Bürgerrechte & Polizei/CILIP I – Ein Rückblick

von Falco Werkentin

Als wir, Mitarbeiter eines von der ‚Berghof-Stiftung für Konfliktforschung‘ geförderten Forschungsprojekts zur aktuellen Polizeientwicklung in der Bundesrepublik, im März 1978 die Null-Nummer von Bürgerrechte & Polizeientwicklung per Fotokopierer in wenigen hundert Exemplaren herstellten und mit einer deutsch- und einer englischsprachigen Fassung (Civil Liberties and Police Development – CILIP) um AbonnentInnen und MitarbeiterInnen warben, hatte das innenpolitische Klima der Bundesrepublik gerade einen Siedepunkt erreicht.

Im Deutschen Bundestag wurden Linkskatholiken wie Heinrich Böll oder Luise Rinser als geistige Wegbereiter des politischen Terrorismus gegeißelt. Die Regelanfrage bei den Ämtern für Verfassungsschutz zur politischen Gesinnung von Bewerbern um Stellen im öffentlichen Dienst führte zu einer Be-rufsverbotspraxis, die weit über die unmittelbar Betroffenen hinaus ein-schüchterte.

Das politische Strafrecht der Bundesrepublik, 1968 von den Exzessen des ‚Ersten Strafrechtsänderungsgesetzes‘ des Jahres 1951 bereinigt, war inzwi-schen um neue/alte Tatbestände aufgerüstet worden, die vorderhand Mei-nungsäußerungen ahnden sollten (1976 die 88a und 130a StGB).

Start im Klima des ‚Deutschen Herbstes‘

Am 5. September 1977 waren der Präsident des ‚Bundesverbandes der Deutschen Industrie‘, Hanns-Martin Schleyer, von einer Gruppe der ‚Roten Armee-Fraktion‘ (RAF) entführt und vier Männer seines Begleitpersonals kaltblütig erschossen worden. Als es drei Wochen später in Kalkar aus Protest gegen den Bau eines Atomkraftwerkes zu einer Großdemonstration kommen sollte, zeigte die Polizei bundesweit ihre in den letzten Jahren neu gewonnene Stärke. Sie schaffte es an diesem Tage, nach eigenen Angaben, ca. 177.000 Personen im gesamten Bundesgebiet zu erfassen und zu kontrollieren, die in Verdacht standen, sich an der Großdemonstration in Kalkar beteiligen zu wollen. Diese Entwicklung kulminierte am 18. Oktober 1977, als die Sondertruppe des Bundesgrenzschutzes, GSG 9, eine am 13. Oktober von einem pälestinensischen Kommando entführte Lufthansa-Maschine in Mogadischu (Somalia) stürmte und die Passagiere befreite. Damit war der Versuch der Freipressung der im Stammheimer Hochsicherheitstrakt einsitzenden RAF-Führungsspitze gescheitert. Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan Raspe begingen Selbstmord. Die Entführer Hanns-Martin Schleyers erschossen ihre Geisel.
Das politische Klima in der Bundesrepublik war vollends vergiftet. Man konnte den Eindruck gewinnen, als sei die von Ulrike Meinhof 1974 formulierte Strategie der RAF aufgegangen, als Strategie des antiimperialistischen Kampfes „die Eskalation der Konterrevolution“ herauszukitzeln, damit „der Feind sich kenntlich macht, sichtbar – und so, durch seinen eigenen Terror, die Massen gegen sich aufbringt, die Widersprüche verschärft, den revolu-tionären Kampf zwingend macht.“ Ein Teilziel, den Staat durch ständige Anschläge zu Überreaktionen zu treiben und die Bundesrepublik in den Poli-zeistaat zu bomben, schien die RAF erreichen zu können.

Im ‚Deutschen Herbst‘ des Jahres 1977 gab es so manchen politischen Freund, der es nicht mehr wagte, sich öffentlich gegen die ‚Politik Innerer Sicherheit‘ zu Wort zu melden, da Ämter für Verfassungsschutz penibel Wortmeldungen registrierten, fleißig Flugblätter sammelten und aus Zei-tungsanzeigen die Namen der Unterzeichner politischer Erklärungen ab-schrieben. Wer sich Hoffnungen auf einen Job im öffentlichen Dienst machte, wagte nicht einmal mehr, einer so honorigen Bürgerrechtsorganisation wie der ‚Humanistischen Union‘ eine Spende zu überweisen. Er drückte, wie es der Autor erlebte, HU-Mitgliedern – unter Verzicht auf eine Spendenbescheinigung – den Hundertmarkschein in die Hand.

Andere, weniger subjektiv-persönliche Hinweise zum politischen Klima dieser Zeit geben Buchtitel aus jenen Jahren. Wie diese Titel zeigen, entwickelte sich gegen die deutlichen Tendenzen zum ‚Sicherheitsstaat Bundesrepublik‘ zugleich eine umfangreiche linke und linksliberale Publizistik, in die sich im Frühjahr 1978 Bürgerrechte & Polizeientwicklung einreihte. Ein weiteres Instrument, nach dem ‚Deutschen Herbst‘ sich wieder politisch offensiv mit der bedrückenden Entwicklung des letzten Jahrzehnts auseinanderzusetzen, war das 1978 veranstaltete ‚3. Russel-Tribunal‘ gegen politische Unterdrückung in der Bundesrepublik.
Mit Bürgerrechte & Polizeientwicklung planten wir kein Fachblatt zur Förde-rung akademischer Karrrieren, sondern einen Informationsdienst, der in die tagespolitische Auseinandersetzung um die ‚Politik Innerer Sicherheit‘ ein-greifen sollte. Der Blick über bundesdeutsche Grenzen hinweg hatte uns ge-lehrt, daß es in anderen westeuropäischen Ländern neben landesspezifischen Besonderheiten durchaus parallele Entwicklungen in der Gesetzgebung und in der Entwicklung von Polizei und Geheimdiensten gab. Mit der parallel zur deutschen Ausgabe ‚Bürgerrechte und Polizeientwicklung‘ produzierten Fassung ‚Civil Liberties and Police Development‘ verband sich die Hoffnung, alsbald ein Netz von Korrespondenten in den westeuropäischen Ländern aufbauen zu können, die die Entwicklung der ‚Politik Innerer Sicherheit‘ in ihren Ländern beobachteten und in CILIP zu dokumentieren in der Lage waren. Der unbescheidene Anspruch war, gleichsam wie das ‚Stokholm Institute for Peace Research‘ (SIPRI), das die weltweite militärische Entwicklung dokumentierte und analysierte, mit CILIP die ‚Innere Rüstung‘ in Westeuropa zu dokumentieren und dem Internationalismus der Sicherheitsbürokratie den In-ternationalismus jener entgegenzusetzen, die mit bürgerrechtlicher Perspek-tive KritikerInnen dieser Entwicklung waren.
Nach sieben Ausgaben mußte im Dezember 1980 gemeldet werden: „CILIP ist gescheitert – CILIP macht weiter“. Für die englische Ausgabe hatten sich knapp 80 Abonnenten gewinnen lassen – sie wurde eingestellt. Die deutsche Ausgabe hatte es zu diesem Zeitpunkt auf knapp 400 Abonnements gebracht. Fortan konzentrierte sich der Informationsdienst stärker auf die Dokumenta-tion der bundesdeutschen Entwicklung.

Die 80er Jahre

Ende der 70er/Anfang der 80er Jahre hatte sich das politische Klima wieder gewandelt. Ungeachtet des gerade von der linken und linksliberalen politi-schen Szene gezeichneten Bildes der immer fugendichter werdenden Tendenzen zum Polizeistaat; ungeachtet auch weitergehender terroristischer Mordan-schläge mit ihren jeweiligen Auswirkungen auf das politische Klima, entfal-tete sich wieder eine rege außerparlamentarische Oppositionsbewegung. Gewiß, sie hatte regelmäßig ihre Zusammenstöße mit der Polizei. Die Prügel-Bilder von solchen Auseinandersetzungen machten einem Polizeistaat alle Ehre.
Doch Bilder können täuschen. Während in der Bundesrepublik seit Mitte der 60er bis zu Beginn der 90er Jahre militante Auseinandersetzungen zwischen Polizisten und Demonstranten alltäglich wurden, gab es aus der DDR nach dem 17. Juni 1953 erst wieder im Oktober 1989 vergleichbare Prügel- und Verhaftungsszenen. Gleichwohl war es nicht der ’sozialistische Rechtsstaat‘ oder geringerer bürgerrechtlicher Mut, der über 36 Jahre auf DDR-Straßen nur den Lärm von Militärkapellen und Bilder von ‚Winkelemente‘ schwingenden Demonstranten zuließ. Oppositionelle Großdemonstrationen wie in der Bundesrepublik ließen sich unter der Kontrolle des Ministeriums für Staatssicherheit nicht organisieren; im vergleichbaren Umfang wie in der Bundesrepublik den politischen Widerspruch auf die Straße zu tragen, wäre existenz-, wenn nicht lebensbedrohlich gewesen.

Die Risiken blieben in der Bundesrepublik – trotz einiger Todesfälle im Ver-lauf der Demonstrationsgeschichte der letzten 28 Jahre, die mit den Namen von Benno Ohnesorg (Berlin 1967), Klaus Jürgen Rattay (Berlin 1981) und Cornelia Wissmann (Göttingen 1989) verbunden sind – kalkulierbar. Es war nicht größerer bürgerrechtlicher Mut im alten Bundesgebiet, der Zehn- und zwischenzeitlich Hunderttausende veranlaßte, ihren Widerspruch gegen die herrschende Politik offen zu zeigen. Es war vielmehr die Gewißheit, daß im Regelfall die rechtsstaatlichen Sicherungen dem Einsatz polizeilicher Gewalt Grenzen setzen, die das buntfarbige Demonstrationsgeschehen zuließen: So können selbst noch Bilder knüppelnder Polizisten ein Symbol größerer Freihei-ten sein. Jenen militanten Demonstranten, die zu Beginn der 80er Jahre im West-Berliner Häuserkampf oder bei Anti-AKW-Demonstrationen Lederjacken mit der rückseitig gut lesbaren Aufschrift „Schieß doch, Bulle“ trugen, war vermutlich nicht bewußt, wie stark ihre Provokation unterschwellig Vertrauen in den Rechtsstaat bezeugte.

CILIP wurde zum Chronisten dieses Geschehens – vom Häuserkampf in Berlin zu Beginn der 80er Jahre über die Auseinandersetzungen um den Bau von Atomkraftwerken; die Aktionen gegen die geplante, dann durch ein Urteil des Verfassungsgerichts zunächst gestoppte und schließlich doch durchgeführte Volkszählung; die Aktionen und Demonstrationen gegen die Nach-rüstung; die Kampagne gegen die Weltbanktagung im Berlin des Jahres 1987 etc. Bei aller bürgerrechtlichen Parteilichkeit bemühte sich die Redaktion, einerseits nüchterne, exakt recherchierte Analysen polizeilicher Strategien und Konfliktverläufe zu liefern, zugleich aber auch Anregungen zur offensiven Gegenwehr zu geben. Für die verschiedenen ‚Antirepressionskampagnen‘ bot die Redaktion zuverlässige Informationen an – so z.B. im politischen Streit gegen Forderungen von Innenpolitikern und Teilen der Polizei, die Polizei verstärkt mit CN/CS-Gas und mit Gummigeschossen auszurüsten , so im politischen Streit gegen das Paket sog. Sicherheitsgesetze (maschinenlesbarer Personalausweis, MAD-, BND- und Verfassungsschutzgesetz etc.), deren jeweilige interne Entwürfe CILIP seit Mitte der 80er Jahre ‚raubdruckte‘ und kommentierte . Die Ausgabe 23, deren Inhalt einmal mehr aus einem riesigen Paragraphenwald sog. Sicherheitsgesetze bestand, wurde mit 2.500 Exemplaren zum bestverkauften Heft in der Geschichte des Informationsdienstes. Ob müsli-essende Kernkraftgegnerin oder militanter Autonomer – sie alle machten mit CILIP einen Grundkurs in „Staatsrecht“, um argumentativ gegen die Gesetzesvorhaben gewappnet zu sein.

Weitaus geringer waren die Verkaufserfolge jener Hefte, mit denen die Re-daktion sich bemühte, in der Leserschaft eine Dikussion über Alternativen zur Polizei und über eine alternative Polizei anzuregen. Die Hefte wurden ebenso schlecht verkauft wie die Reaktion auf das Gutachten „Nicht dem Staate, sondern den Bürgern dienen“ gering war, das von CILIP im Auftrag der Fraktion Die Grünen im Bundestag erarbeitet und im August 1990 vorgestellt wurde.

CILIP und die DDR-Bürgerrechtsbewegung

Mit dem letzten Heft des Jahres 1989 gerieten zum ersten Mal Stasi und Volkspolizei in den Blick der Zeitschrift. Insbesondere mit dem Schwer-punktheft „Stasi & Verfassungsschutz“ wurde der – vergebliche – Versuch gemacht, vom bürgerrechtlichen ‚Aufschwung Ost‘ ein Häppchen abzubekommen, und die DDR-Bürgerbewegung auf die grundrechtlichen Gefährdungen durch bundesdeutsche Dienste aufmerksam zu machen. Mitten im Umbruch, beschäftigt mit dem Kampf um die Sicherung des Zugangs zu den Stasi-Akten, und vielleicht auch mit Skepsis gegenüber einer bundesdeutschen linken und linksliberalen Szene, aus der nur ein äußerst kleiner Kreis sich in der Vergangenheit solidarisch mit jenen gezeigt hatte, die als Oppositionelle zum Objekt der Stasi und der politischen Justiz in der DDR geworden waren, blieb der Versuch von CILIP, in den ‚Neuen Ländern‘ Terrain zu gewinnen, bis in die Gegenwart erfolglos. Inzwischen verkauft CILIP in der Schweiz mehr Hefte als in allen ‚Neuen Ländern‘ zusammen. Der alte blinde Fleck unserer seit CILIP-Beginn in Berlin lebenden Redaktionsmitglieder für einschlägige Themen ‚jenseits der Mauer‘ findet heute sein Pendant in der Blindheit ehemaliger DDR-Bürgerrechtler für Gefährdungspotentiale bundesdeutscher ‚Politik Innerer Sicherheit‘.

Zu den nachzutragenden Petitessen der Redaktionsgeschichte zählt, daß Anfang der 80er Jahre ein Lohnschreiber des MfS seinen Ehrgeiz darein setzte, CILIP-Autor zu werden (Julius Mader) und 1990 die alten Herren der DDR-MdI-Zeitschrift ‚Der Volkspolizist‘ offenbar zur Rettung ihres beruflichen Über-lebens über eine Fusionierung mit CILIP nachdachten und zum Gespräch einluden.

Wirkungen?

Bürgerrechte & Polizei/CILIP begann 1978 mit dem Anspruch, einerseits etwas zu bewirken – andererseits etwas zu vermeiden. Letzteres ist gelungen. In den bei Bewerbungen für akademische Laufbahnen abverlangten Publika-tionsnachweisen dürften CILIP-Beiträge nur extrem selten – wenn überhaupt – ausgewiesen worden sein.
Doch wie steht es mit dem ‚Positiven‘? Aus CILIP sollte einst mehr werden als nur ein Blatt, in dem sich im Zerrspiegel eines auf Poli-zei/Geheimdienstentwicklung und -praxis verengten Blickwinkels die Geschichte der Bundesrepublik seit 1978 widerspiegelt. Vielmehr sollte auf einen spezifischen Ausschnitt dieser Geschichte Einfluß genommen werden.
Mit zumindest gewisser Breitenwirkung und Dauer auf grundrechtliche Ge-fährdungen durch die sich in immer neuen politischen Konjunkturen durch- und fortsetzende ‚Politik Innerer Sicherheit‘ aufmerksam zu machen, ist nicht gelungen. Das Auf und Ab der verkauften Auflage verweist auf die Abhängigkeit von Konjunkturen politischer Sensibilität für diese Thematik, die von CILIP kaum zu beeinflussen waren. Seit dem Zusammenbruch der DDR und dem Vereinigungsprozeß gibt es ‚Sicherheitskampagnen‘ nur noch von einer Seite.

Wer zu lange und zu laut gegen den Wind schreit, läuft Gefahr, die Stimme zu verlieren. Doch der Wind bläst weiter, und so behält es seinen Sinn, die schwache Gegenstimme CILIP sorgsam zu pflegen und weiter krächzen zu lassen.

Falco Werkentin ist ein Fossil aus der Gründungszeit von Bürgerrechte & Polizei/CILIP und immer noch dessen Mitherausgeber; z.Z. Mitarbeiter des Berliner Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen.
Mit Fußnoten im PDF der Gesamtausgabe.