Der Auflösungsprozeß der Stasi – Chronologie einer erfreulichen Agonie (Teil 2) – und des „verfassungsschützerischen“ Neubeginns in den „östlichen Bundesländern“

22.03.: Die Kommission zur Auflösung des Amtes für Nationale Sicherheit (AfNS) beschließt, alle 400 Abgeordneten der neuen Volkskammer vor der konstituierenden Sitzung auf evtl. Stasi-Tätigkeit zu überprüfen. Die künftig in der Volkskammer vertretenen Parteien werden aufgefordert, bis zum 23.03. ihre Zustimmung zu geben. Die Regierungsbeauftragten zur Auflösung der Stasi weisen darauf hin, daß bis zu 40 der Abgeordneten für die Stasi gearbeitet haben könnten.

23.03.: Der Generalstaatsanwalt der DDR lehnt eine Überprüfung der Abge-ordneten vor der Konstituierung der neuen Volkskammer ab, da laut Art. 48 der DDR-Verfassung nur die Volkskammer selbst Entscheidungen über ihre Abgeordneten treffen könne. Außerdem gelte bereits die Immunität der Abge-ordneten. Die Kommission zur Auflösung des AfNS schließt sich mit Ausnahme von W. Fischer diesen Bedenken an.
Die SPD stimmt einer Überprüfung ihrer Abgeordneten zu. CDU („unvorhersehbare politische und moralische Folgen“) und PDS (jeder Abgeordnete müsse selber entscheiden) lehnen eine generelle Überprüfung ab. Bündnis 90 und die Grüne Partei werfen dem Generalstaatsanwalt Verzögerungstaktik vor.

27.03.: Der Generalstaatsanwalt erklärt, er werde nicht gegen eine Überprü-fung der Abgeordneten vorgehen, falls die Regierungsbeauftragten diese be-schließen. Daraufhin geben die drei Regierungsbevollmächtigten F. Peter, G. Böhm, W. Fischer und der DDR-Ministerpräsident H. Modrow ihre Zustimmung zur Überprüfung derjenigen Abgeordneten, die ihr Einverständnis geben.
Bundesinnenminister W. Schäuble spricht sich für eine großzügige Amnestie für ehemalige Stasi-Mitarbeiter aus.

28.03.: Aus Protest gegen die Verschleppung der Überprüfung der Abgeordneten treten in Erfurt drei Mitglieder der Bürgerwache „zur Behütung der Stasi-Akten“ in unbefristeten Hungerstreik.
Bundesinnenminister Schäuble erklärt, daß die Stasi-Unterlagen, die im Zuge der Auflösung in die BRD gelangt sind, unausgewertet vernichtet werden sol-len, soweit kein Spionageverdacht vorliegt.

29.03.: Mehrere zehntausend Menschen fordern in Ost-Berlin (25.000), Leipzig (20.000) und anderen großen Städten die Überprüfung der Volkskammer-Abgeordneten. Sie protestieren gegen eine Generalamnestie für Ex-Stasi-Mit-arbeiter und gegen die geplante Auflösung der Bürgerkomitees.

Aufgrund der Verschleppung der Überprüfung beschließt der Runde Tisch in Ost-Berlin, die „Arbeitsgruppe Sicherheit“ entgegen seiner früheren Absicht nicht aufzulösen.

31.03.: Gegen 2 Mitglieder der Erfurter Untersuchungsgruppe ist ein Ermitt-lungsverfahren wegen angeblichen Geheimnisverrats nach 245 eingeleitet worden, da sie der Staatsanwaltschaft Karteien aus der Stasi-Zentrale überge-ben haben, in denen sie Informationen über Erfurter Volkskammer-Abgeordnete entdeckt hatten.

01.04.: Mit Ausnahme der „Hauptverwaltung Aufklärung“ (HVA) steht keiner der ehemaligen 85.000 Stasi-Mitarbeiter mehr in einem Dienstverhältnis mit dem MfS/AfNS.
Der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), Boeden, erklärt, es seien noch 5000-6000 DDR-Agenten in der BRD aktiv. Dazu kämen noch 250 hauptamtliche Mitarbeiter des DDR-Aufklärungsdienstes (HVA).

02.04.: In Dresden und Magdeburg demonstrieren mehrere tausend Menschen gegen die Verschleppung der Überprüfung der Abgeordneten.

14.04.: Es wird ein Papier des BfV-Präsidenten vom 3. März 90 bekannt, ge-schrieben für eine Klausurtagung der Leiter der Ämter für Verfassungsschutz des Bundes und der Länder, in dem Boeden Pläne für den Aufbau künftiger Landesämter für Verfassungsschutz in der DDR schmiedet (vgl. den Beitrag „Gesamtdeutscher Verfassungsschutz“ in dieser CILIP-Ausgabe).

17.04.: Saarlands Innenminister Läpple qualifiziert in einer Pressekonferenz die Boeden-Pläne als „Ansammlung gefährlicher Torheiten“.

20.04.: Der Arbeitskreis 4 der BRD-Innenministerkonferenz berät die Emp-fehlungen einer VfS-Expertenkommission zum Aufbau neuer VfS-Ämter in den „östlichen Bundesländern“. Einzelheiten werden nicht bekannt.

21.04.: Der Rostocker unabhängige Untersuchungsausschuß und der Runde Tisch protestieren gegen die Versiegelung des Stasi-Archivs durch die Bezirks-staatsanwaltschaft, da eine Überprüfung der Kandidaten zur Kommunalwahl nun nicht mehr möglich ist. Innenminister Diestel erklärt die Arbeit der Bür-gerkomitees für beendet und unterstellt die Auflösung dem Innenministerium.

23.04.: Laut Innenminister Diestel sind Stasi-Akten über sechs Millionen DDR-Bürger und zwei Millionen BRD-Bürger vorhanden.

24.04.: Die Bürgerkomitees fordern in einem Brief an Diestel, daß die drei Regierungsbevollmächtigten ihre Kontrollfunktion weiter ausüben sollen und protestieren gegen die Beschneidung ihrer Kompetenzen.

28.04.: Die BRD-Staatsanwaltschaft stellt Strafminderung für DDR-Spione in Aussicht, wenn sie sich freiwillig stellen und über ihre Stasi-Tätigkeit informieren.

10.05.: Die Volkskammer überweist einen Antrag von Bündnis 90 und den Grünen zur Überprüfung der Kandidaten zur Kommunalwahl in die Ausschüsse.

16.05.: Diestel kündigt die Bildung einer Regierungs-Kommission zur Auflösung der Stasi an. Er will Markus Wolf (ehem. stellvertretender Minister für Staatssicherheit) für die Auflösung heranziehen. Die Bürgerkomitees sollen nur noch beratende Funktion erhalten; die Freistellungen von Mitgliedern der Bürgerkomitees werden durch die Regierung de Maizière nicht verlängert.

Diestel erklärt, daß eine Überprüfung der ca. 120.000 kommunalen Mandats-träger nicht stattfinden wird, da diese mindestens 2 Jahre dauern würde.
Alleine in der Stasi-Zentrale in Ost-Berlin waren 33.121 Mitarbeiter beschäf-tigt. Von den insgesamt 85.000 ehemaligen Stasi-Mitarbeitern übernimmt das Innenministerium Diestels laut Angaben des Leiters der Regierungs-Kommission, G. Eichhorn, 2350 für die Bereiche „Anti-Terror-Kräfte“ und den Perso-nalschutz; darunter sind auch 109 der ehemaligen „Anti-Terror-Einheiten“. Zum Zoll kommen 2375, zu den Grenztruppen 6600, zur NVA 270, zum Institut für wissenschaftlichen Gerätebau 1500 und zur Post 1500 Ex-Stasi-Mitarbeiter. 2300 sind arbeitslos, 7500 gehen keiner Arbeit nach, und über die übrigen existiere keine Angabe.

Ministerratsbeschluß zum Verbleib der Stasi-Akten:
1. Rückführung von Materialien aus den Stasi-Archiven an das Ministerium für Abrüstung und Verteidigung, das Innenministerium, die Generalstaatsan-waltschaft und die Militärstaatsanwaltschaft;
2. Nur Staatsanwaltschaft und Gerichte oder ein parlamentarischer Untersu-chungsausschuß dürfen personenbezogene Akten einsehen.
Für „Dokumente mit schutzwürdigen Informationen über Betroffene“ gilt eine Schutzfrist von 110 Jahren; für Informationen, die die Sicherheitsinteressen anderer Staaten tangieren, besteht eine 80jährige Sperrfrist.

17.05.: Der DDR-Verteidigungsminister Eppelmann erklärt, daß der geplante militärische Abschirmdienst der DDR u.a. von 35 Mitarbeitern der ehemaligen Stasi-Abteilung 2000 aufgebaut wird.

21.05.: M. Wolf lehnt die Mitarbeit an der Stasi-Auflösung aufgrund publizi-stischer Angriffe ab.

30.05.: Innenminister Diestel stellt die Regierungs-Kommission zur Auflösung

Stasi und RAF

06.06.: In der DDR beginnt eine Reihe von Festnahmen gesuchter, ehemaliger Mitglieder der RAF, die mit Hilfe der Stasi in der DDR seit Anfang der 80er Jahre leben: In Berlin(O) wird Susanne Albrecht festgenommen. Am

14.06. folgt die Festnahme von Inge Viett in Magdeburg.

15.06.: in Frankfurt/O. Monika Helbing und Ekkehard v. Seckendorff-Gudent, in Cottbus Werner Lotze und Christiane Dümlein und in Schwedt Sigrid Steinbeck gefaßt. C. Dümlein wird am 15.06. wieder entlassen, da ihr Haftbefehl seit 1988 wegen Verjährung aufgehoben ist.

Am 16.06. wird Ralf Friedrich festgenommen, allerdings wegen Verjährung wieder entlassen.

18.06.: Henning Beer und Silke Maier-Witt werden in Neubrandenburg aufgrund von Informationen eines Ex-Stasi-Mitarbeiters der „Hauptabteilung 22“ (Terrorismusbekämpfung) verhaftet. Der Generalbundesanwalt beantragt die Zulieferung der Festgenommenen, die jedoch durch den DDR-Generalstaatsanwalt verweigert wird, da eine Auslieferung von DDR-Bürgern an eine „auswärtige Macht“ laut Art. 33 der DDR-Verfassung nicht möglich sei.

05.07.: S. Albrecht läßt sich in die BRD überstellen; entscheidend für ihren Entschluß ist das Kronzeugenangebot des Generalbundesanwalts. Am

12.07. werden I. Viett und W. Lotze ebenfalls in die BRD überstellt: I. Viett gegen ihren Willen; W. Lotze will die Kronzeugenregelung in Anspruch nehmen.

14.07.: Mit ihrem Einverständnis werden S. Sternebeck und H. Beer (am 24.07.) in die BRD überführt. Am 02.08. wird auch S. Maier-Witt auf eigenen Wunsch in die BRD überstellt. In ihren Aussagen belasten die Ex-RAFler sich laut „Spiegel“ gegenseitig.

27.07.: E. v. Seckendorff-Gudent wird aus der U-Haft in Berlin(O) entlassen, da nach einer Gegenüberstellung mit Zeugen der Tatverdacht des ihm zur Last gelegten Banküberfalls entfällt und der Vorwurf der Mitgliedschaft in der RAF verjährt ist. Die Generalbundesanwaltschaft untersucht, ob die gefaßten RAF-Mitglieder nach ihrem Untertauchen in die DDR weiterhin Anschläge verübt haben. Die Überprüfung der Kontakte der Stasi zur RAF wird dem Volkskammerausschuß zur Stasi-Auflösung übertragen.

21.06.: Die BRD-Staatsanwaltschaft leitet Ermittlungsverfahren gegen Honecker und Mielke wegen des Verdachts der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung ( 129 a StGB) und der Strafvereitelung ( 258) ein.

26.07.: E. Mielke wird in diesem Zusammenhang verhaftet. Das BKA, die Bundesregierung und ihre Geheimdienste sollen aufgrund von Hinweisen durch DDR-Bürger bereits seit Anfang der 80er Jahre Kenntnis über die Aufenthaltsorte der gesuchten, ehemaligen RAFler gehabt haben.

der Stasi vor: u.a. Günther Eichhorn (Leiter), Eichler (Stellvertreter), Klaus Wendler (Sprecher), Walter Janka und Stefan Heym.

31.05.: Bisher sind ca. 100 Stasi-Angehörige in die BRD übergelaufen.

07.06.: Die Volkskammer beschließt die Einrichtung eines parlamentarischen Sonderausschusses zur Kontrolle der vollständigen Auflösung des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes. Ihm sollen Abgeordnete aller 7 Fraktionen angehören (3 CDU/DA, 2 SPD, 2 PDS, je 1 der übrigen Fraktionen). Auf Antrag der „Liberalen“ wird die Aufgabenstellung erweitert: Untersuchung der Vorgänge in der Nervenklinik Waldheim (Einweisung von politisch Unliebsamen in Ner-venkliniken), der geplanten Internierungslager für oppositionelle DDR-Bürger und der Internierungslager des damaligen sowjetischen Geheimdienstes NKWD auf dem Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone.

09.06.: Diestel kündigt die Enttarnung aller Betriebs-Stasi-Offiziere bis Ende Juni an.

13.06.: M. Wolf widerspricht Meldungen, der KGB habe ganze Gruppen ehemaliger Mitarbeiter der Abteilung Aufklärung des MfS übernommen.

14.06.: „Aktion Besen“ in Berlin(O): Rund 2000 Mitarbeiter der Stadtver-waltung sollen auf ihre Vergangenheit überprüft und ihre Stellen neu ausge-schrieben werden. Daraufhin demonstrieren Tausende vor dem Roten Rathaus und führen Warnstreiks durch. Daraufhin sollen nur noch 192 leitende Angestellte einen Offenbarungseid leisten.

16.06.: Die Generalstaatsanwälte in der BRD schlagen für verurteilte und an-geklagte Agenten beider deutscher Staaten ein Straffreiheitsgesetz vor.

18.06.: Die „tageszeitung“ veröffentlicht eine Liste mit 9251 Adressen ehe-maliger Stasi-Immobilien, die auf Recherchen der Regierungs-Kommission zur Stasi-Auflösung basiert.

19.06.: M. Wolf erklärt, bundesdeutsche Geheimdienste hätten ehemaligen Stasi-Mitarbeitern im Falle ihres Überlaufens in die BRD Straffreiheit und Geldsummen in z.T. siebenstelliger Höhe angeboten.

21.06.: Regierungssprecher Klein widerspricht und teilt mit, daß von den Ge-heimdiensten nur „Informationshonorare“ gezahlt worden seien.

28.06.: Die Regierungs-Kommission übergibt dem Sonderausschuß der Volkskammer eine Liste mit ca. 2000 Namen ehemaliger „Offiziere im besonderen Einsatz“ (OibE), die seit 1986 in wichtigen gesellschaftlichen Bereichen in der DDR eingesetzt waren. Innenminister Diestel erklärt, daß Ende März alle 2000 OibE entlassen worden seien. Die Ost-Berliner Zeitung „Der Morgen“ vermutet, daß die Dienstverhältnisse zwar formal beendet seien, die Ex-Stasi-Leute jedoch noch immer im DDR-Management arbeiteten.

29.06.: Das „Bürgerkomitee Normannenstr.“ beendet seine Tätigkeit zur Auf-lösung der Stasi: Es seien „jetzt alle Akten sicher, auch sicher vor uns.“
Die Volkskammer beschließt ein Gesetz zur Kürzung der Renten der Ex-Stasi-Mitarbeiter. Ab 1. Juli 90 sollen die Stasi-Renten höchstens 1200 DM betra-gen. Die Renten werden um 50 % jenes Betrags gekürzt, der über die künftige Mindestrente von 495 DM hinausgeht.

02.07.: Die BRD-Innenministerkonferenz beschließt, daß die im Zuge der Stasi-Auflösung in die BRD gelangten Unterlagen über führende BRD-Politiker und Industriemanager vernichtet werden sollen.

03.07.: Die DDR-Generalstaatsanwaltschaft erlaubt Angehörigen des Ex-Stasi-Oberst und Devisenbeschaffers A. Schalck-Golodkowski, dessen „persönliche Gegenstände“ aus der DDR zu schaffen. Der Abtransport in die BRD muß aufgrund der Proteste der Einwohner Gollins abgebrochen werden.

06.07.: Der Volkskammer-Ausschuß zur Stasi-Auflösung kündigt Widerstand im Falle einer Vernichtung von Stasi-Akten an.

09.07.: Innenminister Diestel erklärt, das frühere MfS habe über seine Bezie-hungen zu mutmaßlichen RAF-Mitgliedern hinaus Kontakte zu allen bekannten Terrororganisationen in Europa und Nahost unterhalten (z.B. zur Eta und IRA).

10.07.: M. Wolf fordert Straffreiheit für Agenten.
Innenminister Diestel verbietet dem Volkskammer-Untersuchungsausschuß zur Überprüfung der Abgeordneten die Einsicht in die Stasi-Akten und kündigt einen Gesetzentwurf an, der die Überprüfung grundsätzlich regeln soll.

11.07.: Das Präsidium der Volkskammer einigt sich über Grundsätze zur Ak-teneinsicht und beschließt die Überprüfung von 50 Abgeordneten, die in den Stasi-Akten als „Quelle“ geführt wurden.

12.07.: Laut Innenminister Diestel sind der international gesuchte Iljitsch Ramirez-Sanchez („Carlos“; hat mutmaßlich teilgenommen am Überfall auf die Wiener OPEC-Tagung 1975) und die beiden Palästinenser Abu Hisham und Abu Daud (gilt als Organisator des Anschlags auf die israelische Olympiamannschaft ’72 in München) seit ’79 bis Ende der 80er Jahre in der DDR vor westlichen Fahndern und Geheimdiensten versteckt worden.
18.07.: Der Vorsitzende des Volkskammer-Ausschusses zur Stasi-Auflösung, Gauck (Bündnis 90), gibt die Zahl der auf bisher 2000 geschätzten „OibE“ mit 974 an, die teilweise noch immer in den Sicherheitsbehörden und großen Wirt-schaftsbetrieben beschäftigt seien. Dazu kämen 582 „OibE“, die sich im Aus-land befänden.

25.07.: In Zusammenhang mit dem Anschlag auf die Diskothek „La Belle“ im April 1986 wird in West-Berlin der Libanese Ali Mansur aufgrund von Hinweisen eines ehemaligen Stasi-Mitarbeiters festgenommen. Aufgrund fehlender Beweismittel wird er am 22.08. wieder aus der U-Haft entlassen. Die Haftbe-fehle gegen fünf weitere mutmaßliche Tatbeteiligte bestehen weiter.

27.07.: Laut Bundesanwaltschaft sind mit Wissen der Stasi auch Rechtsextre-misten in der DDR untergetaucht, so 1983 der gesuchte Odfried Hepp. Dem Waffenhändler Udo Albrecht soll die Stasi zur Flucht aus der BRD verholfen haben.

01.08.: Innenminister Diestel spricht sich gegen ein Berufsverbot für ehema-lige Stasi-Mitarbeiter und gegen jede Gesinnungsprüfung aus.

03.08.: Die Beauftragte des Sonderausschusses zur Kontrolle der Auflösung der Stasi für den Bezirk Potsdam, Uta Leichsenring, gibt die Enttarnung von 32 ehemaligen „OibE“ bekannt, die aufgrund von Recherchen in Stasi-Akten möglich gewesen sei.

10.08.: Bundesjustizminister Engelhard schlägt eine weitreichende Amnestie für ehemalige Stasi-Mitarbeiter vor, die mit dem Einigungsvertrag in Kraft treten solle. Ausgeschlossen als Amnestiegrund seien „Straftaten gegen das Land, schwere Körperverletzungsdelikte und Straftaten gegen die persönliche Freiheit“.

20.08.: Mindestens 68 der 400 Volkskammer-Abgeordneten und auch fünf Regierungsmitglieder sollen nach Informationen des Sender Freies Berlin (SFB) als „inoffizielle Mitarbeier“ für die Stasi gearbeitet haben. Im Verdacht stünden 26 Mitglieder der CDU-Fraktion, 20 der PDS, 10 Liberale, sieben der SPD, vier von der Bauernpartei und ein Abgeordneter vom Bündnis 90.

23.08.: Der Ost-Berliner Bildungsstadtrat Pavlik kündigt die Entlassung von ca. 500 Lehrern an, die zwischen Dezember 89 und März 90 eingestellt wurden und ehemals bei der Stasi beschäftigt waren.
Dankward Brinksmeier wird durch das Volkskammerpräsidium von seiner Funktion als Vorsitzender des Ausschusses zur Überprüfung der Abgeordneten entbunden, da sein Bericht über die Stasi-Vergangenheit von 68 Parlamentariern „unzureichend“ sei.

24.08.: Die Volkskammer beschließt ein Gesetz über den Verbleib der Stasi-Akten: Die Stasi-Akten sollen nicht vernichtet, sondern in Sonderarchive der Länder sowie in ein zentrales Archiv überführt und Landesbeauftragten bzw. einem zentralen Beauftragten unterstellt werden. Die gesammelten Daten sollen grundsätzlich zur Aufklärung von Straftaten und zur Rehabilitierung von Stasi-Opfern zur Verfügung stehen. Eine persönliche Einsichtnahme von an-fragenden Bürgern wird jedoch ausgeschlossen. Die Auswertung zu wissen-schaftlichen Zwecken soll ermöglicht werden.
Laut einstimmig gefaßtem Volkskammerbeschluß sollen alle ehemaligen Stasi-Mitarbeiter aus leitenden Positionen im Öffentlichen Dienst der DDR entlassen werden.

26.08.: Die Witwe des ehemaligen schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten Uwe Barschel äußert in einem Brief an DDR-Innenminister Diestel den Verdacht, daß ihr Mann 1987 von der Stasi ermordet worden sei.

27.08.: Ein Sprecher des West-Berliner Innensenats, Thronicker, erklärt, daß mit dem Tag des Beitritts der DDR zur BRD am 3. Oktober die Zuständigkeit des West-Berliner Landesamtes für VfS auf Ost-Berlin ausgedehnt werde. Im Landesamt geht man allerdings davon aus, daß die Vergrößerung des Zustän-digkeitsbereiches dazu führe, bereits beschlossene Stellenstreichungen vom März 1990 (20 Stellenstreichungen und 20 Sperrungen) wieder rückgängig zu machen.

30.08.: Im Entwurf zum „Einigungsvertrag“ zwischen DDR- und BRD-Regierung wird sich großzügig hinweggesetzt über das Volkskammergesetz: Die etwa sechs Millionen Akten sollen nach dem 3. Oktober dem Bundesarchiv unterstehen und sind damit dem Verantwortungsbereich des dafür bisher zuständigen Volkskammer-Sonderausschusses entzogen. Die Akten können für die Einstellung oder Übernahme „von Personen in den Öffentlichen Dienst“, zur Wiedergutmachung und Rehabilitierung von Betroffenen und für die Feststellung einer Stasi-Tätigkeit von Kandidaten für parlamentarische Mandate verwendet werden. DDR-Bürger können nur Auskunft über ihre Akten erhalten, wenn sie ein „berechtigtes Interesse“ nachweisen können.
Aufgrund von Protesten der Volkskammer, die fast einstimmig beschließt, daß das von ihr verabschiedete Gesetz zum Verbleib der Stasi-Akten im Eini-gungsvertrag festgeschrieben werden müsse, wird als Übergangsregelung fest-gelegt, daß die Akten zentral in der DDR bleiben und von einem Sonderbe-auftragten der Bundesregierung verwahrt werden, bis das zukünftige gesamt-deutsche Parlament ein neues Gesetz zum Verbleib der Stasi-Akten beschlossen hat.

31.08.: Der Sonderausschuß der Volkskammer zur Kontrolle der Stasi-Auflösung lehnt die zentrale Lagerung der Stasi-Akten ab und besteht darauf, daß die Verantwortung für die Sichtung und Nutzung der Akten bei den fünf künftigen Ländern liegen müsse.
Das Bundeskabinett beschließt ein Amnestiegesetz, nach dem alle DDR-Spione straffrei ausgehen sollen, wenn sie keine schweren Straftaten begangen oder höchstens eine Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren zu erwarten haben. Von der Amnestie ausgenommen sind Stasi-Mitarbeiter, denen Taten gegen die eigene Bevölkerung zur Last gelegt werden.

03.09.: Nach Angaben des „Neuen Forums“ sind im Innenministerium noch immer 3.300 ehemalige Stasi-Mitarbeiter beschäftigt.

04.09.: 21 Bürgerrechtler besetzen mehrere Räume der ehemaligen Stasi-Zen-trale in der Normannenstraße. Sie fordern die Aufnahme des Volkskammer-Gesetzes zum Verbleib der Stasi-Akten in den Einigungsvertrag, so daß diese nach dem 3. Oktober der parlamentarischen Kontrolle der künftigen DDR-Länder unterstellt werden und ein Zugang des Bundesnachrichtendienstes (BND) grundsätzlich unterbunden wird. Sie verlangen den Rücktritt von Innenminister Diestel, die Entlassung aller ehemaligen Stasi-Mitarbeiter aus dem öffentlichen Dienst, Gerichtsverfahren gegen ehemalige Spitzel und die Reha-bilitierung aller Stasi-Opfer. Sie kritisieren, daß DDR-Bürger nur über eine Mittelsperson Einsicht in ihre Akten nehmen können.
Die Volkskammerpräsidentin Sabine Bergmann-Pohl vermittelt zwischen den Besetzern und der Regierung und verhindert eine Räumung durch die Volks-polizei.

05.09.: Ca. 300 Demonstranten solidarisieren sich auf einer Kundgebung vor der Stasi-Zentrale mit den Besetzern. Die Bürgerkomitees in Erfurt und Ro-stock führen zur Unterstützung Mahnwachen vor den bezirklichen Stasi-Zen-tralen durch. Innenminister Diestel stellt Strafanzeige gegen die Besetzer wegen Hausfriedensbruch.
Die Ost-Berliner Zeitung „Der Morgen“ berichtet, daß mehr als 500 ehemalige Stasi-Mitarbeiter in die Deutsche Volkspolizei umgesetzt worden seien.
Mindestens sechs Mitglieder neonazistischer Organisationen, darunter Odfried Hepp und Udo Albrecht, sind nach Informationen der „Frankfurter Rundschau“ in den 80er Jahren von der Stasi betreut und dann in arabische Länder weitergeleitet worden.

07.09.: Der Bundesrat lehnt das vom Bundeskabinet beschlossene Amnestiegesetz ab. Kritisiert wird die Ungleichbehandlung, da Spione aus der BRD nur straffrei bleiben sollen, wenn sie sich innerhalb eines Jahres selbst offenbaren. Die SPD-Länder fordern, daß die Amnestie zudem ausgeweitet werden müsse auf Opfer der „Ost-West-Konfrontation“, z. B. auf Verurteilte aus der Friedensbewegung.

Der Leiter des staatlichen Komitees zur Stasi-Auflösung, G. Eichhorn, be-richtet, daß nach dem 3. Oktober die Treuhandanstalt für die Immobilien und das Vermögen des MfS/AfNS zuständig werde. Er spricht sich entgegen der Festsetzung im Staatsvertrag, laut der die Aufgaben des Komitees an das Bun-desinnenministerium übergeben werde, für das Fortbestehen des Komitees zur Aufarbeitung der Aktenbestände für mindestens ein weiteres Jahr aus. Nach Erkenntnissen des Komitees hatte die Stasi zuletzt 86.000 offizielle und 100.000 inoffizielle Mitarbeiter. Eichhorn schließt nicht aus, daß es bis zu 550.000 inoffizielle Mitarbeiter gegeben habe. Von den 86.000 offiziellen Mitarbeitern waren 9.200 in der Spionageabwehr und der „Bekämpfung oppo-sitioneller und extremistischer Bestrebungen“ eingesetzt, 2.171 arbeiteten in der Postkontrolle, 1.486 in der Telefonüberwachung, 10.559 in den Kreis-dienststellen, etwa 12.000 bei der Grenzkontrolle und 8.426 waren in der elektronischen Aufklärung tätig.

10.09.: Staatsminister Stavenhagen vom Bundeskanzleramt widerspricht Diestels Äußerung, in der DDR seien noch Agenten des BND tätig. In der BRD befänden sich noch ca. 3.800 unentdeckte DDR-Agenten.

11.09.: DDR-Staatssekretär G. Krause kündigt als neue Lösung an, daß die Stasi-Akten nach dem 3. Oktober zentral in Ost-Berlin verwaltet und dezentral in den Ländern gelagert würden. Das Sonderbeauftragten-Gremium zur Verwaltung der Stasi-Akten werde durch fünf Länderbeauftragte auf 11 Mitglieder (zwei Bundesbürger, neun DDR-Bürger) erweitert werden.
Die Akten des militärischen Geheimdienstes der DDR sind nach Angaben des Verteidigungsministers Eppelmann bereits vernichtet worden bzw. werden in dieser Woche vernichtet.

12.09.: Die Besetzer in der Stasi-Zentrale treten in einen unbefristeten Hun-gerstreik. In einem Offenen Brief bekräftigen sie ihre Forderungen zur Über-nahme des Volkskammergesetzes zum Umgang mit den Stasi-Akten und des Rehabilitierungsgesetzes in den Staatsvertrag.
Nach Informationen der Ost-Berliner Zeitung „Der Morgen“ arbeiten noch immer mindestens 65 „OibE“ im Amtsbereich des Innenministeriums.

13.09.: Die Volkskammerfraktionen von SPD, DSU und Bündnis 90/ Grüne solidarisieren sich mit den Forderungen der Besetzer. Dem Parlamentspräsidium werden 21.560 Unterschriften zur Unterstützung der Besetzer übergeben. Der frühere Regierungsbeauftragte zur Stasi-Auflösung, W. Fischer, beschuldigt DDR-Umweltminister Karl-Hermann Steinberg (CDU), drei weitere Re-gierungsmitglieder und 68 Volkskammer-Abgeordnete, inoffizielle Stasi-Mit-arbeiter gewesen zu sein.
Die Volkskammer beschließt, nur solche Abgeordnete in den Bundestag zu entsenden, die eine Sicherheitsprüfung absolviert haben und deren Nominierung der Prüfungsausschuß nicht beanstandet habe. Ein Volkskammer-Antrag auf Abberufung des Innenministers Diestel erzielt keine Mehrheit.

14.09.: Wegen mangelnden Einsatzes wird Innenminister Diestel die Zustän-digkeit für die Auflösung der Stasi durch Ministerpräsident de Maizière entzogen und dessen Staatssekretär Eberhard Stief (FDP) übertragen. Diestel trägt jedoch weiter die Gesamtverantwortung. Der Vorsitzende des Volkskammer-ausschusses zur Überprüfung von Abgeordneten, Peter Hildebrand, bestätigt, daß mehrere Minister inoffizielle Stasi-Mitarbeiter gewesen seien.

15.09.: In einer (Ost-)Berliner Zeitung wird der Verdacht geäußert, auch Ver-teidigungsminister R. Eppelmann (CDU), Bauminister A. Viehwegger (FDP) und die ehemaligen Kabinettsmitglieder G. Pohl und F. Terpe hätten als inof-fizielle Stasi-Mitarbeiter gearbeitet.

17.09.: In einem Zusatzartikel zum Einigungsvertrag wird festgelegt: Die Akten bleiben in der DDR, ein gewählter Vertreter aus der DDR wird höchster Beauftragter des Sonder-Gremiums, Opfer der Stasi erhalten ein Auskunftsrecht über ihre eigenen Akten. Die Akten dürfen für nachrichtendienstliche Zwecke nicht verwendet werden, der Verfassungsschutz jedoch werde Zugriff zu den Akten erhalten. Die Besetzer der ehemaligen Stasi-Zentrale setzen ihren Hungerstreik fort, da ihre Forderung nach vollständiger Übernahme des Volkskammergesetzes zum Verbleib der Stasi-Akten nicht erfüllt sei. Sie kritisieren, daß dem Verfassungsschutz der Zugriff auf die Akten nicht verwehrt werde. Zudem sei es den bespitzelten Bürgern nicht möglich, über ihre Akten selbst zu entscheiden.

19.09.: Das Kabinett der DDR schlägt den Vorsitzenden des Volkskammer-ausschusses zur Stasi-Auflösung, Jochen Gauck, als Sonderbeauftragten für die Stasi-Akten vor. Der Ausschuß zur Überprüfung der Abgeordneten will neun Abgeordneten und Ministern, denen frühere Stasi-Mitarbeit nachgewiesen werden könne, ihren Rücktritt nahelegen.
Die Bundesregierung beschließt, die Gesetzesinitiatve für eine Amnestie für Stasi-Agenten auszusetzen. Erst das gesamtdeutsche Parlament soll darüber be-raten; ca. 8.000 Spione müssen infolgedessen mit ihrer Verhaftung rechnen, so die Generalbundesanwaltschaft.

Zusammengestellt von Kea Tielemann aus: „Berliner Morgenpost“, „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, „Frankfurter Rundschau“, „Morgen“, „Süddeutsche Zeitung“, „Tagespiegel“, „tageszeitung“, „Welt“.