‚Staatsschutz‘ statistisch gesehen – Erläuterungen zur Auswertung

von Falco Werkentin

Detaillierte statistische Daten zur sog. Staatsschutz-Kriminalität in der Bundesrepublik aufzutreiben, ist schwierig. Die nachstehenden Zahlenreihen bis 1960 zurückzuverfolgen – dem Jahr, seit das Bundeskriminalamt (BKA) eine „Polizeiliche Kriminalstatistik – Staatsschutz“ erstellt – , war daher nicht möglich. Auch heute noch werden diese alten Angaben zurückgehalten, obwohl die Sta-tistik seit einigen Jahren durch eine relativ detaillierte und offene Berichterstattung ersetzt wurde.

Tabelle 1 gibt einen Überblick über die Entwicklung der seit 1974 jährlich insgesamt erfaßten Delikte1, aufgegliedert nach Staatsschutzdelikten im enge-ren Sinne (Tab. 1, Sp. IV) und sonstigen Straftaten mit politischem Bezug (Sp. III). Ist es bei ersteren die gesamte Palette politischer Straftatbestände des StGB ( 80-86a, 87-91, 94-100a, 102-109h, 129a,234a, 241a StGB), so handelt es sich bei jenen mit politischem Bezug um Ereignisse, bei denen die Staats-schutzbehörden politische Motive vermuten. Beispiel hierfür ist etwa die Nötigung (z.B. Blockade von Kasernen) oder die Sachbeschädigung (z.B. Parolen an Hauswänden).

Für die Interpretation dieser Zahlen ist es wichtig zu wissen, daß nicht jede Anzeige in die Statistik (PKS) eingeht. „Maßgebend für die statistische Erfassung ist, daß bei Abschluß der polizeilichen Ermittlungen noch der Verdacht einer strafbaren Handlung besteht“, heißt es in den Erläuterungen.

Nimmt man nun 1974 mit 2.727 Staatsschutzdelikten als Ausgangsjahr mit 100 %, so steigerte sich die Zahl der insgesamt registrierten Delikte bis 1986 auf 610 % (Tab. I, Sp. II). Während die Zahl jener Delikte, die auch nach den Straftatbeständen des StGB Staatsschutzdelikte sind (Sp. IV) – z.B. Spionage, Hochverrat, Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates, Bildung und Unterstützung einer terroristischen Vereinigung – zwischen 1974 bis 1989 um etwa das Dreifache wuchs, sind die Steigerungen bei den „sonstigen Delikten mit politischem Bezug“ noch kräftiger (Sp. III). Gerade diese Statistik spiegelt recht gut das Auf und Ab im Demonstrationsgeschehen und die Hö-hepunkte diverser politischer Bewegungen und Kampagnen der 70er und 80er Jahre wieder, in denen es immer wieder zu Konfrontationen mit der Polizei kam. Mit 1974 als Bezugsjahr (100%), gab es bei den „sonstigen Delikten“ bis 1987 eine Steigerung auf fast das Neunfache (866%).

Schaut man sich an, wieviele politische Straftäter jährlich verurteilt werden (Sp. V-VI) wirkt das Bild weniger dramatisch. Die sog. Verurteilungsquote (bezogen auf die Zahl der polizeilich registrierten Straftaten) liegt bei Staatsschutzdelikten im engeren Sinne unter 10%, d.h., nur bei einer von 10 registrierten Taten reichten der Verdacht und die Ermittlungsergebnisse aus, um Beschuldigte als Täter zu verurteilen. (Was sich dabei als „gerichtsfest“ erweist, wäre zudem selbst wert, einmal kritisch auseinandergenommen zu werden.) In den Jahren 1978, 1981 und 1982 erwiesen sich sogar nur 6 % der Fälle als „verurteilungsfähig“ (vgl. Sp. VI). Für die „sonstigen Straftaten … “ läßt sich die Verurteilungsquote nicht ermitteln, da die Justizstatistik sie nicht gesondert erfaßt.

Was erklärt diese beeindruckenen Steigerungsraten? Knappe Hinweise müssen hier genügen:

1. Seit Mitte der 70er Jahre wurde, begründet mit terroristischen Anschlägen, das politische Strafrecht der Bundesrepublik kraftvoll um neue Paragraphen ergänzt, die die staatsschützerische „Verteidigungslinie“ weit ins Vorfeld konkreter Rechtsgutverletzungen und Tathandlungen verlegten. Insoweit produzierte der Gesetzgeber „politische Delikte“ im unmittelbarsten Sinne des Wortes selbst.

2. Insbesondere die Staatsschutzabteilungen von BKA und Länderpolizeien wurden in dieser Zeit personell überdurchschnittlich ausgebaut. Mehr auf die Verfolgung politischer Straftaten und Gesinnungen spezialisiertes Personal produziert im Regelfall aber auch mehr „Ermittlungsfälle“. Unter dem Stich-wort „Wendland-Syndrom“ wird dies seit einiger Zeit auch in der Polizei dis-kutiert.2

3. Die Entwicklung der „sonstigen Straftaten …“ verläuft parallel zum De-monstrationsgeschehen. Demonstrationen oder demonstrative Aktionen sind stän-dige Anlässe konfrontativer Situationen, die je nach politischer Bewer-tung und daraus abgeleiteten polizeilichen Einsatzstrategien entweder als Strafta-ten oder als Ausdrucksformen eines berechtigten Protestes gelten kön-nen. So wurden in den 70er und 80er Jahren größere Blockadeaktionen von Landwirten, die damit gegen die Landwirtschaftspolitik der EG protestierten oder einwöchige Blockadeaktionen gewerkschaftlich organisierter Stahlar-beiter in Rheinhausen 1989, mit denen um den Erhalt der Arbeitsplätze gekämpft wurde, nicht mit Polizeigewalt beendet.

Für Blockadeaktionen der Anti-AKW- und Friedensbewegung hingegen galt um so schneller der Vorwurf politisch motivierter Straftaten. Insoweit ist es bei sog. politischen Straftaten im besonderen Maße eine Frage politischer und po-lizeilicher Definitionsmacht und Wahrnehmung.

4. Weitere Indizien zur Frage nach den Ursachen des Anwachsens registrierter politischer Delikte liefert Tab. 2. Es sind nicht in erster Linie die Ge-heimdienste und die Polizei, deren Ermittlungsüberschwang die Zahlen hoch-jagte (Sp. III – X), sondern die Bevölkerung der alten Bundesländer (Sp. IX-X), die immer eifriger politische Verdächtigungen anzeigte.

Von 1974 (100 %) bis 1981 stieg die Zahl der von Bürgern der alten Bundes-republik wegen des Verdachts politischer Straftaten jährlich angezeigten Mit-bürger auf 643 %. Ab 1982 gibt es dann wieder ein leichtes Absinken.3

1 Die Zahlenangaben in den Tabellen 1 und 2 für die Jahre 1974 – 1985 sind – bis auf die Verurteilungsquote in Tab. 1 – der internen Staatsschutzstatistik des BKA entnommen, die Angaben für die folgenden Jahre der im Bulletin der Bundesregieurng jährlich veröffentlichten polizeilichen Kriminalstatistik.
2 vgl. Pfeiffer, Christian: Mehr Polizei – mehr Kriminalität?, in: Hessische Polizeirundschau (hpr), 15. Jg., 1988, H. 2, S. 8-11
3 vgl. die tageszeitung v. 30.3.92

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert