatz von Bürgern in einer „Sicherheitswacht“, in: Die Polizei 88. Jg., 1997, H. 2, S. 33-36
Aus polizeilicher Sicht werden die rechtlichen Grundlagen der bayerischen Sicherheitswacht und erste Erfahrungen mit ihr vorgestellt.

Behring, Angela; Göschl, Alexandra; Lustig, Sylvia: Zur Praxis einer „Kultur des Hinschauens“, in: Kriminalistik 50. Jg., 1996, H. 1, S. 49-54
Göschl, Alexandra; Milanés, Alexander: Sicherheit durch Wachsamkeit? Eine Ethnografie im Handlungsfeld „Innere Sicherheit“, in: Kriminologisches Journal 29. Jg., 1997, H. 4, S. 275-291
Lustig, Sylvia: Neue Informanten für die bayerische Polizei?, in: Ansprüche – Forum demokratischer Juristinnen und Juristen 1996, Nr. 3, S. 9-11
dieselbe: Kontrollierte Kontrolleure. Über die Erweiterung des ‚intelligence system‘ der bayerischen Polizei, in: Hitzler, Ronald; Peters, Helge (Hg.): Inszenierung: Innere Sicherheit. Daten und Diskurse (Soziologie der Politik, Bd. 1), Opladen 1998, S. 79-92
Die Aufsätze fassen die Ergebnisse eines Forschungsprojektes zusammen, das die Sicherheitswacht in der Erprobungsphase untersuchte. Die Analyse gilt neben den Intentionen des bayerischen Innenministeriums vor allem den Motiven und dem Kontrollverhalten der eingesetzten SicherheitswächterInnen.

Diederichs, Otto: Eine Sicherheitswacht für Sachsen. Politischer Taschenspielertrick nach bayerischem Vorbild, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 58 (3/97), S. 59-64
In dem Beitrag werden vor dem Hintergrund bayerischer Erfahrungen die Bestimmungen des Sächsischen Sicherheitswacht-Gesetzes kritisch kommentiert.

Newiger, Griet: Modellversuch „Sicherheitspartner“ in Brandenburg, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 51 (2/95), S. 50-56
Auf dem Weg zu „Hilfssheriffs im Bürgerdesign“ werden die brandenburgischen Bürger-Streifen vorgestellt. Der Artikel beleuchtet die Motive der Innenverwaltung, die Umsetzung des Projekts sowie Erfolge und Kontrollpraxen aus der Anfangsphase der Sicherheitspartner.

Brandenburg, Ministerium des Innern (Hg.): Kommunale Kriminalitätsverhütung. Eine Materialsammlung (KKV sicher leben), Potsdam 1998
Korfes, Gunhild; Sessar, Klaus: Sicherheitspartnerschaften in Brandenburg, in: Ortner, Helmut; Pilgram, Arno; Steinert, Heinz (Hg.): Die Null-Lösung. New Yorker „Zero-Tolerance“-Politik – das Ende der urbanen Toleranz?, Baden-Baden 1998, S. 211-228
Die Broschüre des Innenministeriums stellt das brandenburgische Konzept der „Kommunalen Kriminalitätsverhütung“ vor, als dessen Teil die Sicherheitspartner fungieren. Im Zentrum der Veröffentlichung steht die lesenswerte Studie von Korfes/Sessar, die vier Gemeinden mit Sicherheitspartnern im Berliner Umland untersuchten. Deren wichtigste Ergebnisse sind in dem Beitrag des Sammelbandes zur „Null-Lösung“ zusammengefasst.

Roll, Winfried: Aktuelle Maßnahmen des Selbstschutzes von Opfern, in: Bundeskriminalamt (Hg.): Das Opfer und die Kriminalitätsbekämpfung (BKA-Forschungsreihe, Bd. 36), Wiesbaden 1996, S. 119-147
Der Präventionsexperte der Berliner Polizei gibt einen umfassenden Überblick über verschiedene Formen, in denen BürgerInnen zu mehr Sicherheit(sgefühl) beitragen wollen. Die Palette reicht von den „Wachsamen Nachbarn“ über die „Kiez-Engel“ bis zu „staatlich organisierten Bürgerpatrouillen“.

Schneppen, Anne: Die neue Angst der Deutschen. Plädoyer für die Wiederentdeckung der Nachbarschaft, Frankfurt am Main 1994
Die Beschreibung von Nachbarschaftsinitiativen fußt auf populistischer Angstmache und einem äußerst unkritischen Gemeinschaftsideal.

Groenemeyer, Axel: Soziale Desorganisation in der Stadt als soziologisches Fundament für Prävention und „gemeindenahe Polizeiarbeit“?, in: Polizei-Führungsakademie (Hg.): Planung der Kriminalitätskontrolle im Rahmen gemeinwesen- und bürgernaher Polizeiarbeit (PFA-Schlußbericht Nr. 3/1999), Münster 1999, S. 13-38
Der Soziologe warnt vor dem Ausschlusscharakter nachbarlicher Gemeinschaft und plädiert für eine Kriminalpolitik, die sich an selbstbestimmter Individualität in heterogenen Stadtteilen orientiert.

Neuerscheinungen

Behr, Rafael: Cop Culture – Der Alltag des Gewaltmonopols. Männlichkeit, Handlungsmuster und Kultur in der Polizei, Opladen 2000 (Leske + Budrich), 259 S., DM 44,-

Wenn ein Polizist über die Polizei schreibt, ist Vorsicht geboten. Wenn ein ehemaliger Polizist über die Polizei schreibt, kann es interessant und spannend werden. Rafael Behr ist so ein ehemaliger Polizist. Nach 15 Jahren hatte er zwar seinen Dienst quittiert, aber er hat „den Apparat“ nicht wirklich verlassen. Mit der vorliegenden Untersuchung hat er nun eindrücklich demonstriert, dass aus dieser biografisch bedingten Konstellation von Distanz und Nähe alle profitieren können, die am Zustand der Polizei in Deutschland interessiert sind. Dies gilt nicht allein für den eigentlichen Gegenstand, für die Welt hinter den Kulissen „der Polizei“, sondern auch für viele aktuelle Entwicklungen: von den Kontrollprogrammen im Frankfurter Bahnhofsviertel über die Widerstände gegen eine „bürgerorientierte Polizeiarbeit“ bis zu den Konsequenzen der allenthalben geforderten Entlastung der Polizeien von „polizeifremden“ Aufgaben. Selten besteht die Möglichkeit, auf 260 Seiten so viel über die deutsche Polizeiwirklichkeit zu erfahren.

Dass es sich um eine soziologische Dissertation handelt, kann und will das Buch nicht verstecken. Aber die akademischen Usancen treten vollständig zurück hinter dem Gewinn, den LeserInnen aus der analytischen Herangehensweise, aus der Fähigkeit zur methodischen (Selbst-)Reflexion und aus der präzisen Sprache ziehen. Behr ist an der alltäglichen Polizeiarbeit interessiert. Seine plausibel entwickelte These besagt, dass die generalisierten, gesetzlichen oder bürokratischen Vorgaben nicht ausreichen, den Berufsalltag zu strukturieren, sondern diese Rahmungen „nicht-bürokratieförmiger Handlungsmuster“ bedürfen, die der Autor in der „Kultur der handarbeitenden Polizisten“ aufspürt.

Eine Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit (BFE) und ein Frankfurter Polizeirevier sind die Untersuchungsgegenstände der Arbeit. Der Autor führte 1995/96 16 Tiefeninterviews und nahm rund 300 Stunden am Polizeialltag der beiden Dienststellen teil. Behr präsentiert sein Material in sechs Kapiteln. Die ersten drei gelten der Entwicklung der Fragestellung, einem Überblick über den Forschungsstand und dem Thema „Männlichkeit und Bürokratie“. Diese ersten 80 Seiten liefern jedoch weit mehr als das kategoriale Rüstzeug für die nachfolgenden Kapitel. Denn es gelingt dem Autor, begriffliche Klarstellungen und Einsichten der sozialwissenschaftlichen (Polizei-)Forschung im Kontext seiner „Felderfahrungen“ und seines Gegenstandes vorzustellen.

In den nachfolgenden Kapiteln wird die „Cop Culture“ auf drei Ebenen untersucht. Im umfangreichsten Kapitel des Buches werden unter Rückgriff auf die Interviews fünf „Männlichkeiten“ innerhalb der (Schutz-)Polizei diagnostiziert. Größte Aufmerksamkeit genießt die „Krieger-Männlichkeit“, die Behr am Beispiel eines BFE-Beamten entwickelt. Diese „jugendlich-aggressiv-kämpferische Disposition“ sei der hegemoniale Männlichkeitstypus in der Polizei. Zwar sei sie nicht empirisch vorherrschend, aber als „kulturelles Muster“ entfalte sie eine „hegemoniale Wirkung“. Der Schutzmann, die „Schutz-Männlichkeit“ mit dem Selbstbild eines strengen, aber wohlmeinenden Vaters, wird von Behr als „Nischen-Männlichkeit“ klassifiziert. Demgegenüber ist der dritte Typus, die „unauffällige Aufsteiger-Männlichkeit“ weitaus häufiger anzutreffen. Gegenüber den drei Varianten hegemonialer und vorherrschender Männlichkeiten zeigt Behr am Beispiel homosexueller Polizisten und am Beispiel von Polizisten, die Übergriffe ihrer Kollegen melden, die Grenzen zwischen „integrationsfähiger und separierender Differenz“. Nach Ausführungen über den „männlichen Blick auf die Kollegin“ werden im nachfolgenden Kapitel die „Handlungsmuster in der Cop Culture“ entwickelt. Behr zeigt diese „abrufbaren Routinen im Alltagshandeln“ in dreifacher Perspektive: Während sie im Hinblick auf die Institution Polizei an der Legitimität und im Hinblick auf die jeweilige Polizeiorganisation an der Konformität des Handelns orientiert sind, sind auf der individuellen Ebene pragmatische Kriterien und die der individuellen Moral ausschlaggebend. Im abschließenden Kapitel kontrastiert Behr die eigenen Befunde mit den Aussagen des „Leitbildes für die hessische Polizei“ von 1998. Als konkurrierende Modelle werden „Polizistenkultur“ und „Polizeikultur“ gegenübergestellt.

Rafael Behrs Untersuchung gibt einen nachhaltigen Einblick in die Binnenverfassung der Polizei. Sie verbindet mikrosoziologische und psychologische Befunde mit einer institutionellen Analyse. Dass legale Gewaltanwendung das Kriterium des Polizeiberufes ist, bleibt jederzeit präsent. Deshalb kann man aus dieser Studie unendlich viel über die Lebenswelt der Polizisten vor Ort, deren Sozialisation und deren gegenseitige alltägliche Selbststabilisierung lernen.

(sämtlich: Norbert Pütter)

Hannover, Heinrich: Die Republik vor Gericht. Erinnerungen eines unbequemen Anwalts, 2 Bde., Berlin 1998 und 1999 (Aufbau), je 496 S., je DM 49,90

Heinrich Hannovers Erinnerungen geben von 1954 bis 1995 50 kunstfertig rekonstruierte Strafverfahren wieder. In ihnen tritt HH als junger, bald als erfahrener, immer als engagierter Anwalt in Erscheinung. Die zwei Bände haben es in sich. Sie sind mehrere Bücher in einem, über denen als Leitmotiv die Worte stehen könnten, die er 1963 in einem Plädoyer selbst benutzte: „Beunruhigende Kontinuität“ (Bd. I, S. 121).
Buch 1 – Zeitsplitter: Eine Fülle von Schlaglichtern erhellt zentrale Themen des bundesdeutschen Geschichtsdickichts: ideologisch verblendeten Antikommunismus (Gegenstand des ersten Verfahrens 1954 und des letzten 1995), den Nationalsozialismus und seinen schier unendlichen Schatten, Terrorismus/Anti-Terrorismus, Kriegsdienstverweigerung und Demonstrationen als bürgerlich expressive, bundesdeutsch lange ganz ungewohnte Akte. Die graumäusig autoritäre bundesdeutsche Zeit ist nicht nur in den ersten Jahrzehnten geprägt von der beschwiegenen und teilweise restaurierten Vergangenheit; sie reicht bis in unsere Tage, da die „Berliner Republik“ viel zu spät der letzten peinlichen Reste der Zwangsarbeit geradezu zwanghaft sich entledigen will.

A propos Kontinuität. Im 10. Kapitel (I, S. 142ff.) berichtet HH wie die Zeugen Jehovas Anfang der 60er Jahre, bevor sich die Rechtsprechung in ihrem Fall änderte, als Totalverweigerer gerichtlich abgeurteilt worden sind. „Kinder, die im Elternhaus in den staatsfeindlichen Anschauungen der Ernsten Bibelforscher erzogen werden, sind durch diese Art der Erziehung der Gefahr der sittlichen Verwahrlosung ausgesetzt“, hatte das Oberlandesgericht München 1937 befunden (I, S. 147). Das lange nicht einmal bürokratisch „wiedergutgemachte“ Schicksal der Zeugen Jehovas half den von HH verteidigten Angeklagten jedoch nicht.

Oder der Fall des Leutnants Volmerhaus, der mit anderen Offizieren gegen die Notstandsgesetze protestierte. Sie benahmen sich wie „Bürger in Uniform“ und wurden verurteilt. „So blieb es dabei, dass die Bundeswehr von jungen Offizieren gesäubert wurde, deren selbstverantwortliches Denken bei einem Einsatz des Militärs gegen ,innere Feinde` Unbequemlichkeiten verursachen könnte. Zu der Zeit, da ich in Hitlers Armee Soldat spielen musste, gab es den Spruch, das Denken fängt erst beim General an. Das scheint immer noch zu gelten“ (I, S. 273).

Buch 2 – der bundesdeutsche Staat ohne jedes Augenmaß: Die „bleierne Zeit“ liegt im mittleren Grund der Bundesrepublik nach wie vor ungeborgen. Der seinerzeitige Umbau des (politischen) Strafrechts und seine Normalisierung ausweislich am Abbau der Verteidigungsrechte, ausweislich am § 129a StGB gelten unverändert.

Nicht nur dieser Umstand macht HHs diverse Prozessberichte zu einer nicht allein rückwärts gewandt geradezu erregenden Lektüre. Am Verfahren gegen Ulrike Meinhof hat er vier Jahre lang mitgewirkt, bevor er sich der korrespondierenden Zange von wirklichkeitsblindem, den eigenen Motiven entwichenem Terrorismus und nicht minder wirklichkeitsblindem, den „Rechtsstaat“ fratzenhaft verzerrenden Antiterrorismus entzog. HH berichtet von der entwürdigenden Identifizierung von Ulrike Meinhof, der Behandlung und Überwachung der Verteidiger als Komplizen, dem Psychoterror im Toten Trakt, der der RAF so viele junge Proselyten zutrieb, staatsverfolgerisch zuproduzierte. Und schließlich von dem unsäglichen Prozess. Ist es verwunderlich, dass auch Ulrike Meinhof sich nicht lernfähig zeigte und darum verständlicherweise HHs Toleranzgrenzen überschritt? „Am 9. Mai wurde Ulrike Meinhof, am 18. Oktober wurden die anderen Angeklagten tot in ihren Zellen aufgefunden. Selbstmord oder Mord? Die Grenzen verschwimmen“ (I, S. 394).

Buch 3 – Die Polizei hat immer recht: Die Aussagen der Polizeibeamten, die am Tatort zugegen waren, am Gewaltaustausch mit den Angeklagten im strafverfolgerischen Einsatz legitim beteiligt waren, an der kriminalistischen Anamnese einer Tat mitwirken, spielen eine entscheidende Rolle. Darum ist es so skandalös, dass Polizeibeamte, deren „Wahrheit“ sogleich durch andere polizeiliche Aussagen verstärkt wird, in aller Regel die Wahrheitsvermutung in den Gerichtssälen für sich haben. In vielen der von HH begleiteten Verfahren waren ihre Aussagen ausschlaggebend, weil sich das Zwielicht der Aussagenqualität durch die institutionelle Wahrheitsvermutung zum reinen Sonnenlicht wandelt.

So vor allem gegen Angeklagte aus dem RAF-Umfeld. In Bezug auf den Hoppe-Prozess schreibt HH: „Wie es zu diesem und anderen Berichten der beteiligten Polizeibeamten gekommen war, erfuhren wir dann nach intensiver Befragung mehrerer Polizeizeugen. Man hatte die Beamten vor der Anfertigung der Berichte nochmals zum Tatort gefahren und dort eine Tatrekonstruktion durchgeführt, bei der jeder Polizeibeamte mithören und mitansehen konnte, wie seine Kollegen den Ablauf des Geschehens darstellten. Dann hatte jeder einen Entwurf seiner Aussage handschriftlich gefertigt, und aufgrund dieser Entwürfe hatte dann der Einsatzleiter alle Berichte geschrieben“ (I, S. 352f.). Die den Polizeibeamten mutmaßlich abverlangte Kreativität in Sachen Tatsachenerfindung erreichte 1977 im Prozess gegen Karl-Heinz Roth und Roland Otto (II, S. 45ff., bes. S. 77f.) eine fast kabarettistische Höhe, die am Ende für die Angeklagten zum Glück keine unmittelbar negativen Folgen zeitigte.

HH weiß auch über Fälle zu berichten, da das Gericht, hier die couragiert-skrupulöse Richterin Johanna Dierks sich von vornherein nicht auf den Leim polizeilich widersprüchlich zusammengeklebter Aussagen begeben hat – 1979 im Falle des Verfahrens gegen Astrid Proll (II, S. 149ff.). Ein Glücksfall ohne Frage, ermutigend, dass es solche Richterinnen und Richter gibt. Jedoch: alles andere als ein Normalfall.

Buch 4; Buch 5 … Ich führe gerne, und ausführlicher zitierend so fort. Ich hoffe, dass ich genügend Lust erweckt habe, nach diesen beiden Heinrich-Hannover-Bänden zu greifen, einer Fundgrube geradezu für angehende, aber auch für erfahrene Strafanwältinnen und Strafanwälte. Eine Fundgrube aber auch für alle zeitgeschichtlich und gegenwärtig Interessierten, die wissen, dass selbst die beste Verfassung – und das ist das Grundgesetz nicht – in praxi nur so viel taugt, wie die Personen, die sie lebendig halten. Und dazu bedarf es der Konfliktfähigkeit nicht zuletzt im variantenreichen Raum von Politik, Recht und Justiz.

Was für ein Anwalt, der so viele Prozesse so mitgeführt, durchgestanden, protokolliert und nach Jahrzehnten so trefflich ausformuliert hat. Einer, der seinen Beruf versteht, eine Person, die sich kümmert, die differenziert und die, gerade wenn’s hart auf hart kommt, erfrischend und anhaltend lachen kann. Möge dieser HH, wenn das rezensierend zu wünschen gestattet ist, im Herbst einen wunderhübsch blätterbunten Worpsweder 75. Geburtstag feiern. Nur ein Bedauern enthält dieser Wunsch: dass HH als Anwalt nicht mehr zur Verfügung steht. Darum müssen wir ihn lernend lesen.

Mühlhoff, Uwe; Mehrens, Stefanie: Das Kronzeugengesetz im Urteil der Praxis (Interdisziplinäre Beiträge zur kriminologischen Forschung, Bd. 16), Baden-Baden 1999 (Nomos), 122 S., DM 30,-

Um es gleich vorweg zu sagen: Trotz beträchtlichem Aufwand bleibt diese im Auftrag des Bundesinnenministers erstellte Arbeit des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen e.V. von Anfang bis Ende beliebig. Kriterien, gar bürgerrechtlich motivierte, für ein fundiertes Urteil fehlen fast vollständig. Auf ein eigentliches Urteil wird denn auch verzichtet. Statt dessen stückelt die Studie aus ihren drei Quellen – quantitativen Befragungen, qualitativen Interviews und einer Expertenrunde – ein Einerseits-Andererseits zusammen, eine Collage aus großenteils vorhersehbaren Einlassungen von StrafverteidigerInnen (überwiegend regelungskritisch), von Polizei und Staatsanwaltschaft (überwiegend regelungsemphatisch), von Strafrichtern (im Zwischenzwischen sich bewegend) und sachkundigen WissenschaftlerInnen. Weder Gesetzgeber, noch lesende Bürgerin sind am Ende klüger als zuvor.

Nur wider den Strich gelesen gibt diese Studie eine Reihe reichlich bedenklicher Auskünfte über Mentalität und Praxis bei Staatsanwaltschaften und Polizei, deren Repräsentanten sich gleichsam in einer Art unfreiwilliger Ideologiekritik zum § 129a StGB und zur Kronzeugenregelung äußern – z.B. ein Vertreter der Bundesanwaltschaft: „§ 129 a StGB ist eine Norm, mit der wir operieren, die ist für uns entscheidend wichtig, weil daran unsere Zuständigkeit geknüpft ist“ (S. 55). Oder ein Staatsanwalt: „Ich bin da Egoist, weil ich sage, es ist ja nicht nur so, dass Gerechtigkeit geübt werden kann, sondern es wird mir Arbeit erspart …“ (S. 52). Oder ein BKA-Mann: „…Wir konnten die Meinungsbildung innerhalb der terroristischen Vereinigung sehr gut verfolgen, weil die sich ja immer irgendwie schriftlich äußern müssen in Erklärungen, in alternativen Zeitschriften und ähnlichem, und allein die Einführung (der Kronzeugenregelung, WDN) hat ja zu einem Wutschrei geführt und zu Reaktionen, die uns eigentlich mit der Einführung recht gegeben haben“ (S. 69). Die Kronzeugenregelung wie der § 129a StGB taugen nur dazu, das Ermessen der strafverfolgenden „Praktiker“ auszuweiten.

Breucker, Matthias; Engberding, Rainer O.M.: Die Kronzeugenregelung. Erfahrungen, Anwendungsfälle, Entwicklungen, Stuttgart 1999 (Boorberg), 159 S., DM 38,-

Das eigens angekündigte Vorwort von Ex-Generalbundesanwalt Kurt Rebmann formuliert noch einmal das Generalmotiv für die 1989 verabschiedete, bis 1999 terminierte und danach nicht erneuerte Regelung: „Für mich lag und liegt die rechtspolitische Rechtfertigung der Kronzeugenregelung vor allem in ihrem präventiven Effekt, in der möglichen Verhinderung künftiger Straftaten durch permanente Verunsicherung in der terroristischen oder sonstigen kriminellen Szene“ (S. 7).

Die von einem Anwalt und einem BKA-Staatsschützer verfasste Studie geht darauf aus, Rebmanns rechtfertigende Annahmen zu bestätigen. Die präsentierten Anwendungsfälle summieren sich auf die stolze Summe vier – den eines zum Kronzeugen gehäuteten ehemaligen PKK-Mitglieds sowie drei aus dem Umkreis der RAF: die Fälle Werner Lotze, Susanne Albrecht und Souhaila Andrawes. Diese werden in „Sachverhalt, Aussageverhalten, Urteil und Ergebnis“ dargestellt. Die Autoren tun dies jedoch trotz manchem Hin- und Hergewäge unkritisch und geradezu vor-analytisch. Sonst hätten sie weder die Wirkungen der Kronzeugenregelung insgesamt pauschal als positiv im Sinne der Strafverfolgung und der generalpräventiven Effekte werten (Kapitel 3), noch die „praktischen Erfahrungen mit der Kronzeugenregelung“ samt ihrem Fazit (Kapitel 4 und 5) positiv im Sinne der Empfehlung einer verbesserten Fortsetzung der Regelung ausklingen lassen können.

Hätten sie doch nur die vier Fälle sorgsamer gelesen und sorgsam verallgemeinert. Dann wären ihnen die Widersprüche der auf die Taten der RAF rückwärts gewandten Funktion der Kronzeugenaussagen Lotzes, Albrechts u.a. stärker aufgefallen; dann hätten sie einsehen müssen, dass fast alle strafverfolgerischen Erfolge allein dem größten Fahndungserfolg – der deutschen Vereinigung – geschuldet sind. Und an dem behaupten wohl weder die um der Terroristenverfolgung willen aufgeplusterte Bundesanwaltschaft noch das gleichfalls mit kräftigen Anti-Terror-Speckschichten verdickte BKA irgendeinen habhafteren Anteil.

Das Traktätchen ohne grundgesetzliche Präsenz kündet aus all seinen argumentativen Löchern, wie unnötig nicht nur die Kronzeugenregelung gewesen ist (und erneuert wieder sein würde), sondern auch wie wenig Bedarf für die meisten der um sie und den § 129a StGB sich rankenden Institutionen besteht. Erinnert man sich des Fahndungsaufwands der 70er und 80er Jahre, dann ist die Kluft zwischen Aufwand und Ertrag zu groß, selbst wenn man’s mit den Grundrechten nicht zu pingelig nimmt. Was wussten die Bundesanwaltschaft und das BKA trotz ihrer invasiven Ermächtigungsgesetze alles nicht. Manche Kronzeugen haben hier ein wenig Nachhilfe erteilt – allerdings nur retrospektiv und keineswegs präventiv. Indes auch dieser Nachhilfeunterricht zeitigte – nachweislich im Falle von Frau Andrawes – zweifelhafte Erinnerungen, vor allem dann, wenn die Kronzeugen, wie Frau Andrawes (S. 61ff.), von den vernehmenden Beamten geradezu suggestiv behandelt worden sind, um erwünschte Aussagen zu erhalten. Und nun auch noch die Kronzeugenregelung mit dem Erfolg zu krönen, sie habe das Ende der RAF mitbewirkt – da lachten die Hühner, wenn sie denn könnten.

(sämtlich: Wolf-Dieter Narr)