Die ‚Grenzschutzgruppe 9‘ (GSG 9) – Keine Truppe für den Polizeidienst

von Otto Diederichs

Mit rund 40 Schüssen meldete sich am 27. Juni 1993 auf dem Bahnhof des mecklenburgischen Provinznestes Bad Kleinen eine polizeiliche Elitetruppe ins öffentliche Bewußtsein zurück, die während der ca. 20 Jahre ihres Bestehens zum größten Teil im Verborgenen agiert hatte: die GSG 9. Dieser Einsatz, der der Festnahme der mutmaßlichen RAF-Mitglieder Birgit Hogefeld und Wolfgang Grams galt, war ebenso spektakulär wie das erste öf-fentliche Auftreten der Truppe überhaupt im Oktober 1977 auf dem Flughafen der somalischen Hauptstadt Mogadischu. Bereits 1978 nach dem im Auftrag des Verfassungsschutzes vorgetäuschten Sprengstoffanschlag auf die Justizvollzugsanstalt Celle war die Truppe heftig ins Gerede gekommen. Mit dem völlig mißlungenen Einsatz von Bad Kleinen beendete die GSG 9 nun endgültig den Mythos der „Helden von Mogadischu“, der sie seit damals umgeben hatte.

Dieser Mythos beruhte im wesentlichen auf dem seinerzeitigen filmreifen Sturmangriff auf eine Boing der ‚Lufthansa‘, in der 86 Geiseln von vier palä-stinensischen Guerillas festgehalten wurden, die mit dieser Aktion die Forde-rungen der Schleyer-Entführer auf Freilassung der RAF-GründerInnen um Andreas Baader unterstützen wollten. Exakt sieben Minuten, nachdem der Angriff begonnen hatte, meldeten die eingesetzten GSG 9-Männer um 00.12 Uhr Ortszeit: „Vier Terroristen ausgeschaltet, Geiseln befreit, drei Geiseln verletzt, vermutlich durch Gegnereinwirkung. Ein Angehöriger der Sturmtrupps leicht verletzt (Halsdurchschuß)!“

Die Anfänge

Zum Zeitpunkt des Mogadischu-Einsatzes am 18.10.77 war die GSG 9 bereits fünf Jahre alt, ohne daß von ihrer Existenz irgendjemand groß Notiz genommen hätte. Auslöser für die Aufstellung der damals einzigartigen Spezialtruppe war eine wilde Schießerei, die sich die bayerische Polizei und das palästinensische Kommando ‚Schwarzer September‘ am 5.9.72 auf dem Flug-platz Fürstenfeldbruck bei München geliefert hatten. Bei dem Massaker, zu dem die Befreiungsaktion zugunsten israelischer Geiseln geriet, starben 15 Menschen.

Bedenkt man, wie lange es normalerweise dauert, bis Politiker sich zu einer Entscheidung durchringen, so ging diesmal alles mit geradezu unglaublicher Geschwindigkeit: Bereits eine Woche nach dem Blutbad, am 13.9.72, beschloß die Innenministerkonferenz (IMK) auf Anregung des seinerzeitigen Bundesinnenministers Hans-Dietrich Genscher (FDP) die Gründung einer Sondertruppe. Am 21.9. billigte der Haushaltsausschuß des Bundestages die Pläne der IMK, und am 26.9. fertigte Genscher den Erlaß zur Aufstellung der GSG 9 aus. Mit der Aufstellung der Truppe war der Oberstleutnant Ulrich Wegener – seit 1958 beim BGS und zwischen 1970 und 1972 als Genschers Adjudant Verbindungsoffizier zum BGS – betraut worden.

Wegener, kurz zuvor von einem achtmonatigen Lehrgang am ‚NATO Defense College‘ in Rom zurückgekehrt , hatte die Grundlagen der Geiselbefreiungstechnik in Israel gelernt. Im Rahmen dieser Ausbildung soll er auch bei dem legendären israelischen Kommando-Unternehmen zur Geiselbefreiung im ugandischen Entebbe dabei gewesen sein.
Mit 60 Freiwilligen begann Wegener im November ’72 mit dem Aufbau. Rund ein Jahr später meldete er am 1.9.73 Einsatzbereitschaft ; am 22.9.73 wurde die Truppe mit einer Stärke von 122 Mann (Soll = 175 ) der Öffentlichkeit vorgestellt. Danach wird es ruhig um die Einheit.

Organisatorischer Aufbau

Die Angaben über die zum Aufbau der GSG 9 aufgewendeten Finanzmittel schwanken zwischen 5 Mio. DM und 15 Mio. DM . Organisatorisch wurde dem ‚Grenzschutzkommando (GSK) West‘, heute ‚Grenzschutz-präsidium (GSP) West‘ angegliedert und in St. Augustin bei Bonn stationiert. Die grundsätzliche Organisationsstruktur der heute 180 Mann umfassenden Truppe (Soll = 220 ) hat sich seit den Anfängen nicht sonderlich verändert. Nach wie vor besteht der Verband aus einer Führungsgruppe, einer Fernmelde- und Dokumentationseinheit, einer Technischen Einheit, einer Ausbildungs-, einer Versorgungs- und den Einsatzeinheiten. Komplettiert wird das Ganze durch eine Hubschrauberkette. Seit einer Umgliederung in Verbindung mit der Erweiterung des taktischen Gesamt-konzeptes im Jahr 1984 besteht die Truppe heute aus zwei ‚Observationseinheiten‘ (1. und 4. GSG 9), einer ‚Maritime-Einheit‘ (‚2. GSG 9‘) und einer ‚Fallschirmspringer-Einheit‘ (‚3. GSG 9‘). Herzstück all dieser Gruppierungen sind die Einsatzeinheiten mit je ca. 30 Mitgliedern , die ihrerseits wieder in mehrere fünfköpfige ‚Spezial-Einsatztrupps‘ (SET) als der kleinsten taktischen Einheit gegliedert sind.

Einsätze unter Ausschluß der Öffentlichkeit

Interessanter allerdings als eine Aufzählung funktionaler und waffentechni-scher Besonderheiten ist die Beschäftigung mit den Einsätzen der GSG 9. Hier geben die in der Öffentlichkeit bekanntgewordenen von Mogadischu und Bad Kleinen oder die Festnahme der RAF-Mitglieder Brigitte Mohnhaupt und Adelheid Schulz am 11.11.82 bei Offenbach ein vollkommen schiefes Bild. Tatsächlich ist die Spezialtruppe mit dem „offensiven Zugriffsauftrag“ weitaus häufiger unterwegs als zumeist angenommen, von der Sicherung von Geldtransporten der ‚Deutschen Bundesbank‘ oder Gefangenentransporten bis zur Bewachung von Staatsgästen. „Einsätze, von denen keiner spricht“, werden sie bei der GSG 9 genannt . Im Jahre 1991 waren dies insgesamt 94 Fälle. Zwar besteht seit Anbeginn eine Rivalität zwischen den Beamten der Sondereinsatzkommandos (SEK) der Länderpolizeien (bereits 1974 scheiterte der geplante Einsatz bei der bundesweiten Terrorismusfahndung ‚Aktion Winterreise‘ daran ), beim Bundeskriminalamt (BKA) bestehen solche Vorbehalte jedoch nicht. So war es denn auch das BKA, das den Männern der GSG 9 auf dem Wege der „Organleihe“ 1974 ihren ersten Einsatz gegen „eine internationale Bande von Dieben, Räubern und Waffenschmugglern in Frankfurt“ bescherte. Auch heute noch ist das BKA der häufigste Auftraggeber, vereinzelt das Auswärtige Amt und in we-nigen Fällen auch einmal die Länder. Überlegungen, wie sie nach dem Desaster von Bad Kleinen angestellt wurden, die GSG 9 komplett dem Bundeskriminalamt anzugliedern, werden vor diesem Hintergrund nur zu verständlich.

Doch auch im Ausland sind sie immer wieder aktiv. So haben Männer der GSG 9 im Jahre 1978 die Deutsche Nationalelf während der Fußball-WM in Argentinien und 1986 in Mexiko geschützt. Während es sich hierbei wohl um eine Art Sonderurlaub für die eingesetzten Beamten gehandelt haben dürfte, waren die folgenden vermutlich eher nach dem Geschmack der Truppe: 1979 Unterstützung der britischen Sicherheitskräfte beim Papst-Besuch in Irland ; 1980 Unterstützung bei den Einsatzvorbereitungen der britischen Spezialtruppe SAS bei der Botschaftsbesetzung in London ; 1982 Schutzauftrag für das Auswärtige Amt in Beirut usw.

Exportschlager GSG 9

„Die Bundesrepublik hat mit dieser Truppe einen sicherheitspolitischen Trumpf erster Güte in der Hand. Ausbildung und Konzept des Verbandes halte ich für das Beste, was es derzeit gibt“, schwärmte bereits 1977 der israelische General Bar Zvi nach einem Besuch bei der GSG 9. So wie er dachten offenbar auch die meisten anderen ausländischen Sicherheitsprotagonisten. Hatte die GSG 9 in ihrer Gründungsphase noch amerikanische und israelische Unterstützung benötigt, so gaben sich bereits kurze Zeit später – angefangen bei schweizerischen Polizeigrenadieren, die seit 1973 regelmäßig an GSG 9-Kursen teilnehmen – internationale Polizeiexperten in St. Augustin die Klinke in die Hand. Von Finnland über Italien und die Türkei bis hin nach Singapur, Thailand und Südkorea reicht die Palette. Bis 1982 waren Minister, Militärs und Polizeigeneräle aus insgesamt 60 Staaten um Ausbildungsunterstützung nachgekommen. Selbst in Moskau und Peking zeigte man sich an der Spezial-Truppe des damaligen ‚Klassenfeindes‘ interessiert.

Keine Einheit für Polizeiaufgaben

„Die GSG 9 ist zur Erfüllung polizeilicher Aufgaben in Fällen von besonderer Bedeutung vorgesehen. Sie kann vor allem dann eingesetzt werden, wenn die Lage ein geschlossenes Vorgehen – offen oder verdeckt – unter Anwendung unmittelbaren Zwangs gegen Gewalttäter erfordert. Dies ist insbesondere der Fall, wenn bandenmäßig organisierte Terroristen in größerem Umfang tätig werden“, lautet die Formulierung zum Auftrag der GSG 9 im Konzept der IMK vom Februar 1974. Betrachtet man jedoch ihre Gliederung in spezielle Land-, Luft- und See-Kommandos, so trägt die Truppe ganz den Charakter militärischer Sondereinheiten. Wofür eine Polizei bspw. eine eigene Fallschirmspringertruppe oder eine spezielle „maritime Einheit“ vorrätig halten sollte, ist nicht einzusehen (wenngleich letztere vom BKA bereits eingesetzt wurde ). Konsequenterweise sind vergleichbare Verbände anderer westlicher Staaten, wie der ‚Special Air Service‘ (SAS) und der ‚Special Boat Service‘ (SBS) der Briten ebenso wie die amerikanischen Kampftaucher der ‚Seals‘ denn auch beim Militär angebunden. Polizeidirektor Jürgen Bischoff, derzeitiger Chef der GSG 9, scheint das ähnlich zu beurteilen. „Ich sehe mich als Offizier, Kommandeur“, ließ er 1992 verlauten. Nach dem blutigen Einsatz in Bad Kleinen kam die Truppe zudem in den unerträglichen Verdacht, den schwerverletzten, mutmaßlichen RAF-Aktivisten Wolfgang Grams nach Art südamerikanischer ‚Todesschwadronen‘ gleich an Ort und Stelle hingerichtet zu haben, weil dieser einen ihrer Kollegen erschossen hatte. Von einem Racheschwur, wonach jemand der „einen Kameraden töte, (…) nicht lebend davonkommen“ werde, wurde berichtet. Zusätzliches Gewicht bekommt dieses Gerücht durch den einstigen Verhandlungsführer der Bundesregierung 1977 in Mogadischu, Staatsminister Hans-Jürgen Wischnewski (SPD), der im Herbst 1992 in einem Interview berichtet hatte, er habe die „geladenen“ GSG 9-Männer davon abhalten müssen, die Geiselnehmerin Suheila Sayeh noch nach dem Ende der Befreiungsaktion zu erschießen.

Eine solche Truppe hat im Polizeidienst nichts zu suchen.

Mit Fußnoten im PDF der Gesamtausgabe.