Polizeiliches Antistreßtraining

Seit der zweiten Hälfte der 80er Jahre haben Elemente des Verhaltens-, Kommunikations- und des Antistreßtrainings Eingang in Aus- und Fortbildung der deutschen Polizei gefunden. Mit verschiedenen psychologischen Methoden und in unterschiedlicher Intensität versuchen die Landespolizeien seither, die soziale und kommunikative Kompetenz von PolizistInnen zu verbessern.

Begründet wird die Notwendigkeit gezielten Verhaltenstrainings in erster Linie mit Defiziten, die im polizeilichen Handeln in Alltagssituationen deutlich wurden. So zeigte eine Auswertung von Beschwerden, daß den PolizistInnen „in vielen Fällen … die Fähigkeit (fehlte), zu erkennen, daß Argumente nicht nur rechtlich untermauert, sondern auch logisch, verständlich und überzeugend übermittelt werden müssen.“ Das Auftreten der BeamtInnen werde „auch als bürokratisch, streng und rechthaberisch empfunden.“ Statt beruhigend zu wirken, führe es häufig zur Eskalation von Emotionen und Verhalten – sowohl bei alltäglichen Konflikten als auch bei Großeinsätzen wie z.B. Demon-strationen. Darüber hinaus wird das Verhaltenstraining mit der Situation in-nerhalb der Polizei begründet. Vielfach sei das Verhältnis zwischen Vorge-setzten und MitarbeiterInnen gestört, sei das Klima von Ignoranz und dem Gefühl fehlender Anerkennung bestimmt.

Modelle und ihre Verbreitung

Die ersten umfangreichen Kurse zum Thema „Streßbewältigung im Polizeidienst“ fanden Anfang der 80er Jahre in Nordrhein-Westfalen (NRW) statt. Ab 1987 wurden Antistreß- und Verhaltenstrainingskurse auch in anderen Bundesländern eingeführt. Rheinland-Pfalz, Niedersachsen , Berlin und das Saarland orientierten sich an NRW. Hessen führte ein viertägiges Konflikt-bewältigungsseminar an der Polizeischule ein. Auch in den anderen alten Bundesländern waren bis Mitte 1992 Trainingsprogramme eingeführt bzw. (in Bremen und beim BGS) im Konzeptstadium. Für die neuen Bundesländer kann davon ausgegangen werden, daß diese die Modelle ihrer Patenländer übernommen haben.

Die zugrundeliegenden psychologischen Konzepte und daraus resultierend die angewandten Methoden sind nicht einheitlich. Während NRW und die seinem Beispiel folgenden Länder mit einem lerntheoretisch ausgerichteten Programm arbeiten, haben Hessen und Hamburg eine auf der „Transaktions-analyse“ (TA) aufbauende Fortbildung eingeführt. Die TA stellt ein psychologisches Konzept bereit, mit dem die Konstellation von Verhaltensweisen (Transaktionen) erkannt und diese in der Folge bewußt verändert werden können. Durch die TA-Seminare sollen die PolizistInnen „sensibilisiert und dadurch in die Lage versetzt (werden), Transaktionen kontrolliert zu beeinflussen“. In Baden-Württemberg haben Polizeipsychologen Lehrmaterialien und ein Trainerhandbuch zum „Konflikthandhabungstraining“ zusammengestellt. Das fünfstufige, von der Ausbildung bis zur Fortbildung reichende Modell scheint ebenfalls Verhal-tensänderungen durch Einsicht (und weniger durch Training) bewirken zu wollen.

Das NRW-Programm nimmt innerhalb der bundesdeutschen Polizei eine Sonderstellung ein. Dies gilt sowohl hinsichtlich der Quantität wie der Inten-sität der angebotenen Kurse. Niedersachsen z.B. hat zwar die Zahl der jährlichen TeilnehmerInnen an den Streß- und Konfliktbewältigungsseminaren von 188 (1990) auf 384 (1992) mehr als verdoppeln können, jedoch sind weitere Steigerungen wegen fehlender Mittel nicht zu erwarten. Statistisch hat somit ein niedersächsischer Polizist ca. alle 55 Jahre die Chance, an einem Streß-bewältigungskurs teilzunehmen. Auch im Bundesland Bayern, das ein eigenes Konzept entwickelt hat, können nur wenige in den Genuß des Angebots kommen: aus „personellen Gründen“ werden jährlich nur fünf Seminare angeboten.

Streßbewältigung in NRW

Den Kern des nordrhein-westfälischen Verhaltenstrainingsprogramms bildet ein dreiwöchiger Kurs (3 mal 1 Woche, unterbrochen durch jeweils eine Woche Berufstätigkeit) sowie ein nach etwa 6-9 Monaten folgendes einwöchiges Kommunikationstraining. Konzeptionell eingebunden sind beide Blöcke sowohl in die „Integrierte Fortbildung“ (s.u.) als auch in die (anschließende) Ausbildung von KommissarsanwärterInnen. Das Konzept des Antistreß-trainings hat der Münchener Psychologie-Professor Brengelmann für die nordrhein-westfälische Polizei erarbeitet. Auch für andere Auftraggeber hat das von ihm gegründete ‚Institut für Therapieforschung‘ Streßbewältigungskurse mit demselben Übungsrepertoire entwickelt. Im Unterschied zu anderen Verfahren liegt das Schwergewicht der Kurse auf praxisbezogenen Übungen, in denen neue Verhaltensweisen ausprobiert und eingeschliffen werden sollen. Die Entscheidung für einen derartigen Ansatz war nach Angaben des ‚Vaters‘ des Anti-Streßtrainings in NRW, Horst Olszewski, von der Einsicht bestimmt, daß Verhaltensweisen erfolgreicher durch Lernen und intensives Üben als durch rationales Erkennen verändert werden könnten.

Der Kurs besteht inhaltlich aus drei Teilen, wobei der Schwerpunkt auf dem letzten liegt. Das Erkennen von Streßsituationen (brainstorming in der max. 8 Personen umfassenden Gruppe) erlaubt jedem Teilnehmer, ein individuelles Streßprofil zu erstellen. Dem zugrundeliegenden psychologischen Modell zufolge entsteht Streß aus spezifischen Beziehungen zwischen Individuum und Umwelt, für die die Bewertungen der Subjekte (ihrer eigenen Möglichkeiten sowie der an sie gerichteten Anforderungen) von besonderer Bedeutung sind. In einem zweiten Schritt werden dann einige Grundlagen der Streßforschung vermittelt sowie Bewältigungsmöglichkeiten aufgezeigt. Aus dem Tableau möglicher Reaktionen wählen die TeilnehmerInnen jene aus, die sie für sich angemessen finden und die sie in der dritten Phase üben und anwenden wollen. Im Seminarprogramm werden kurzfristige und langfristige Bewältigungsstrategien angeboten.

Bewältigungsmöglichkeiten von Streß

Die kurzfristigen Maßnahmen sollen eine Situationserleichertung bewirken, während die langfristigen auf Situationsveränderung gerichtet sind. Als Me-thoden der akutellen Erleichterung werden geübt: körperliche Entspannung, Methoden der Ablenkung durch andere (positive) Gedanken oder Aktivitäten, Verfahren der Selbstermutigung, die körperliche Abreaktion oder, sofern dies möglich ist, die direkte Beseitigung des Stressors. Für die langfristige Streßbewältigung bieten Kurse v.a. die „Selbstdesensibilisierung“ (gedankliche Vorwegnahme belastender Situationen bei gleichzeitiger körperlicher Entspannung), die „systematische Problemlösung“, die „Gesprächsführung“ sowie die „Einstellungsänderung“.

Olszewski verdeutlicht an einem Beispiel, wie die „Einstellungsänderung“ er-reicht werden soll: Ein Polizist fühlt sich persönlich getroffen, wenn er mit Kritik an der Institution Polizei konfrontiert wird. Im ersten Schritt soll er nach den Gründen und den Implikationen dieser Einstellung suchen. Der zweite Schritt besteht in der „Erarbeitung einer neuen, angemesseneren Einstellung“: „Ich sollte vielleicht mit den Kritikern offen und sachlich diskutieren.“ Im dritten Schritt wird die neue Einstellung durch zusätzliche Argumente verstärkt und im vierten Schritt (in der Praxis) überprüft. Etwa durch den Vorsatz, „daß ich … morgen abend in unserer Nachbargaststätte ein frischgezapftes Bier trinke und auf kritische Fagen offen antworte.“

In dem in einigen Monaten Abstand folgenden Gesprächstraining werden die KursteilnehmerInnen nicht nur mit kommunikationstheoretischen Grundlagen vertraut gemacht, sondern lernen auch „aggressionsdämpfende Techniken“ wie LIMO (= Loben, Interesse zeigen, Mängel zugeben und Offenheit signalisieren) oder HAIFA (= Halt bzw. Einhalt gebieten, Anerkennung zum Ausdruck bringen, Interesse am Gegenüber zeigen, eigene Fehler zugeben und Angebot zur Klärung des Konflikts unterbreiten).

Deeskalation und Streßbewältigung

Das skizzierte Antistreßprogramm wird während der Kommissarsausbildung später fortgesetzt und vertieft. Gleichzeitig sind Elemente der Streßbewältigung auch in das Konzept der „Integrierten Fortbildung“ (IF) eingebaut. Die IF umfaßt insgesamt fünf Elemente: Konfliktbewältigung, Kommunikation, Taktik/ Eigensicherung, Eingriffstechnik, Schießen/ Nichtschießen und Eingriffsrecht. Sie verfolgt ein auf „Deeskalation“, auf eine möglichst schonende Konfliktregulierung ausgerichtetes Einsatzmodell, in dem der Einsatz von Gewalt und Waffen erst als allerletzte Stufe polizeilichen Eingreifens vorge-sehen ist. Die Methoden der Streßbewältung übernehmen in diesem Modell das emotionale Management der Einsätze. Körperliche Entspannungsübungen und positive Selbstinstruktion z.B. sollen die Fähigkeit erhöhen, situations-angemessen zu reagieren. Im Rahmen des 16-stündigen Grundprogramms der IF werden die genannten Elemente auf das Verhalten in alltäglichen Einsatz-situationen angewendet und in Rollenspielen trainiert. Alle PolizistInnen im Außendienst sollen regelmäßig an der IF (mindestens einmal jährlich) teil-nehmen.

Bereits 1988 hatten an dem Verhaltens- und Kommunikationstraining in NRW über 3.500 PolizistInnen teilgenommen; bis Frühjahr 1991 mehr als 8.000. An den IF-Wochenseminaren nahmen 1991 insg. 7.724 PolizistInnen teil; bei den dezentralen Trainings wurden über 66.000 TeilnehmerInnen gezählt.

Erfolge?

1991 berichtete ‚Der Spiegel‘ von der Resonanz auf die „Wunderkurse“ des NRW-Programms. Sowohl die Bundeswehr als auch die Innenverwaltungen anderer Länder (von Brasilien bis Rußland) hätten ihr Interesse bekundet. Angesichts der Erfolgsmeldungen überraschen diese Reaktionen nicht: Bei Einsätzen in Wackersdorf und Berlin, so Olszewski, seien die verhaltenstrainierten BeamtInnen aus NRW besonders besonnen aufgetreten. Auch seien nach den Kursen die Dienstaufsichtsbeschwerden z.T. um 80% zurückgegangen; selbst die Scheidungsrate sei unter die üblichen 30% gesunken. 1988 nannte Olszewski, unter Hinweis auf die „objektiven Untersuchungsergebnisse“ Brengelmanns, insgesamt 11 „Veränderungen nach den Trainingsprogrammen“: Sie reichten von einer allgemein besseren körperlichen und geistigen Verfassung und der Abnahme der psychosomatisch bedingten Schmerzen, über mehr Selbstbewußtsein, höhere Ausdauer und größere Leistungsfähigkeit bis zur Verbesserung des sprachlichen Ausdrucks und allgemein gesteigerter Lebensfreude. Auch sei festzustellen, daß vegetative Erkrankungen „in bedeutendem Maße zurückgegangen sind“.

Diese Bilanz kann man kaum ernstnehmen. Sie entspricht eher dem über-schwenglichen Bericht eines stolzen Vaters über sein Kind. Wären nur einige der Veränderungen seriös, d.h. als dauerhaft und in tatsächlichen Ein-satzsituationen angewandt nachzuweisen, das Team Brengelmann-Olszewski stünde wohl kurz vor dem Nobelpreis. Auch die methodisch unzureichende Untersuchung Wensings, die die Wirkungen der Kurse nachzuweisen sucht, bleibt Belege für dauerhafte Verhaltensänderungen schuldig. Zudem sind die vorgeschlagenen Methoden teilweise auf einem sehr niedrigen Niveau angesiedelt, wenn z.B. empfohlen wird, bei als störend empfundenen Straßenlärm das Fenster zu schließen oder auf einen wütendenden Autofahrer beruhigend einzuwirken statt zurückzuschreien. (Auffallend an diesen Beispiel ist allenfalls, daß derartiges deutschen PolizistInnen heutzutage in Fortbildungsveranstaltungen beigebracht werden muß.)

Die Erfolgsbilanz als Wunschdenken zu klassifizieren, muß umgekehrt nicht bedeuten, den Seminaren jede positive Wirkung abzusprechen. Die Nachfrage auch in anderen Bundesländern zeigt, wie groß die Verhaltensunsicherheiten und die Wünsche nach Abhilfe bei PolizistInnen sind. Die vermittelten Einsichten und die eingeübten Kommunikations- und Streßbewältigungstechniken können deshalb im Einzelfall durchaus verhaltensmodifiziernd wirken.

Streß und Polizei

Betrachtet man die Situation des polizeilichen Antistreß- und Verhaltenstrai-nings insgesamt, so zeigen sich erhebliche Defizite. Die Programme führen in der Mehrzahl der Polizeien ein Schattendasein; ihre Notwendigkeit wird allgemein anerkannt, Ressourcen werden aber nur unzureichend zur Verfügung gestellt. In konzeptioneller Hinsicht, das bemerken selbst polizeiliche Autoren, gibt es „keinen Zweifel, daß verhaltensorientierte Trainings nicht als Allheilmittel struktureller Probleme betrachtet werden, sie könnten sonst auch zum Allheilmittel verkommen.“ In dem Verhältnis zwischen individueller Verhaltensmodifikation und dem ‚Umfeld‘, in dem dieses Verhalten stattfindet, bestehen die zentralen Probleme der Trainingsprogramme. Den streßtheoretischen Ansätzen folgend wird der einzelne als Ansatzpunkt der Veränderung angesprochen. Sowohl die Institution Polizei, ihre gesellschaft-lichen Implikationen wie die verschiedenen Quellen von Stressoren geraten so aus dem Blickfeld. Dies zeigt das obige Beispiel mit der Kritik an der Institution Polizei sehr deutlich. Daß der Ausweg in der individuellen Umbewertung von Situationen gesucht wird, täuscht eine Lösung vor, die von den einzelnen eine schwierige Balance zwischen Identifikation mit dem Beruf und Distanz zur Institution Polizei verlangt. Soll diese anspruchsvolle Aufgabe gelingen, so darf sie nicht als eine individuelle, sondern sie muß als eine die gesamte Einrichtung Polizei betreffende verstanden werden.

Die Seminare sind nicht unsinnig. Als ein notwendiges Element zur Herstellung professioneller sozialer Kompetenz müßten sie vielmehr massiv ausgebaut und erweitert werden. Die negativen Folgen können aber nur verhindert und Aussichten auf dauerhafte Erfolge nur erhöht werden, wenn das institutionelle Gefüge, in dem die PolizistInnen agieren, in dieselbe Richtung verändert wird.

Norbert Pütter ist Redaktionsmitglied von Bürgerrechte & Polizei/CILIP
Mit Fußnoten im PDF der Gesamtausgabe.

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