von Heiner Busch
Echelon ist ein globales Abhörsystem, das vom US-Geheimdienst NSA dominiert wird. Von Juli 2000 bis Juli 2001 bemühte sich ein „nicht-ständiger Ausschuss“ des Europäischen Parlaments (EP) um Aufklärung über dieses System und seine Wirkungen. Herausgekommen ist ein zwar durchaus lesenswerter, aber verheerend unpolitischer Bericht.[1]
Kann es ein weltumspannendes Überwachungssystem überhaupt geben? Wer könnte es mit welchen Mitteln betreiben? Welche Art und wessen Kommunikation wäre davon betroffen? Die Fragen, die sich der EP-Ausschuss stellte, bewegten sich nach wie vor im Konjunktiv.
Ein halbes Jahrhundert nach dem Geheimabkommen zwischen den USA, Großbritannien und den „Zweitparteien“ (Kanada, Australien, Neuseeland), das die „SIGINT“-Allianz ihrer Geheimdienste begründete, ein Vierteljahrhundert, seitdem die Überwachung der satellitengestützten Kommunikation durch Echelon automatisiert wurde, trägt die öffentliche Diskussion hierüber immer noch Züge eines mittelalterlichen Gottesbeweises. Es gibt keine zusammenhängenden Regierungsberichte, wie sie die Parlamente normalerweise für ihre Kontrolltätigkeit benutzen; die wenigen öffentlich zugänglichen Informationen über Echelon wurden von spezialisierten Publizisten in jahrelanger mühevoller
Kleinstarbeit zusammengetragen. Regierungsvertreter und hohe GeheimdienstlerInnen leugnen die Existenz des Überwachungssystems nach wie vor, weshalb es keinen Sinn macht, sie zu befragen. Unmittelbar mit der Überwachung befasste Beamte unterliegen einer lebenslangen Schweigepflicht und wissen darüber hinaus meist nur das, was ihr unmittelbares Tätigkeitsfeld betrifft. Solche Leute haben ihr Wissen zwar Journalisten wie Nicky Hager und Duncan Campbell anvertraut; als Zeugen vor einem Parlamentsausschuss oder vor der Öffentlichkeit stehen allenfalls ausgestiegene GeheimdienstlerInnen zur Verfügung. Der Echelon-Ausschuss des EP war damit notwendigerweise auf „Indizien“ angewiesen. Kritische Publizisten haben ihm dafür zwar die Fährten gezeigt, politisch ist der Ausschuss ihnen aber nicht gefolgt.
Satellitenkommunikation und Satellitenüberwachung
SIGINT – „signals intelligence“ – bezeichnete anfänglich die Funküberwachung für militärische Zwecke. Die angloamerikanische Zusammenarbeit in diesem Bereich begann mit dem gemeinsamen Tracking von deutschen U-Booten und der Entschlüsselung des deutschen Flottencodes im Zweiten Weltkrieg. Sie blieb aber auch nach Kriegsende – genauer gesagt: im Kalten Krieg – erhalten und wurde 1947 durch das bereits zitierte, immer noch geheime Abkommen bekräftigt. Getragen wird diese „UKUSA“-Allianz (Vereinigtes Königreich, UK, und USA) von den technischen Geheimdiensten der USA (National Security Agency, NSA) und Großbritanniens (Government Communications Headquarters, GCHQ) sowie ihren Juniorpartnern in den drei Commonwealth-Staaten.
Im Zentrum steht dabei die Überwachung ziviler Telekommunikationssatelliten, die seit Mitte der 60er Jahre die alten Unterseekabel als vorherrschendes Transportmedium der transkontinentalen Telekommunikation ablösten. „Baut man eine Richtfunkstrecke zu einem stationär in großer Höhe stehenden Kommunikationssatelliten auf, der die Richtfunksignale empfängt, umsetzt und wieder zur Erde zurücksendet, so kann man ohne Einsatz von Kabeln große Entfernungen überbrücken. Die Reichweite einer solchen Verbindung ist nur dadurch beschränkt, dass der Satellit nicht um die Erdkugel herum empfangen und senden kann.“[2] Der erste Satellit der International Telecommunications Satellite Organisation (Intelsat) wurde 1965 in seine Umlaufbahn gebracht, deckte aber nur die nördliche Hemisphäre ab. Die zweite und dritte Generation mit Positionen über dem Atlantik, dem Indischen und dem Pazifischen Ozean folgten 1967 und 1968 und erlaubten damit erstmals eine weltumspannende Kommunikation via Satellit. Die vierte Intelsat-Generation folgte ab 1971. Deren Überwachung begann im selben Jahr mit der Inbetriebnahme der Einrichtungen in Morwenstow (GB): Die Parabolantennen dieser Überwachungsstation sind auch heute noch auf die Satelliten über dem Atlantik und dem Indischen Ozean gerichtet; die großen Ohren in Yakima im Nordwesten der USA belauschten seit 1972/73 die Kommunikation über dem Pazifik. Mit der Ausweitung der Satellitenabdeckung erfolgte ab Ende der 70er Jahre auch eine Ausweitung des Netzes der Überwachungsstationen. Zehn Überwachungsstationen sah der EP-Bericht aufgrund der Antennenstellung und -größe eindeutig identifiziert, bei weiteren zehn, darunter Bad Aibling in Bayern, könne „die Funktion nicht eindeutig belegt werden.“[3]
Vom Handbetrieb zum elektronischen Staubsauger
Noch bis in die 70er Jahre, so erklärt Duncan Campbell, habe man bei der NSA die Auswahl der wichtigen Elemente aus der Unmenge der abgefangenen Kommunikation mit Hilfe manueller Beobachtungslisten getroffen. Das Echelon-System, bereits Ende der 60er Jahre geplant und seit Ende der 70er betrieben, markiert den Beginn der Automatisierung. In einer Liste von Datenbanken, die 1979 in der Abhörstation Menwith Hill in Großbritannien benutzt wurden, findet sich u.a. „Echelon 2“. „Zentrale Komponente des Systems sind lokale ‚Dictionary‘-Computer, die eine umfangreiche Datenbank über spezifische Zielobjekte speichern – inklusive Namen, Themen von Interesse, Telefonnummern und andere Selektionskriterien. Eingehende Nachrichten werden mit diesen Kriterien verglichen; bei einem Treffer wird die ‚Roh-Intelligence‘ automatisch weitergeleitet.“[4] Das Netzwerk, das die Aufklärungsstationen über Unterseekabel und militärische Satelliten mit den Verarbeitungszentren verbindet, ist das erste Wide Area Network der Welt gewesen. Erst Mitte der 90er Jahre sei das öffentliche Internet größer als dieses „geheime Internet“ geworden.[5]
Vor dem EP-Ausschuss erklärte der neuseeländische Autor Nicky Hager, wie die Verteilung der Information und damit auch die Hierarchien unter den beteiligten Geheimdiensten funktionieren.[6] „Innerhalb der Allianz hat Neuseeland den Job, den südpazifischen Raum auszuspionieren. Die meisten Suchbegriffe im Echelon-System, die sich auf den Südpazifik beziehen, wurden von Neuseeland eingegeben. Die Nachrichten, die mithilfe dieser Begriffe abgefangen wurden, werden nach Wellington übermittelt, nicht nach Washington, denn es ist eine neuseeländische Liste von Suchwörtern.“ Sie würden von neuseeländischen Analysten ausgewertet, übersetzt und zu Berichten verarbeitet. Diese Berichte, nicht das Rohmaterial, würden weitergegeben an die NSA oder das GCHQ. „Aber in Waihopai wie in den anderen Stationen gibt es nicht nur die heimischen Suchwortlisten, sondern wohl separierte Listen amerikanischer, australischer, kanadischer oder britischer Überwachungsziele.“ Die meisten der von den Waihopai-Computern verwendeten Suchbegriffe stammen von den USA. Was aufgrund einer US-Liste abgefangen wird, „bekommt nie ein Neuseeländer zu Gesicht.“ Die rohen Daten gingen automatisch an die NSA und „die entscheiden, ob sie ihre Erkenntnisse später mit Neuseeland teilen wollen … Da geht nicht alles in eine einzige große Datenbank, in der jeder nachsehen und finden kann, was er will. Die Amerikaner haben dieses System in einer sehr strukturierten und hierarchischen Weise angelegt.“
Ein unpolitischer Bericht
Für den Ausschuss war die zentrale Frage, ob mit Hilfe Echelons auch Wirtschaftsspionage betrieben werde. Entsprechende Vorwürfe waren in zwei im Auftrag der EP-Technikfolgenabschätzungseinheit (STOA) erstellten Berichten – darunter stammt einer aus der Feder von Duncan Campbell – erhoben worden. Dieser Verdacht bildete überhaupt erst den Anlass für die Einsetzung des Ausschusses. Campbell nannte zwei konkrete Beispiele, wo von der NSA abgehörte und weiter gegebene Informationen dazu geführt hatten, europäische Unternehmen zugunsten von US-Unternehmen aus dem Rennen um Aufträge zu verdrängen: 1994 verlor die französische Thomson-CSF einen Auftrag in Brasilien an die Raytheon Corp., 1995 erhielt McDonnell Douglas in Saudi Arabien den Vorzug gegenüber Airbus. In beiden Fällen waren den europäischen Firmen Bestechungsversuche vorgeworfen worden. Diese Vorwürfe passten damit in die Rechtfertigung der US-Behörden, es gehe ihnen nicht um Wirtschaftsspionage, sondern um Korruptionsbekämpfung und um Verhinderung von Embargobrüchen. Campbells Vermutung, über das sog. „Advocacy Center“ der US-Regierung würden von NSA und CIA erhobene Informationen an Wirtschaftsunternehmen weitergegeben, konnte der Ausschuss zwar nicht bestätigen, hielt sie aber, nachdem ihm ein Gespräch verweigert wurde, für wahrscheinlich. Nicky Hagers Argument, dass es im Zeitalter der Privatisierung und der transnationalen Unternehmen vor allem um wirtschafts- und handelspolitische Spionage gehe, etwa um die Überwachung von Delegationen bei GATT-Verhandlungen, hat der Ausschuss nicht mehr aufgegriffen.
Insgesamt bleibt der Bericht unpolitisch. Falls Konkurrenzspionage betrieben würde, verstoße dies gegen das Gemeinschaftsrecht. Insgesamt seien SIGINT-Aktivitäten, sofern sie sich auf den Schutz der nationalen Sicherheit bezögen, aber grundsätzlich von der Europäischen Menschenrechtskonvention gedeckt. Voraussetzung sei jedoch, dass sie – wie etwa die Aktivitäten des deutschen Bundesnachrichtendienstes – rechtlich fixiert und durch parlamentarische Gremien kontrolliert würden. Die politische Fragwürdigkeit der Spionage schlechthin – sei sie nun gegen (befreundete) Regierungen gerichtet oder gegen Nichtregierungsorganisationen (vom Roten Kreuz über Amnesty International bis hin zur Kampagne gegen Landminen) – fiel unter den Tisch. Das Telekommunikationsgeheimnis reduzierte der Ausschuss auf ein paar Datenschutzfloskeln und empfahl zum guten Schluss auch noch eine engere geheimdienstliche Kooperation der EU-Staaten.
Weder Echelon noch die „Staubsauger“ anderer Staaten sind omnipotent. Spracherkennungsprogramme sind trotz großem finanziellen Aufwand gescheitert. Die interkontinentale Telekommunikation wird statt über Satelliten in wachsendem Maße über neue Glasfaser-Unterseekabel transportiert, die schwerer anzuzapfen sind. Das Problem der automatisierten Überwachung ist jedoch nicht erledigt. Die Arbeit an Schnittstellen für die Überwachung digitaler Telekommunikationssysteme läuft auf Hochtouren – und zwar unter Beteiligung der EU. Dass sie dann künftig auch im internationalen Rahmen von „gesetzlich ermächtigten Behörden“ betrieben werden soll, kann kaum beruhigen.