von Bernd Belina
Die Rolle der Polizei im Kapitalismus ist sowohl durch Kontinuitäten als auch durch Wandel gekennzeichnet. Einerseits ist sie immer und überall die Institution, die die kapitalistische Ordnung mit Gewalt durchsetzt und dabei stets Arme und „Fremde“ besonders in den Fokus nimmt. Andererseits verändern sich Art, Ausmaß und Begründungen der Polizeiarbeit in Abhängigkeit vom Arbeitskräftebedarf. Unter anderem weil dieser hierzulande aktuell zum Problem zu werden droht, wird in Öffentlichkeit und Politik um die Rolle der Polizei gerungen.
Was als unnormal und kriminell gilt, verweist darauf, was als normal gelten soll. Vorstellungen von Normalität sind das Resultat gesellschaftlicher Auseinandersetzungen, in denen mächtige Gruppen ihre Interessen besser durchsetzen können als subalterne. Deshalb wandeln sich solche Vorstellungen mit der Zeit und unterscheiden sich zwischen Räumen je nach Fortgang und Zwischenstand der Auseinandersetzungen. Im Kapitalismus sind Inhalte und Formen der Auseinandersetzungen in spezifischer Weise vorstrukturiert. Als Resultat vorangegangener Auseinandersetzungen gelten Umgangsformen, Normen und Regeln sowie grundlegende Strukturen den allermeisten Menschen als selbstverständlich und normal: Konflikte in der Gesellschaft werden ohne Gewalt geregelt; im Zweifelsfall kommen Gesetze zur Anwendung. Um diese durchzusetzen dürfen nur staatliche Institutionen, v. a. die Polizei, Gewalt anwenden; klar getrennt davon hält das Militär Gewaltmittel zur Abschreckung nach außen vor. Auch dass es andauernd Abweichungen von dieser Normalität gibt, dass etwa Gewalt auch im gesellschaftlichen Alltag, in Familien, auf Schulhöfen und im Intimen präsent ist (wenn auch weniger als noch vor einigen Jahrzehnten) und das Militär auch mal eingesetzt wird (wenn auch fast nur anderswo), gilt seinerseits als normal. Wenn im Kapitalismus in diesen vorstrukturierten Bahnen explizit darum gerungen wird, was als normal und was als Abweichung oder Kriminalität gelten soll, dann können diese Auseinandersetzungen als Hinweis darauf gelten, dass sich an den gesellschaftlichen Verhältnissen selbst etwas ändert.
Kapitalismus: steter Wandel bei erstaunlicher Stabilität
Der Kapitalismus ist eine Gesellschaftsordnung, die auf der Mehrwertproduktion und damit auf der Ausbeutung von Arbeitskraft durch das Kapital basiert. Infolge des allgemeinen Kampfes aller gegen alle in der Konkurrenz müssen sich „sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend … revolutionieren“.[1] Nancy Fraser betont, dass der Kapitalismus notwendig „vier nicht ökonomische Bedingungen für die Möglichkeit einer kapitalistischen Wirtschaft beinhaltet“:[2] die Unterjochung insbesondere rassifizierter Menschen, die noch nicht einmal als vollwertige Lohnarbeiter*innen gelten und überausgebeutet werden, die soziale Reproduktion, die primär von Frauen geleistet wird, die Ausbeutung der Natur sowie staatliche und öffentliche Güter, etwa „Rechtsordnungen, (bewaffnete) Kräfte zu ihrer Durchsetzung, Infrastrukturen, Geldversorgung und Mechanismen zur Bewältigung von Systemkrisen“.[3] Diese Konstellation ist erstaunlich stabil. Erstaunlich deshalb, weil Gesellschaft doch andauernd im Wandel ist und in allen genannten Bereichen ständig zahlreiche Auseinandersetzungen stattfinden. Was dabei aber stabil bleibt, sind die grundlegenden Strukturen, dass also in Ausbeutungsverhältnissen Mehrwert produziert wird und dies durch Rassismus, Patriarchat, Naturausbeutung und Staat ermöglicht wird.
Zur Konstanz der Polizei im Kapitalismus
Die Polizei zählt zentral zu den von Fraser genannten Kräften, die die Rechtsordnung durchsetzen und damit alle anderen Strukturen des Kapitalismus ermöglichen. Das gilt in allen kapitalistischen Staaten, egal, ob sie demokratisch, autoritär oder diktatorisch regiert werden. In Demokratien ist die Polizei immerhin selbst an das Recht gebunden, dabei aber, weil sie das Recht ja selbst durchsetzt und dabei immer erst im Nachhinein rechtlich überprüft werden kann, nie ganz einhegbar.[4] Insbesondere bei ihrer zentralen Aufgabe der Gefahrenabwehr geht sie regelmäßig über das Recht hinaus und „verdeutlicht …, welche Moral- und Ordnungsvorstellungen dominieren. Klasse, Migrationshintergrund, Herkunft oder Geschlecht sind wirkmächtige Kategorien solcher Grenzziehungen.“[5] Wer und was in der dominanten gesellschaftlichen Ordnung als normal oder als abweichend gilt, wird im je durchgesetzten Zusammenspiel dieser „Achsen der Differenz“[6] in Konflikten und Kämpfen ausgehandelt. Die Basis bilden reale Unterschiede, die der Kapitalismus zwischen den Klassen ökonomisch und die Nation-Form[7] zwischen „uns“ und „den Fremden“ im Recht produziert, sowie die dazugehörigen Ideologien von Klassismus, Rassismus und weiterer -ismen. Wen die Polizei dann wie behandelt, wem sie Normabweichung oder Kriminalität unterstellt und deshalb mehr oder weniger im Rahmen der Gesetze im Auge behält, kontrolliert und durchsucht, aber auch jenseits des Rechts schikaniert, demütigt oder Gewalt (bis hin zu tödlicher)[8] unterzieht, entscheidet sie im Kontext dieser dominanten Vorstellungen von Normalität auf Basis eigener, in der Institution selbst hervorgebrachter und perpetuierter „partikulare(r) Normen“ und „Gerechtigkeitsvorstellungen“.[9] Diese sind geprägt von einer „klare(n) Freund-Feind-Konstellation“,[10] in der die Welt übersichtlich eingeteilt ist: in zu schützende und potenziell gefährliche Individuen und Gruppen. In der Polizei entwickelt sich „eine Kultur des Argwohns und der defensiven Solidarität. Bürger*innen erscheinen in ihr … tendenziell als Herrschaftsunterworfene, das gängige Kommunikationsmuster verläuft … in dem Bewusstsein, dass nach einer erfolglosen Ansprache selbstverständlich weitere Eskalationsstufen folgen.“[11] Diese hegemoniale „Krieger-Männlichkeit“ kann zum „Selbstzweck“[12] werden. Eine solche verselbständigte Kultur, die zu Diskriminierung und Gewalt neigt, lässt sich „länderübergreifend für westliche Demokratien“[13] nachweisen. Aus der strukturellen Position der Polizei im Kapitalismus ebenso wie aus der empirischen Forschung zur Polizei kann der Schluss gezogen werden, dass Ungleichbehandlung entlang der Achsen der Differenz, d. h. die alltägliche Diskriminierung Subalterner, und dabei Gewalt jenseits des Rechts, eine Konstante der Polizei im Kapitalismus darstellen.
Zum Wandel der Polizei im Kapitalismus
Gleichwohl ist im Verhältnis von Polizei und Kapitalismus auch Wandel zu beobachten, den es zu erklären gilt. Die Autoren der klassischen Studie Sozialstruktur und Strafvollzug argumentierten bereits 1939: „Jede Produktionsweise tendiert dazu, Bestrafungsmethoden zu ersinnen, welche mit ihren Produktionsverhältnissen übereinstimmen.“[14] Dabei betrachten sie Art und Umfang staatlichen Strafens recht direkt in Abhängigkeit zum Arbeitskräftebedarf der sich wandelnden Produktionsverhältnisse. Demgegenüber haben Helga Cremer-Schäfer und Heinz Steinert immer wieder den indirekten, aber wesentlichen Zusammenhang zwischen Kriminalisierungsstrategien und den „durchgesetzten und vorläufig hingenommenen Regeln … einer Arbeits- und Lebensweise“ betont: „Skandalisierung von ‚Kriminalität‘ ist Bestandteil einer (jeweils phasenspezifisch geprägten) Politik der ‚Arbeitsmoral‘.“[15] Damit bezeichnen sie eine Art zu leben, die mit den Anforderungen der jeweiligen Ausprägung des Kapitalismus kompatibel ist, und die im Strafrecht und mittels Kriminalisierungen ex negativo dargestellt wird.
Ähnlich argumentieren die Autoren der ebenfalls klassischen Studie Policing the Crisis von 1978.[16] Die Vermittlung zwischen den unmittelbaren Anforderungen des sich stetig wandelnden Kapitalismus und dem, was kriminalisiert wird, um darzustellen, was normal ist, findet in der Sphäre der Hegemonie statt. Damit ist der ganze „erweiterte Staat“ der Zivilgesellschaft gemeint, zu dem Schule, Kulturproduktion, Medien, Industrieverbände, Gewerkschaften u.v.a.m. zählen, in dem die herrschenden Klassen mittels Ideologieproduktion an der Herstellung eines Konsenses arbeiten, der ihre Herrschaft absichert, ohne allzu oft auf Gewalt zurückgreifen zu müssen. Für England zeichnen sie nach, wie in den 1970er Jahren die „law-and-order-society“[17] aufkommt. Infolge der vom Wandel des Kapitalismus induzierten Veränderungen der Gesellschaft kommt der recht stabile Konsens der Nachkriegszeit an seine Grenzen und Zwangsmittel werden wichtiger. Ohne den erst später gängig gewordenen Begriff zu nutzen, beschreiben sie, wie auf der Insel der Neoliberalismus durchgesetzt wurde.[18]
Zur Entwicklung in der BRD
Einen ähnlichen Übergang zum punitiven, also mit verstärkter Kriminalisierung und Bestrafung einhergehenden Neoliberalismus kann man auch für Deutschland feststellen. An anderer Stelle habe ich die Entwicklung des Zusammenhangs zwischen Kapitalismus und Polizei bzw. Kriminalpolitik in der BRD anhand von vier wirtschaftspolitischen Perioden dargestellt, während derer jeweils ein Hauptfeind kriminalisiert wurde: der Ordoliberalismus mit dem „Kommunismus“ als Feind (1949–1966), der keynesianistische Fordismus mit dem „Linksterrorismus“ (1966–1990), der Neoliberalismus, in dem „Kriminalität“ als solche den Feind konstituierte (1990–2008), sowie eine aktuelle Übergangsphase des Post-Neoliberalismus, in der um Fokus und Ausmaß von Kriminalisierungen gerungen wird (seit 2008).[19] Solche Periodisierungen sind immer Vereinfachungen, die nur so viel wert sind, wie sie dabei helfen, die Entwicklung besser zu verstehen. Der Neoliberalismus wurde in Deutschland nicht 1990 eingeführt. Anders als in Chile, Großbritannien und den USA, wo der Putsch durch Pinochet (1973) bzw. die Wahlen von Thatcher (1979) und Reagan (1981) eindeutig den Beginn dieser Periode anzeigen, wurden die neoliberalen Prinzipien von Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung in der BRD ab den 1980er bis in die frühen 2000er Jahre unter verschiedenen Regierungen schrittweise durchgesetzt. Zur gleichen Zeit wurde „Kriminalität“ zunehmend zu einem zentralen innenpolitischen Thema, bei dem sich die relevanten Parteien sowie die stärker werdende extreme Rechte mit punitiven Vorschlägen und Initiativen zu überbieten versuchten.
Neoliberalismus
Eine kaum bis unbestimmte „Kriminalität“ als Feind der Ordnung zu behaupten, war kompatibel mit einer Konstellation, in der globale Wettbewerbsfähigkeit das alles überragende Ziel deutscher Politik wurde.[20] Politisch umgesetzt wurde dieses Ziel durch Exportförderung, Offshoaring und das Absenken der Löhne und Lebensverhältnisse der Arbeiter*innenklasse (Stichwort: Niedriglohnsektor). Möglich wurde dies, weil die Systemalternative des real existierenden Sozialismus zunächst diskreditiert, dann Geschichte war, die Exportorientierung den heimischen Massenkonsum relativ an Bedeutung verlieren ließ und schließlich weder Arbeitskräftemangel noch systemdestabilisierende Proteste zu befürchten waren. Somit musste Politik immer weniger auf die – komplizierte, kostspielige und „wettbewerbsverzerrende“ – Integration der Allermeisten mittels materieller Zugeständnisse abzielen, die noch den Fordismus gekennzeichnet hatte. Für den Konsens im Neoliberalismus waren materielle Zugeständnisse an die Arbeiter*innenklasse weniger wichtig als zuvor. An die Stelle trat zum einen der individuelle Zwang zum Geldverdienen, der vom „unternehmerischen Selbst“ im ideologischen Erfolgsfall als Eigenverantwortung und Freiheit verstanden wurde, zum anderen das Management der Bevölkerung mithilfe der Beeinflussung „aus der Distanz“.[21] In der Kriminalpolitik trat an die Stelle der Disziplinierung von Individuen das Management der Bevölkerung als Ganzes, das flexibel an störend wahrgenommene Situationen anpassbar ist. Das schien angesichts des neoliberalen Spardiktats in Bezug auf alles, was nicht unmittelbar dem Kapital zugutekommt, günstiger als der Wohlfahrtsstaat, der entsprechend um- und zurückgebaut wurde. An seine Stelle tritt für viele Arme und Rassifizierte die Polizei.
Dazu passt die in den 1990er Jahren zu beobachtende Verschiebung des Kriminalisierungsschwerpunkts weg von einigermaßen konkreten Gefahrengruppen wie „Kommunist*innen“ und „Terrorist*innen“ hin zur „Kriminalität“.[22] Diese neue Phase der Kriminalisierung ist unpolitischer, indem nicht mehr explizit (linke) politische Abweichungen im Zentrum stehen, sondern ein flexibel einsetzbares und tendenziell alle betreffendes Label genutzt wird. Dies zeigt sich an der Karriere vager Schlagworte wie „Jugendkriminalität“, „Ausländerkriminalität“ oder „Organisierte Kriminalität“, an Präventionsorientierung, Vorverlagerung und Vagheiten in Straf- und Polizeirecht sowie an Strafverschärfungen und immer neuen Kompetenzen für die Polizei.[23]
Post-Neoliberalismus?
Mit der Finanz- und Wirtschaftskrise 2007/08 wurde der Neoliberalismus zum „Zombie“,[24] der nicht mehr hegemonial war, sondern nur aufgrund seiner institutionellen Einschreibungen und fehlender mehrheitsfähiger Alternativen als „Untoter“ weiter sein Unwesen trieb. Es begann eine Debatte um die Frage, wie wohl der Post-Neoliberalismus aussehen wird.[25] Gut 15 Jahre später befinden wir uns nach wie vor in einer unklaren Situation: Weder hat sich ein neues wirtschaftspolitisches Paradigma durchgesetzt, noch ist im Feld der Kriminalisierungen eine klare Linie zu erkennen. Gleichwohl deuten sich Konturen an.
Die gewaltigen Summen öffentlichen Geldes, die für „Bankenrettung“ ab 2007, Geflüchtete ab 2015 (in zu geringer Höhe), (entlang der „Achsen der Differenz“ ungleich verteilter) Corona-Hilfen ab 2020 sowie Rüstung und Energie-Hilfen ab 2022 mobilisiert werden konnten, straften die neoliberale Rede von der Alternativlosigkeit des Sparens ebenso Lügen wie die Legende vom „schlanken Staat“. Im Verlauf der Krisenkaskade der letzten 15 Jahre traten progressive Antworten und (anfangs breite) Proteste zunehmend in den Hintergrund. Stattdessen ist weltweit ebenso wie in der BRD eine Hinwendung zum Autoritären bzw. Regressiven zu konstatieren, in deren Rahmen zentral Rassismus, aber auch Anti-Feminismus mobilisiert werden.[26] Zugleich ändert sich die Situation auf dem Arbeitsmarkt. Diskussionen um die Arbeitsunwilligkeit der „Generation Z“ und die 4-Tage-Woche ebenso wie um Burnout und Vereinbarkeit von Karriere und Familie oder die recht große öffentliche Unterstützung von Streiks (in der Pflege, bei der Bahn, von LKW-Fahrer*innen auf einer hessischen Autobahnraststätte), deuten darauf hin, dass der neoliberale Konsens zwischen Unternehmer*innen und solchen „ihrer selbst“ immer weniger ausreicht. Gewerkschaften können ihre Position stärken oder werden zumindest nicht mehr so stark in die Enge getrieben wie im Neoliberalismus. Politiken gegen den „Fachkräftemangel“, insbesondere durch Erhöhung der Erwerbsquote von Frauen sowie selektive Immigration, werden wichtiger. Die Politik der Bundesregierung im „langen Sommer der Migration“ 2015 kann als „Versuche von Kapitalfraktionen, Arbeitskraftprobleme migrationspolitisch zu lösen“,[27] verstanden werden, ist darauf aber nicht reduzierbar. Die damalige breite „Willkommenskultur“ kam von unten. Im Oktober 2018 konnte die Unteilbar-Demonstration gegen Rassismus eine knappe Viertelmillion Teilnehmer*innen nach Berlin mobilisieren, die Black Lives Matter-Proteste im Sommer 2020 bei 83 Veranstaltungen fast 200.000.[28]
Die Gleichzeitigkeit von progressiven und regressiven Entwicklungen spiegelt sich auch in der Kriminalpolitik wider. Einerseits wird ausgehend von der Kritik am Racial Profiling[29] und der unermüdlichen Arbeit v. a. migrantischer Bewegungen zunehmend der Rassismus der Polizei thematisiert,[30] die auch sonst nicht mehr alles bekommt, was sie will: Vielerorts werden Kennzeichnungspflicht und unabhängige Beschwerdestelle eingeführt (wobei letztere mit zu wenig Kompetenzen und Mitteln ausgestattet werden), bei der Überarbeitung der Polizeigesetze von Berlin und Bremen wurden einige besonders skandalöse Kompetenzen und Formulierungen gestrichen. In Bremen wurden, nach britischem Vorbild, „Kontrollquittungen“ eingeführt, mit denen Polizist*innen Kontrollierten schriftlich bescheinigen, wo, wann und v. a. warum sie kontrolliert wurden.[31] Für die Bundespolizei haben die Regierungsparteien im April 2023 eine ähnliche Regelung angekündigt. Die Pöbeleien seitens Polizei und Boulevardmedien gegen diesen Vorstoß und der Umstand, dass diesbezüglich in der Zwischenzeit nichts passiert zu sein scheint, verweisen darauf, dass die Befürworter*innen von Entkriminalisierung und des Abbaus von Rassismus mächtigen Gegner*innen gegenüberstehen.
Denn zugleich antworten Teile der herrschenden Klassen auf die Krise des Neoliberalismus mit verschärften Kriminalisierungsoffensiven. Der aktuelle autoritäre Schwenk des Neoliberalismus[32] kann als Ausdruck schwächer werdender Zustimmung zu neoliberalen Versprechen verstanden werden. Einen zentralen Fokus von Moralpaniken und Law-and-Order-Kampagnen bilden eben jene Geflüchteten, die von anderen Teilen der herrschenden Klassen als Arbeitskräfte sowie von weiten Teilen der Bevölkerung als Menschen willkommen geheißen werden. Ihren Ausgang nimmt die Kriminalisierung von der extremen Rechten und wird von ihr in die Parlamente,[33] die Polizei[34] und seit der „Silvesternacht von Köln“ in die Medienberichterstattung[35] getragen. Die größten Erfolge feiern diese Kriminalisierungsoffensiven im Asyl- und Ausländerrecht, etwa bei der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems oder beim Vorstoß, Abschiebung allein aufgrund der vermeintlichen Mitgliedschaft in einer „kriminellen Vereinigung“ bzw. einem „Clan“ vorzunehmen.[36]
Es sieht vieles danach aus, als würden konservative und rechte Parteien und Medien im Zusammenspiel mit Teilen der Polizei „Flüchtlinge“ zumindest für einen großen Teil der Bevölkerung als zentrale Feinde durchsetzen können. Im Gegensatz zu den in aktuellen Kampagnen und Wahlkämpfen ebenfalls als Feinde gesetzten „Klima-Kleber*innen“, „Woken“ und Feminist*innen hat dies den Vorteil, dass sie dabei nicht nur an den weit verbreiteten Rassismus der Bevölkerung, sondern auch an rassistische Kriminalisierungen im Asyl-, Ausländer- und Polizeirecht anschließen können. Demgegenüber haben sich etwa Versuche, die „Letzte Generation“ als „kriminelle Vereinigung“ zu kriminalisieren als (zumindest bislang) nicht durchsetzungsfähig herausgestellt. Auch Feminismus und Anti-Rassismus ist schwer zu kriminalisieren (Verbote des Genderns an Schulen in Sachsen und Sachsen-Anhalt wurden per Regierungsbeschluss, nicht im Strafrecht, durchgesetzt), ihre Funktion übernehmen die allgegenwärtigen Cancel-Culture-Moralpaniken.[37] Zugleich beteiligen sich Feminist*innen an Kriminalisierungen in Form des Carceral Feminism, der zentral auf Bestrafung und Abschreckung von Tätern sexualisierter Gewalt und Verbote (etwa der Sexarbeit) setzt und sich ins Sexualstrafrecht einschreiben konnte.[38]
Die neoliberale Phase kaum widersprochener Kriminalisierungen zum Schutz vor „Kriminalität“ scheint vorüber. Immerhin wird über Sinn, Zweck und Praxis von Polizei und Strafe wieder intensiv diskutiert. Dies erfolgt häufig in offener Konfrontation zwischen progressiver Kriminalisierungskritik auf der einen Seite und blindwütiger rassistisch-klassistischer Kriminalisierungsoffensiven auf der anderen Seite. Beiden Seiten gelingt es, sich partiell in Hegemonie und Recht einzuschreiben. Möglicherweise ist eben dies das Charakteristikum der post-neoliberalen Periode des Zusammenhangs von Kapitalismus und Polizei hierzulande.