Rechtsprechung – Die verwaltungs- und zivilrechtliche Behandlung der Göttinger Juzi-Razzia von ’89

von Klemens Roß

Mehr als drei Jahre nach dem Polizeiüberfall auf ein Göttinger Jugendzentrum muß das Land Niedersachsen nun an 79 Kläger ein Schmerzensgeld in Höhe von 200 DM zahlen, nachdem das Landgericht Göttingen einem der Betroffenen ein Schmerzensgeld in dieser Höhe zugesprochen hatte. Unser Autor, RA in Göttingen, war der erfolgreiche Kläger.

Zur Erinnerung

Am Abend des 1.Dezember 1986 fand im Jugendzentrum Innenstadt in Göttingen eine Veranstaltungung statt, auf der über die Wohnungsnot in Göttingen im allgemeinen und über die am Vormittag des gleichen Tages stattgefundene Räumung von drei Häusern im besonderen öffentlich informiert und diskutiert werden sollte.
Gegen 20.30 Uhr umstellten und stürmten etwa 400 aus ganz Niedersachsen zusammengezogene Polizisten unter Schlagstockeinsatz das Gebäude.

Die Versammlungsteilnehmer wurden bis zu vier Stunden im Jugendzentrum festgehalten und – obwohl zumeist im Besitz gültiger Ausweispapiere – einer erkennungsdienstlichen Behandlung mit Lichtbildaufnahme und einer körperlichen Durchsuchung unterzogen. Einzelnen Teilnehmern wurde der Gang zur Toilette untersagt, Kontakt mit der Außenwelt, etwa einem Anwalt, aufzunehmen, war ebenfalls verboten.
Die Polizei begründete ihren Einsatz mit der vermeintlichen Suche nach einem Störsender. Tatsächlich ging es ihr darum, eine ihr günstige Gelegeheit zu nutzen, die Göttinger „Szene“ lückenlos zu erfassen.
Dementsprechend erläuterte der Göttinger Polizeichef Lothar Will den Polizeieinsatz gegenüber der „Hannoversch Niedersächsische Allgemeine“ (3.12.86). unter Hinweis auf eine einige Tage zuvor stattgefundene und später als „Scherbendemo“ bezeichnete Aktion in der Innenstadt: „Wir wollten die Masse, die potentiell solche Straftaten begeht, mal aus der Anonymität herausholen“ „Die ganze Szene“, so Will, sollte „ausgeleuchtet“ werden. (Spiegel, 8.12.’86) Wilfried Hasselmann, damaliger Innenminister in Niedersachsen, sprach von „Strippenziehern“, die „in ihren Löchern aufgespürt werden sollten“. Die Juzi-Razzia hatte, ähnlich wie die Vorgänge um die Massenverhaftungen im Nürnberger „KOMM“ und die kurz zuvor stattgefundene Einschließung im „Hamburger Kessel“, bundesweit für Aufsehen gesorgt.

Die Behandlung der Razzia durch die Verwaltungsgerichtsbarkeit

Obwohl recht bald offenkundig war, daß die Polizei bei ihrer Vorgehensweise nahezu sämtliche einschlägigen Rechtsvorschriften eklatant verletzt hatte, stellte sich Innenminister Hasselmann ausdrücklich hinter die für die Aktion Verantwortlichen.

Neun der von der Razzia betroffenen Versammlungsteilnehmer klagten daraufhin vor dem Verwaltungsgericht und erhielten in allen Punkten ihrer Fortsetzungsfeststellungsklage Recht: In seiner Entscheidung vom Januar 1988 qualifizierte das VG Braunschweig (Az: 6 VG A 6/87) die Veranstaltung als Versammlung im Sinne des Versammlungsgesetzes. Die Versammlung hätte somit nur durch eine ausdrückliche Auflösungsverfügung aufgelöst werden dürfen. Damit war nicht nur die Auflösung der Versammlung rechtswidrig, sondern auch das anschließende Festhalten der Besucher einschließlich der erkennungs-dienstlichen Behandlung.
Die politisch Verantwortlichen blieben unbelehrbar: Hasselmann wertete die Razzia nach wie vor als „vollen Erfolg“, da nach der Razzia in Göttingen nunmehr „Ruhe eingekehrt“ sei (FR, 15.01.’88). Zudem ermunterte er seine Polizei, bei Demonstrationen künftig mehr Menschen festzunehmen. Bei einer Ansprache vor Polizisten erklärte er gar: „Die Angst vor einer Niederlage bei nachträglicher gerichtlicher Überprüfung des Einsatzes darf nicht zu Entscheidungen führen, die dem Bürger den Eindruck vermitteln, die Polizei sei ohnmächtig“ (FR, 20.02.88). So verwunderte es kaum, daß die beklagte Bezirksregierung Braunschweig gegen das Urteil des VG Berufung einlegte.

Der 12. Senat des OVG Lüneburg (Az: 12 OVG A 56/88) ließ es erst gar nicht zu einer mündlichen Verhandlung kommen, sondern wies die Berufung der Bezirksregierung einstimmig zurück. Das Gericht stellte fest, daß die Gefahr einer Wiederholung gegeben sei. Da die Wohnungsnot nicht beseitigt sei, sei „zu erwarten, daß ähnliche Aktionen der Studenten wieder vorkommen; der Kläger könnte vielleicht auch an ihnen beteiligt sein“. Die Lüneburger Richter belehrten die für die Polizeiaktion Verantwortlichen: „Die Versamm-lungsfreiheit gem. Art. 8 GG können gerade auch Teilnehmer einer Versammlung für sich in Anspruch nehmen, die mit sozialen Verhältnissen unzufrieden sind und die ihren Unmut und ihre Kritik öffentlich vorbringen wollen“.
Ergänzend zu der Entscheidung des Verwaltungsgerichts stellte das OVG fest, daß nicht nur der Verstoß gegen das Versammlungsgesetz die Rechtswidrigkeit der an dem Kläger durchgeführten Maßnahmen (Identitätsfeststellung, Durchsuchung) begründe, sondern daß es auch „darüber hinaus“ keine andere Rechtsgrundlage für diese Maßnahmen gegeben habe. Schließlich verklagten 79 Betroffene das Land Niedersachsen auf Gewährung eines „symbolischen“ Schmer-zensgeldes von 200 DM.

Die Schmerzensgeldentscheidung

In einem im Februar 1990 vorab entschiedenen Musterprozeß sprach das Landgericht Göttingen (Az.:2 O 322/89) einem der Kläger das Schmerzensgeld zu. Das Gericht begründete seine Entscheidung mit der bereits verwaltungsgerichtlich festgestellten Rechtswidrigkeit des Polizeieinsatzes sowie einer schuldhaften Amtspflichtverletzung der für den Polizeieinsatz Verantwortlichen: „Vorliegend hätte ein pflichtgetreuer Durchschnittsbeamter, bei dem zumindest die Kenntnis der grundlegenden Bestimmungen des Versamm-lungsgesetzes erwartet werden muß, ohne weiteres erkennen können, daß bei der Durchführung der polizeilichen Maßnahme die Voraussetzungen dieses Gesetzes tangiert waren und die Versammlung dem Schutzbereich des Art. 8 GG unterfiel“. Eine Entlastung der Polizeiführung komme nicht in Betracht, „weil es sich weder um besonders abgelegene Rechtsvorschriften handelte, noch Gesetzesbestimmungen von sekundärer Bedeutung betroffen waren“.

Vielmehr habe es den Anschein, „als habe man die gesetzlichen Bestimmungen fahrlässig außer acht gelassen, weil man eine gute Gelegenheit gesehen habe, die Juzi-Sache zu durchleuchten“. Ferner bezweifelt das Gericht, ob das Innenministerium die in der Sache ergangenen (verwaltungsgerichtlichen) Urteile akzeptiert hat: „… hat das beklagte Land nicht dargetan, daß es zu sonstigen Konsequenzen aus diesem Urteil gekommen ist und etwa die in der Öffentlichkeit unstreitigen Äußerungen, durch die der Kläger als potentieller Straftäter abgestempelt worden ist, zurückgenommen worden sind. Es ist nicht ersichtlich, daß seitens der für die Aktion Verantwortlichen sowie derjenigen, die sie gerechtfertigt haben, die diesbezüglichen Äußerungen zurückgenommen worden sind und das verwaltungsgerichtliche Urteil akzeptiert worden ist.“

Aufgrund dieser eindeutigen Entscheidung will das Innenministerium nunmehr „freiwillig“ das Schmerzensgeld an die übrigen 78 Betroffenen auszahlen.

Resümee

Die Urteile der Verwaltungsgerichte und des Landgerichts Göttingen schützen vor Wiederholungen nicht. Die Frage, ob die Gerichtsentscheidungen bei den politisch Verantwortlichen zu einem Lernprozeß hinsichtlich der Bedeutung des ersten Abschnitts des Grundgesetzes geführt haben, muß bezweifelt werden.

Die jüngsten Göttinger Polizeiübergriffe anläßlich einer Demonstration zum Gedenken an eine bei einem unüberlegten Polizeieinsatz ums Leben gekommene Antifaschistin bezeugen das Gegenteil. Lothar Will ist immer noch im Amt. Obwohl verwaltungsgerichtlich festgestellt, daß die Datenerhebung rechtswidrig war, hält das niedersäschische LKA weiterhin an der Speicherung fest. Über eine Klage auf Löschung vor dem VG Hannover wurde noch nicht entschieden.