Die Technologisierung der Polizei… und ihre dringliche Politisierung

Seitdem die Polizei im 19. Jahrhundert aus dem Militär ‚ausgefällt‘ wurde, spielte ihre spezifische technische Ausstattung eine zentrale Rolle. Aus den informationellen und handfesten Techniken der Verbrechensbekämpfung, der Unruhe-Pazifizierung und der Strafverfolgung wurden seit Ende der 60er Jahre Technologien, die die Polizei selbst grundsätzlich veränderten.

Der Begriff Technologie beinhaltet bekanntlich mehr als eine bloße Sammlung einzelner technischer Instrumente mit jeweils eigener Gebrauchslogik. Sie verändert die Gebrauchsweise, den Gegenstand, für den sie gebraucht wird, und die Gebrauchenden selbst. Kurzum die gesellschaftlichen Herstellungs- und Umgangsformen wandeln sich insgesamt. Die Informations- und Kommunikationstechnologie hat dies seit den späten 60er Jahren offensichtlich getan. Das gilt für die Polizei in besonderem Maße. Seit der Ankunft von Kommissar Computer, wie es Anfang der 70er Jahre noch hieß, haben sich nicht nur die polizeilichen Instrumente gewandelt. Es änderte sich die Polizei – ihre Aufgaben, ihre Institutionen und ihre politischen Funktionen.

Großbritannien, dessen vertraute Bobby-Symbolik längst verblichen ist, spielte nicht zufällig eine kleine Vorreiterrolle in dem, was Carol Ackroyd u.a. „the New Technology of Repression“ genannt haben. Hier begann mit dem Nordirland-Konflikt der sicherheitspolitisch-polizeiliche „technological fix“, der sich rasch in der BRD und anderen europäischen Staaten ausbreitete.[1] Der Kontext, in dem diese Neue Technologie ausgebrütet wurde und den sie selbst mit produzierte, wurde hauptsächlich durch den Beginn einer neuen Globalisierungsstufe markiert, die sich seitdem durch ein spannungsreiches Quartett von Entgrenzung und neuer Vergrenzung, von ausschließender Konkurrenz und zusätzlichen Interdependenzen auszeichnet. Aktuell problemverschärfend wirkte über den regional begrenzten Nordirland-Konflikt hinaus der Vietnamkrieg und die auch in ihren Formen neuen Proteste, die er in Westeuropa und Nordamerika auslöste. Diese zeichneten sich dadurch aus, dass, wenn nicht „die Massen“, so doch demokratisch gerichtete Gegenkräfte innerhalb und außerhalb der etablierten Institutionen als ernsthafte Akteure auf den Plan traten.

Das Thema „Polizei und Technik/Technologie“ ist also nicht ganz so neu. Alarmismus bringt deshalb wenig. Zu oft schon wurde vor dem „totalen Überwachungsstaat“ gewarnt – eine Klage, die sich verbraucht. Das Thema „Polizei und Technik/Technologie“ ist zugleich ständig neu und brandaktuell. Neue technologische Entwicklungen werden – meist militärisch vorprobiert und initiiert – mit kürzer gewordenen Verzögerungen von den Polizeien rezipiert. Das an sich schon gesellschaftspolitisch hochgeladene Thema der Neuen Technologien und ihrer soziopolitischen und ökonomischen Bedeutung wird im Umkreis ihres polizeilichen Gebrauchs zum geradezu umfassenden Politikum. Hier werden Macht-, Herrschafts-, Kontroll-, Demokratie- und Menschenrechtsfragen mitentschieden.

Von den 70er Jahren zur Gegenwart

Während der 70er Jahre vollzog sich der „technological turn“ der Polizei(en). Materialreich beschrieben Carol Ackroyd u.a. 1977 das technologische Gebrauchs-Kontinuum zwischen Militär und Polizei. Angefangen von Counter Insurgency-Technologien und -maßnahmen – der Massenkontrolle, des Umgangs mit Großdemonstrationen – bis hin zu neuen Formen der Sammlung, Speicherung, Weitergabe von Informationen und ihrer mehr oder minder vermittelten exekutiv-polizeilichen Verwendung. Was jedoch in den 70er Jahren selbst bei der „Mr. Computer“ genannten Person, dem BKA-Chef des anti-terroristischen Kampfes Horst Herold, noch wirkte, als gehe jemand gernegroß in prätentiösen, technologisch gespornten Sicherheitsstiefeln, ist heute längst zum polizeilichen Alltag geworden. PC- und Internettechnik haben nicht nur die Polizei von oben nach unten nahezu restlos durchdrungen. Informations- und Kommunikationstechnologien, die sich seit 30 Jahren immer rasanter, feiner und umfassender entwickeln, haben Umfang und Intensität der Kontrolle quantitativ und qualitativ so verändert, dass eine signifikante Kehre von der Taten und Tätern nachhinkenden Repression zur präventiven Vorfeldkontrolle stattgefunden hat. Ihr wird potentiell jede und jeder ‚unschuldige‘ BürgerIn unterworfen. Fremde an erster Stelle. Präventive Repression, das, was man militärisch den „preemptive strike“ nennt, ist polizeilich längst Normalverhältnis.

Die Liste all der polizeilich zuhandenen Technologien, die Steve Wright von der Omega Foundation 1998 für das Europäische Parlament aufgelistet, beschrieben, knapp kommentiert und – mit eher hilflosen – demokratischen Umgangs- und Kontrollvorschlägen versehen hat,[2] unterscheidet sich beträchtlich von der technologischen Maßnahmen- und Aufgabenliste, die gute 20 Jahre zuvor von Ackroyd und Mitarbeitern apostrophiert worden ist. Schon einleitend spricht Wright von einer „global surveillance machinery“.

Zu dieser zählen Maßnahmen und Instrumente, die aus dem „antiterroristischen Kampf“ à la Nordirland oder BRD der 70er Jahre im Prinzip bekannt sind: massenhafte Erfassung, pauschale Kontrollstellen für Autos und Personen, „nicht tödliche“ Waffen. Im Unterschied zu den 70er Jahren ist aber die Kapazität der Speichermedien erheblich größer. Fingerabdrücke werden heute nicht mehr manuell verglichen, sondern durch Automatische Fingerabdruck-Identifizierungssysteme. Kontrollstellen beruhen auf einem nicht sichtbaren technischen Apparat, der den Vorgang der Kontrolle beschleunigt und effektiviert. Und das ständig um neue Erfindungen erweiterte Repertoire der „Crowd-control“-Waffen stellt jeden Science-Fiction-Roman in den Schatten.

Hierher gehören jedoch auch neue Versionen der Videoüberwachung: Sie ermöglichen es nicht nur, die Bewegungen einer Person quer durch ganze Gebäudekomplexe oder gar Innenstädte am Bildschirm nach zu verfolgen. Sie nutzen die Synergien anderer Neuer Technologien – Mustererkennungs- oder biometrischen Verfahren – und automatisieren die Kontrolle von Fahrzeugen oder Personen.

Und hierher gehört schließlich die technologische Aufrüstung gegen „unerwünschte“ Ausländer, gegen Asyl Suchende zumal, die zu den „Versuchskaninchen“ neuer Sicherheitstechnologien geworden sind und die nicht in die technologisch viel armierte, notfalls mit neuen Lagern umrahmte Festung Europa hinein gelassen werden sollen: von diversen Spähgerätschaften zur Grenz-„Sicherung“ bis hin zu Chipkarten, welche die Kontrolle aller möglichen Lebensäußerungen erlauben.

Rechtliche Wurzeln in der Luft

So wichtig es jedoch ist, all der sicherheitstechnologischen Entwicklung auf der aktuellen Spur zu bleiben, die sich eigendynamisch beschleunigt, so schwer lassen sich zum einen die allgemein politischen und die spezifisch polizeilichen Folgen genau fassen; so schwierig ist es zum anderen, die ökonomisch und politisch treibenden Faktoren einer technologisch ver-rückt wirkenden Entwicklung systematisch plausibel auszumachen. Geht es doch nicht an, statt triftiger Analyse allein auf den „Sicherheitswahn“ zu verweisen, der überall Wühlmäuse und Verbrecher am Werke sieht. Nur eines ist im Zusammenhang von „Polizei und Bürgerrechten“ – nüchtern gesprochen – erschreckend klar: Alle rechtlichen und alle repräsentativ-demokratisch institutionalisierten Kontrollvorkehrungen wirken wie Wurzeln in der Luft – stark ausgestreckt und ausgereckt, indes gänzlich ohne jeden Boden, der Kontrolle erst erlaubte.

Auf den ersten Blick gilt ohne Frage: Der Ausbau des technologischen Sicherheitsstaats und seiner internationalen Einrichtungen stärkt die Exekutive. Wer aber „ist“ die gestärkte Exekutive? Ist es etwa die politische (gewählte und wenigstens formell verantwortliche) Klasse? Gewiss: die technologischen Sicherheitsperfektionen stärken deren Herrschaft. Indes, die „politische Klasse“ vermag die technologisch noch unübersichtlicher, noch hermetischer gewordenen Apparate nicht zu kontrollieren. Ist es das letztlich legislativ gesatzte Recht und die Recht kontrollierend anwendende Justiz? Nein, abgesehen von der primär staatstragenden Rolle der Dritten Gewalt wird das Recht mit unbestimmten Rechtsbegriffen, Gleitklauseln aller Art, insbesondere seit der präventiven, technologisch ermöglichten Kehre so ausgehöhlt, dass fast alles rechtens ist, was polizeilich technologisch gemacht werden kann. Die Legislativen können nur noch staunen, was sie verabschiedet haben. Die Bürger können sich Prozesse ersparen. Das Recht ist geradezu sicherheitstechnologisch aufgehoben (also beseitigt und technikgemäß bewahrt in einem).

Die Herrschaftsdienlichkeit der sich mehrfach überlagernden, vielfingrigen technologischen Sicherheitsnetze lässt sich kaum noch institutionell, noch viel weniger personal zuordnen, so sehr Personen und Institutionen davon profitieren. Diese Netze dienen in einer nur technologisch erreichbaren Weite und Tiefe dem System kapitalistischer Herrschaft jenseits aller liberaldemokratischen Verfassungsgarnierungen.

Dementsprechend versagen auch die immer widersprüchlichen staatlichen Kontroll- und bürgerlichen Schutzvorkehrungen. Die ausgrenzenden Sicherheitstechnologien kennen selbst keine Grenzen. In Zeiten neoliberaler Globalisierung überwuchern die exekutivisch vertäuten Sicherheitstechnologien alle Grenzen. Die europäischen und die europäisch-amerikanischen Zusammenarbeits-, Austauschformen und immer noch Rechtshilfe genannten Abkommen demonstrieren diesen zusätzlichen „staatsbürgerlichen“ Kontrollverlust.

Am meisten fällt auf und irritiert eingestandenermaßen, in welchem Ausmaße die neuen Sicherheitstechnologien geradezu zu Wonnen bürgerlicher Gewöhnlichkeit werden. An der ausufernden Videoüberwachung im Kontinuum zwischen privatem und öffentlichem Sicherheitsinteresse kann man diese Gewöhnung am leichtesten fassen. Dass dem so ist, hängt mit der materiell schwer fassbaren Wirkung der Technologien zusammen; auch damit, dass technologische Vorkehrungen und Praktiken zum bürgerlichen Alltag geworden sind. Eine Art tägliche Reality-Fernsehshow.

Antiquiertheit der Menschenrechte

Angesichts des technisch verändernden, in alle Poren dringenden ‚Überflusses‘ ist Günther Anders‘ technik-kritische Beobachtung der „Antiquiertheit des Menschen“ aktueller denn je. Im Zeichen der Sicherheitstechnologien wirken in jedem Fall die Menschenrechte antiquiert. Das Wort „Unversehrtheit“ erscheint vor dem Hintergrund all dieser technologischen Feingriffe als ein zu grober Begriff von Integrität, an dem sich deren Durchlöcherungen neuer Art nicht mehr messen lassen. Die aus Techniken zu Technologien gewordenen Späh-, Informationssammel- und Eingriffsinstrumente wirken zum einen ungleich sublimer. Zum anderen trennen sie alle soziogenetischen Zusammenhänge und stellen einen anderen Triumph der Vereinzelung dar (im ideologischen Jargon der Gegenwart: der Individualisierung).

Angesichts der an dieser Stelle nur lückenhaft darstellbaren Merkmale der neuen Sicherheitstechnologien wird erfahrbar, wie wenig die Menschenrechte dazu taugen, ihre ebenso sublime wie radikale Verletzung auch nur anzuzeigen, sprich: subjektiv und kollektiv, also politisch erfahrbar zu machen. Das staatliche Gewaltmonopol, seine hauptsächlichen Instanzen und Aktivitäten waren bis in jüngste Zeit vergleichsweise leicht zu fassen. Gewaltzugriffe auf den menschlichen Körper entgegen dem Urrecht auf Integrität, Einbrüche in die Wohnung u.v.a. waren jedenfalls mühelos erkennbar. In diesem Sinne war staatliche (anders auch kapitalistische) Politik früher ungleich „biopolitischer“ als heute, da dieser Begriff zu einem neuen Modeausdruck geworden ist. Mit den neuen Sicherheitstechnologien wird zwar tief in den Körper der Menschen eingegriffen. Diese Feingriffe sublim totaler Körperkontrolle bemerken wir jedoch erst, wenn das Gewaltmonopol in seiner „herkömmlichen Form“ auftritt und den Körper des als möglichen Täter erkannten Individuums höchst traditionell festnimmt. Will man in Sachen Kontrolle der technologischen Kontrolleure nicht von vornherein verzweifeln, kommt es also entscheidend darauf an, die Menschenrechte ungleich materieller und differenzierter zu fassen. Damit die sublimen Feingriffe spürbar, messbar und kommunizierbar werden.

In Sachen neoliberal-etatistischer Sicherheit im Zeitalter ihrer technologischen (Re-)Produktion kommt es entgegen der entpolitisierenden Tendenz, die mit der „Technokratisierung der Sicherheit“ schattengleich einhergeht, darauf an, diese neuen Sicherheitstechnologien in ihrer antisozialen, anti-menschenrechtlichen Logik ständig neu in ihren Herrschaftssinnen aufzudecken. Darum gilt die Parole der Politisierung der Sicherheitstechnologien an erster Stelle.

Wolf-Dieter Narr lehrt Politikwissenschaft an der FU Berlin und ist Mitherausgeber von Bürgerrechte & Polizei/CILIP.
[1] Ackroyd, C. et al.: The Technology of Political Control, New York, London 1977; für die BRD s.a. Busch, H. u.a.: Die Polizei in der Bundesrepublik, Frankfurt/M. New York 1985
[2] Wright, S.: An Appraisal of Technologies of Political Control. Working Document, Luxembourg 1998 (European Parliament, Scientific and Technological Options Assessment (STOA), Working Document PE 166499; http://jya.com/stoa-atpc.htm); für einen vergleichsweise frühen Überblick vgl. auch Nogala, D.: Polizei, avancierte Technik und soziale Kontrolle, Pfaffenweiler 1989

Bibliographische Angaben: Narr, Wolf-Dieter: Die Technologisierung der Polizei … und ihre dringliche Politisierung, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 76 (3/2003), S. 6-11