Es wäre wirklichkeitsblind, jene Probleme, die BürgerInnen der Bundesrepublik mit den Ämtern für „Verfassungsschutz“ hatten und haben, gleichzusetzen mit jenen vielfältigen Erfahrungen direkter und verschleierter Repression, denen BürgerInnen der DDR bis vor wenigen Monaten ausgesetzt waren. Es wäre kurzsichtig wie jene geschichtsblinde Gleichsetzung von Praktiken politischer Repression in der Zeit des deutschen Faschismus mit denen in der BRD, die hier und da im linksradikalen Spektrum zu finden ist. Es sind qualitative Unterschiede zwischen diesen drei Herrschaftssystemen, auch wenn subjektives Leiden und private Erfahrungen dazu verleiten können, sie gelegentlich zu verwischen. Reiner Schults „Leben mit der Stasi“ das „Leben mit dem Verfassungsschutz“ folgen zu lassen, soll keineswegs in der BRD „Widerfahre-nes“ mit Schults Erfahrungen gleichgewichtig setzen. Unsere Autor bestand aus persönlichen Motiven darauf, seinen Beitrag nicht namentlich zu zeichnen. Angst vor dem „Verfassungsschutz“ war es nicht. Der Text ist authentisch, die Zwischenüberschriften sind von uns eingefügt worden.
1. Frösteln
Nach dem Lesen von Reiner Schults emotionslos vorgetragener Leidens- – aber auch Kampfes-„Geschichte mit der Stasi“ meine Erfahrungen mit dem Verfassungsschutz zur Veröffentlichung niederzuschreiben, machte mir erhebliche Schwierigkeiten. Einerseits haben die Lektüre von R. Schults Text und viele Gespräche mit neuen FreundInnen aus der DDR in letzter Zeit bei mir eine Fülle emotional geladene Erinnerungen hervorgerufen. Sie machten mir wieder gegenwärtig, daß auch das Herrschaftssystem der Bundesrepublik mit seinen subtileren Instrumentarien politischer Repression als die des Stasi-Systems kräftige lebensgeschichtliche Spuren hinterlassen kann.
Andererseits ist eine Tendenz zur Larmoyanz kaum vermeidbar. Aber jeder lebt unmittelbar mit seiner Zeit und seinen persönlichen Erfahrungen. Freude und Leid haben ihre höchst subjektiven Seiten. Sie lassen sich nur begrenzt relativieren mit Hinweisen auf Freud und Leid des Nachbarn oder der Menschen in der Dritten Welt.
Die „Publikmachung“ meiner Erfahrungen mit dem Verfassungsschutz scheint mir nur deshalb gerechtfertigt, weil ich weiß, daß ich nicht allein unter der Sonne der „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ erwachsen geworden bin und dennoch fröstelte. Und ein solcher Text mag vielleicht jene besser auf Künftiges vorbereiten, die in den kommenden Monaten voller Freiheitserwartungen in die Bundesrepublik einverleibt werden – ein Weg, den ich vor langer Zeit mit großen Erwartungen aus eigenen Stücken beschritten hatte.
2. Leben in der DDR
Frösteln: Frischer Anlaß war die Chance, „meine“ Akten in vorbereitet-gesäuberter Fassung beim Landesamt für Verfassungsschutz einzusehen.
Der Blick in die Kopien weckte Erinnerungen – Assoziationen, in denen sich Erfahrungen aus der Zeit, da ich in der DDR aufgewachsen bin, mischen mit Erfahrungen, die ich diesseits der Mauer machen konnte. Sie wurden wiederum gebrochen durch die jüngsten Nachrichten aus der DDR seit November letzten Jahres und durch frische Kontakte mit jenen, denen nie der Sprung über die Mauer gelungen war oder die nie diesen Weg ernsthaft erwogen hatten.
Mit 17 sprang ich über die Mauer – in jener Nacht, in der das Stalin-Denkmal geschleift und aus der gleichnamigen Allee wieder die Frankfurter wurde. Der Sprung war mit dem kindlich-jugendlichen Schwur verbunden, sich nie wieder einzulassen auf jenen DDR-alltäglichen Opportunismus, der mich als Schüler zuvor fast zerrissen hatte. Da wurde etwa die Jugendweihe an mir vollzogen, was keine Seite daran hinderte, mir in der folgenden Woche den Schwur auf den „lieben Gott“ abzuverlangen – die Konfirmation.
Und ähnlich war’s mit dem FDJ-Beitritt. Im Mai, unter Trommelwirbel beim montäglichen schulischen Fahnenappell, kam es zu einer Rüge wegen staatsfeindlicher Äußerungen und fast zum Schulverweis, wenige Monate später, im September desselben Jahres, folgte mein, vom Vater erzwungener Beitritt zur „Freien Deutschen Jugend“ (FDJ), damit „aus Dir etwas werden kann!“ Jenen, die mich drei Monate zuvor zum „Feind des Sozialismus“ erklärt hatten, schien dieser plötzliche „Gesinnungswechsel“ Probleme nicht zu machen. Damit herumzustreiten war meine private Angelegenheit. Von der 1. Klasse an hatte ich es vermieden, Mitglied der nahezu-Zwangsorganisation „Thälmann-Pioniere“ zu werden. Es hinderte mich aber nicht, unter der Bettdecke die Solidaritätskonzerte des Radios „DDR“ nachzuspielen, und für den Befreiungskampf des algerischen Volkes immense Summen der Kollegen des Motorenwerkes und der Konfitüren-Fabrik meiner Heimatstadt verschwenderisch zu spenden – dabei das Liedgut jener Organisation singend, der beizutreten ich mich gleichzeitig weigerte.
Mit dem Mauersprung sollte diese Zeit beendet sein – keine politischen Kompromisse mehr, keine Selbstverleugnung. Es waren Hoffnungen, von denen vermutlich derzeit viele künftige Bundesbürger aus der DDR in ähnlicher Weise träumen. Aber nicht nur die Stasi war im Sammeln und im Bespitzeln fließig. Ganz tüchtig waren/ sind auch bundesdeutsche Ämter.
3. Die Sonne der FdGO
Die Akten eines Amtes, das auf seinem Türschild „Verfassungsschutz“ zu stehen hat, verraten in Bruchstükken, was aus dieser kindlich-rigorosen Haltung ihm festhaltenswert erschien. Daß es noch immer die Akten dieser Behörde und nicht „meine“ sind, zeigten die vielen gesperrten Seiten, die vielen unkenntlich gemachten Passagen in den mir zur Einsicht gereichten Kopien, zeigten die vielen Ungereimtheiten, auf die ich bei der Einsicht stieß. Vieles, von dem ich recht sicher weiß, daß sie es verbucht haben, gaben diese hauptberuflichen Desinformierer allerdings mir nicht zur Kenntnis.
Erkennbar wurde, daß sie mich seit 1971 begleiteten, meine in Form von Polizeimeldungen, Spitzelberichten, Zeitungsnotizen und Aufsatzkopien registrierte politische Biographie zu bewerten suchten.
Meine Biographie ist die durchschnittliche eines linken Studenten der Bundesrepublik seit den mittsechziger Jahren – viele Hoffnungen, sozialisti-sche Utopien, große und kleine Richtigkeiten, gewiß auch große und kleine Dummheiten meiner Generation.
In meiner Akte liest es sich so:
„25. April 1971: 5 Uhr 45. POM N. meldet, daß … beim Verteilen von Flugblättern vor dem Großbetrieb Borsig“ erfaßt wurde. Ehrlich und pflichtbewußt reicht der POM seine „Erkenntnisse“ telefonisch dem Amte weiter – das Flugblatt würde folgen. So wurde ich beim Verfassungsschutz zum Aktenzeichen: – mein erster Eintrag, über das Aktenzeichen erkennbar abgebucht als „dogmatischer Linker“.
Im Laufe der Jahre wuchs die Sammlung. Erinnert wurde ich daran, wieviele Texte und öffentliche Wortwechsel in 20 Jahren zusammenkommen – und daß auch private politischer Äußerungen der Archivierung durch das Amt obfallen. Daß ich gesellschaftlich aktiv war, entnahn ich unter anderem den Kopien von Vereinsregister-Auszügen und Gründungsprotokollen mit meiner Unterschrift. Ich war in der Tat dogmatisch – ohne Vereinsgründung galt mir offensichtlich politische Arbeit nichts.
Die Namen der Spitzel sind unkenntlich gemacht – dito der Geldbetrag, den sie für ihre Denunziationen erhielten. Das „mein“ Dossier der ver-fassungsschützerischen Fachöffentlichkeit bundesweit zugänglich war, zeigen Vermerke, die auf Anfragen anderer Landesämter hinweisen.
Da bezeugt einer der anonymgemachten Zuträger, daß ich 1978 Mitglied einer KPD/ML gewesen sei – zwar Unsinn, denn seit 1974 war mir nicht einmal mehr ein Flugblatt dieser Organisation unter die Augen gekommen – aber es gilt. Sollte ich heute gegenüber dem Amte richtigstellen, daß ich ab 1971 in der Tat zwei Jahre zwar nicht Mitglied, aber doch Flugblattverteiler dieser Gruppe war?
Und so setzt es sich fort – Veranstaltungsankündigungen von der TAZ-Wiese, häßliche Fotos, die von der Meldestelle besorgte Unterschrift, Tag, Monat und Jahr des Eintritts in eine Bürgerrechtsorganisation (sie hatten offenbar an der Mitgliederkartei genascht) etc.. Was in der mir zur Einsicht gereichten, präparierten Akte fehlte, war die Kopie eines privaten Briefes, den ich vor Jahren verschickt hatte und der in anderen Sachakten des Verfassungsschutzes aufgetaucht war.
Anders als bei Reiner Schult führten diese „Erkenntnisse“ jedoch nie zur Haft. Die Folgen politisch unliebsamen Handelns waren für mich immer kalkulierbarer und begrenzter als für Oppositionelle in der DDR.
4. Ärgernisse
Abgesehen von gelegentlichen Schlägen bei Demonstrationen gab es nur ein staatsanwaltschaftliches Ermittlungsverfahren gegen mich und weitere FreundInnen einer Bürgerrechtsorganisation. Wir hatten einen Strafrichter darüber informiert, daß wir uns darum bemühen würden, dem Gericht von den Behörden vorenthaltene Akten im Rahmen eines politischen Strafverfahrens beizubringen. Unser Schreiben leitete der eifrige Richter schnurstracks weiter an die politische Staatsanwaltschaft.
Beruflich erwies sich, daß in sozialdemokratisch regierten Ländern keine Chance bestand, im staatlich finanzierten Wissenschaftsbereich in meinem Studienfach zu arbeiten. In CDU-Ländern stellte sich die Frage einer Bewerbung von vornherein nicht. Es lief nicht offiziell, es gab keine Anhörung vor den Kommissionen zur politischen Gesinnungsüberprüfung – das, was „rechts-staatliche“ Berufsverbote in der Bundesrepublik von denen in der DDR unterscheidet, blieb verwehrt. Betrieben wurde es inoffiziell – vom SPD-Genossen im jeweiligen Kultusministerium zum SPD-Genossen an der Universität, dem klar gemacht wurde: dieser Bewerber auf keinen Fall.
Gleichläufig war der Prozeß bei einer SPD-beherrschten, gänzlich „parteiun-abhängigen“ Stiftung. Während meines Bewerbungsverfahrens wurde die Stiftung aufgelöst, um Tage später neu gegründet zu werden. Der Hintergrund: die Stiftung war in einem Arbeitsgerichtsprozeß verpflichtet worden, aus politischen Gründen fristlos gekündigte Mitarbeiter wieder einzustellen. So löste man die Stiftung auf, um Tage später ohne diese Mitarbeiter – ansonsten mit dem alten Personalbestand – unter neuem Namen die Stiftung fortzuführen.
Ein Politiker aus dem Verein staatstragender Parteien, mir freundlich-gleichgültig zugeneigt, erkundigte sich in den frühen 70er Jahren auf dem „kleinen Dienstweg“ beim Parteifreund, beschäftigt beim Verfassungsschutz, was da über mich registriert sei. Jener Politiker ging nicht in Details, empfahl mir aber (und bot mir seine Hilfe an) mich in der freien Wirtschaft zu bewerben – bei einer Firma, die westdeutsche Schweinehälften nach Berlin transportiert, um sie hier grob zu zerlegen und dann, Berlin-Subventionen abzockend, wieder in Westdeutschland zu verhökern.
Mir in der freien Wirtschaft Lohn und Arbeit zu verschaffen, wurde als Hilfe ein zweites Mal mir angetragen. Eine große Firma suchte einen Mitarbeiter für die Personalabteilung, um ihn zur Bekämpfung von im und vor dem Betrieb aktiven Maoisten einzusetzen. Ein Professor, aus gemeinsamen Kriegszeiten noch befreundet mit dem Personalchef, sah in mir den richtigen Mann.
Ich entschloß mich, mein Studienfach aufzugeben, verbrannte das Vorwort zu einem Buch, um dessen deutsche Ausgabe ich mich über Jahre bemüht hatte, und bewarb mich für die Ausbildung in einem akademisch-handwerklichen Beruf (Medizin). Dahinter stand das Kalkül, nach Abschluß des neuen Studiums freiberuflich über Kenntnisse zu verfügen, die eine berufliche Existenz jenseits staatlicher Finanzierungen ermöglicht – im Nachhinein gesehen, für mich eine gute Entscheidung.
5. Resümee
Die Chance, ein Studium zu beginnen und abzuschließen, war nie vebaut. Haft gab es nicht für mich; berufliche Schwierigkeiten warfen mich nach dem Ausbildungswechsel jeweils nur begrenzte Zeiten aus bezahlter Tätigkeit.
Es war, es ist mithin bisher unvergleichbar konfortabler, in der Bundes-republik politischer „Dissident“ zu sein als in der DDR, wenn man nicht mit direkter Gewalt liebäugelte – und die Betonung liegt auf „liebäugelt“. Die „tschekistische“ Konsequenz, mit der im Stasi-System ideologische Dissidenten in Haft genommen und verurteilt wurden, liegt jenseits des bundesdeutschen Erfahrungsschatzes, seit die polizeilich-strafrechtliche Kommunistenverfolgung Mitte der 60er Jahre zum erliegen kam.
Soweit ist die hier erzählte Geschichte für Reiner Schult und seine FreundIn-nen in der DDR voller optimistischer Versprechungen, wenn sie in wenigen Tagen zu Bundesbürgern gemacht werden – und dennoch das Bedürfnis haben, weiterhin Oppositionelle zu sein. Die Probleme sind weitaus begrenzter, die Risiken meist kalkulierbar.
Ohne Zweifel: ich hätte nicht tauschen wollen mit jenen, die in der DDR darum kämpften, einigermaßen gerade durchs Leben zu kommen.
6. Redaktionelle Nachbemerkung
Dieser Bericht über das „Leben mit dem ‚Verfassungsschutz'“ belegt:
man kann mit ihm leben. Man kann ihn überleben. Er bedroht die Existenz nicht. Oder doch? Er kann jedenfalls folgenreich bemerkt werden oder insgeheim in den eigenen Lebensgang eingreifen. Und er definiert in einem Umfang das politische Feld, wie es keinem Geheimdienst in einer von der Öffentlichkeit lebenden Demokratie zugestanden werden dürfte. Immerhin: weil wir alle nolens volens „mit dem ‚Verfassungsschutz‘ leben“, neigen wir dazu, ihn als randständiges Problem für politisch randständige Leute abzutun und uns ansonsten „mit ihm“ einzurichten. Wie dies auch für andere wenig geliebte Institutionen gilt. Nicht wenige, die sich selbst als liberal verstehen und aktive „Ver-fassungspatrioten“ sein möchten, sprechen gar bedauernd, achselzukkend von einem „Übel“, aber eben einem „notwendigen“.
Das „Leben mit dem ‚Verfassungsschutz'“ zeigt aber, daß diese Hinnahme falsch ist.
Denn ein solches „verfassungsschützerisch“ contra constitutionem mitgestaltetes Leben ist eine erkleckliche Minderheit zu leben gezwungen. Diese Beobachtung gilt nicht nur für die „Hoch“zeiten des Berufsverbots während der siebziger Jahre. Und nota bene: noch haust das Berufsverbot samt Regelanfrage in etlichen CDU-Bundesländern; vor allem aber: die sog. Sicherheitsüberprüfungen für alle möglich-unmöglichen Bereiche nehmen eher zu als ab. Was aber solchen Minderheiten geschieht, strahlt auf die Mehrheiten und die demokratische Qualität dieser Mehrheiten zurück. Darum ist es so unerträglich, daß nun, da die Stasi – mit Stumpf und Stiel?! – abgeschafft wird, die Verfassungsschutzämter in institutionellem Imperialismus nach Thüringen und Sachsen-Anhalt, nach Brandenburg, nach Sachsen und nach Mecklenburg vordringen. Darum gilt es, die A-Nomalie des „Lebens mit dem Verfassungsschutz“ unablässig anzuprangern, da es zur – nun auch in der DDR expandierenden – Normalität der Bundesrepublik geworden ist.