Kampf um die Köpfe – Unabhängige Medien beim G8-Gipfel in Heiligendamm

von Anneke Halbroth und Jan Kühn

Der G8-Gipfel in Heiligendamm ist auch als „Gipfel der aufgedeckten Lügen“ in Erinnerung geblieben. Dazu haben unabhängige Medien maßgeblich beigetragen.

Große und kleine Demonstrationen, Blockaden und zahlreiche andere Aktionen sollten in Heiligendamm den Widerstand gegen die Politik der reichsten Länder der Welt deutlich machen. Gleichzeitig entwickelte sich ein Kampf um die Deutung des Geschehens. Während die Medienkonzerne und vor allem die Nachrichtenagenturen die Verlautbarungen der Polizei ungeprüft übernahmen, waren Aktivistinnen und Aktivisten unabhängiger Medien bei allen Aktionen zu finden, um ein anderes Bild zu zeigen. Sie dokumentierten, filmten, interviewten und fotografierten, um der Sicht „von oben“ ein Bild „von unten“ entgegenzusetzen.

Ereignisse wie die Proteste gegen den G8-Gipfel haben – bei aller Kritik an ihrem spektakelhaften Charakter – an sich, dass Tausende Aktivistinnen und Aktivisten der verschiedensten politischen Strömungen an einem Ort zusammen kommen. Das gilt auch für diejenigen unter ihnen, die sich mit der Herstellung von Medien beschäftigen. So war es auch im Juni 2007.

Die Planung des Unabhängigen Medienzentrums während der Aktionswoche gegen den Gipfel begann etwa ein Jahr vorher. Bereits existierende Video-, Radio- und Netzaktivismusgruppen wollten eine Berichterstattung jenseits der kommerziellen Medien möglich machen. Bei der erwarteten Größe der Proteste war das ein Vorhaben, das es zu koordinieren galt. Einerseits sollten sich in den jeweiligen „Sparten“ – also Video, Radio, Print, Web – bestehende Gruppen vernetzen, und andererseits sollte es einen Rahmen geben, innerhalb dessen die unterschiedlichen Formate koordiniert werden sollten: das Unabhängige Medienzentrum.

Das unabhängige Medienzentrum

Tragende Säulen des Medienzentrums in Rostock waren lokale Indymedia-Gruppen, das Netzwerk Videoaktivismus, das seinerseits Teil des Projekts „G8-TV“ war, das Radioforum, Radio Jetsam, ein Netz verschiedener Technik-Kollektive, unzählige ÜbersetzerInnen sowie die Nachrichtenkoordination. Alle waren und sind auch international vernetzt. Eine Herausforderung war von Anfang an, eine Struktur aufzubauen, die einer unbekannten, aber großen Zahl nach unterschiedlichen Standards arbeitenden Menschen verschiedenster Sprachen die bestmöglichen Arbeitsbedingungen bieten sollte – alles unbezahlt und ohne nennenswertes Budget.

Das Medienzentrum verteilte sich – wie die Proteste – auf mehrere Standorte. Das Radioforum und G8-TV wurden in einer Schule in der Rostocker Innenstadt produziert. Hier wurden auch offen zugängliche Rechnerarbeitsplätze angeboten. Nachrichtenticker, Radio Jetsam, Indymedia, ein Großteil der Technik und offene Rechnerarbeitsplätze befanden sich im so genannten Protestzentrum, einer vor dem Abriss stehenden Schule in Rostock-Evershagen, einem Neubauviertel nordwestlich der Innenstadt. In allen drei Camps gab es „Außenstellen“ des Medienzentrums. Diesen „Außenstellen“ kam eine zentrale Bedeutung zu, schließlich war ein Großteil derjenigen, die sich an den Protesten beteiligten, in den Camps untergebracht. Eins der zentralen Ziele des Medienzentrums war und ist, nicht für oder über die AktivistInnen zu berichten, sondern ihnen die Mittel in die Hand zu geben, ihre Sicht der Dinge selbst darstellen zu können. Dies ließ sich in den Camps am besten umsetzen. So gab es in allen Camps Zelte mit frei zugänglichen Rechnern; die gedruckten täglichen Indymedia-Zeitungen wurden dort verteilt; das Radio konnte dort gehört werden und abends wurde die tägliche halbe Stunde G8-TV auf Großleinwänden gezeigt. Viele nutzten die Gelegenheit, ihre eigenen Erfahrungen von dort ins Netz zu stellen.

G8-TV – das tägliche Protestfernsehen

G8-TV war eine gemeinsame Produktion von Video-Teams aus vielen, vor allem europäischen Staaten. Auf einer eigenen Website[1] wurden sowohl kurze Clips als auch die tägliche halbstündige Sendung mit Berichten des Tages veröffentlicht. Letztere wurde auch live über das Internet übertragen und weltweit an 200 Orten gesehen sowie über Leinwände öffentlich gezeigt – vor allem in Europa, aber auch etwa in Indonesien. Kurze Nachrichtenclips von den Protestaktionen wurden gezeigt und die Themen in der Sendung vertieft. Mit eigens hierfür programmierter Übersetzungssoftware wurden Clips und auch jede Sendung in bis zu sieben Sprachen übersetzt. Die Website hatte täglich etwa 40.000 Zugriffe. Zuschauerzuschriften kamen zum Beispiel aus Osteuropa, Malaysia und Südkorea.

movinG8-RadioForum

Das „movinG8-RadioForum“, das sechste internationale Radioforum, funktionierte ebenfalls als Zusammenarbeit vieler Menschen aus al­ternativen, freien oder Community-Radios. Eine deutschsprachige und eine internationale Redaktion produzierte Live-Sen­dun­gen und Kurzbeiträge, die per Internet gestreamt wurden (also über das Internet live gehört werden konnten). Das Rostocker freie Radio „Lohro“ – zu empfangen im Stadtgebiet – strahlte Sendungen über UKW aus. Übernommen wurden sie von 17 weiteren freien Radios in der BRD. Viel Material war vorproduziert worden, denn gerade die inhaltliche Auseinandersetzung mit den Themen des Gipfels war ein erklärtes Ziel des Radioforums, das so realisiert werden konnte. Dank langfristiger Vorbereitung und institutionell besserer Anbindung ist es dem Team des Radioforums auch gelungen, viele nicht-europäische MitarbeiterInnen zu gewinnen, u.a. aus diversen afrikanischen Ländern, Indien und Japan.

Treibgut: Radio Jetsam

Neben dem RadioForum gab es eine weitere Radioproduktion, „Radio Jetsam“ („Treibgut“). Sein Schwerpunkt lag auf der Aktionsberichterstattung, live und rund um die Uhr. In enger Zusammenarbeit mit der gemeinsamen Nachrichtenkoordination war über Jetsam zeitnah zu hören, was auf der Straße, bei Blockaden und Demonstrationen tatsächlich geschah.

Nachrichtenzentrale: der „Dispatch“

Die Nachrichtenkoordination, der so genannte Dispatch, war Basis für Radio-, Text- und Videoberichterstattung. Hier wurden eingehende Nachrichten gesammelt, überprüft und autorisiert. Gleichzeitig gab es hier eine Übersicht über die Aktionen des Tages und für MedienaktivistInnen die Möglichkeit, auch von unterwegs zu erfahren, von wo es sich zu berichten lohnte.

In Form von Tickermeldungen auf einer eigens eingerichteten Unterseite von Indymedia Deutschland[2] waren diese Meldungen innerhalb weniger Minuten veröffentlicht und wurden von den Radioprojekten, aber durchaus auch von kommerziellen Medien aufgenommen. Die Tickermeldungen wurden direkt in fünf Sprachen übersetzt bzw. teilweise deutsch und englisch parallel erstellt. Die Erfahrungen, die Indymedia-Teams in Europa seit dem G8-Gipfel in Genua 2001 darin gesammelt haben, inmitten heftiger Auseinandersetzungen und gezielter Falschmeldungen von Medien und Polizei zügig Nachrichten veröffentlichen zu können, die weitgehend dem entsprechen, was tatsächlich passiert, hat sich auch in Rostock erfolgreich bewährt: Die Startseite von Indymedia Deutschland wurde während der Protestwoche etwa 660.000 mal aufgerufen. Der Ticker, der auch mit Wap-fähigen Handys unterwegs gelesen werden konnte, wurde ca. 422.000 mal genutzt.

Wesentliche Quelle für die Ticker-Meldungen war der direkte telefonische Kontakt zum jeweiligen Ort des Geschehens – zu MedienaktivistInnen, die von dort berichteten, oder zu Leuten, die sich an einer Aktion oder Demonstration beteiligten. Dem Ticker-Team gelang es so, eine Reihe von Falschmeldungen aufzuklären. In einigen Fällen wurden diese später auch in anderen Medien korrigiert, oft aber bis heute nicht.

Durch ihre Verankerung in den sozialen und politischen Bewegungen, die die Proteste tragen, verfügen unabhängige Medien über einen KorrespondentInnen-Pool, der unbezahlbar ist. Er übersteigt nicht nur zahlenmäßig selbst den der großen Agenturen um ein Vielfaches, er ist auch ungleich stärker motiviert. Durch die lange Zeit der Vorbereitung auf ein Ereignis funktioniert auch die Zusammenarbeit besser.

Die Tickermeldungen bildeten gewissermaßen den Rahmen der Berichterstattung, weil sie ausnahmslos selbst recherchiert als Basis für Artikel und Beiträge genutzt wurden – nicht wesentlich anders als Agenturmeldungen auch, nur von anderen Interessen geleitet.

Indymedia

Indymedia, eines der an diesem Zentrum beteiligten Projekte, ist vor acht Jahren anlässlich des WTO-Gipfels in Seattle auf ähnliche Weise entstanden. 1999 waren interaktive Websites, die es Menschen irgendwo auf der Welt anonym ermöglichen, eigene Inhalte auf eine Seite zu publizieren, weitgehend neu und unbekannt. Genutzt wurde damals eine eigens entwickelte Software, um die Berichte vieler TeilnehmerInnen an der „Battle of Seattle“ auf einer Website gebündelt darzustellen.

Für die Tage des G8-Gipfel 2007 wurde die eigentliche Indymedia-Website ausgebaut, so dass sie in mehreren Sprachen verfügbar war (Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch, Spanisch). Ihre Artikel und Fotos waren die Grundlage der sechsseitigen gedruckten Indymedia-Zeitung „Offline“, die täglich in zwei Sprachen und einer Auflage von 5.000 erschien. Sie wurde in den Camps, bei Demonstrationen und Blockaden verteilt, so dass Informationen und Nachrichten vom Vortag nicht nur weltweit über das Internet, sondern auch bei den Protesten selbst zugänglich waren. So konnten auch diejenigen erreicht werden, die an den teilweise tagelang andauernden Blockaden beteiligt waren und keine elektronischen Medien nutzen konnten.

Pressegruppe „Campinski“

Sie hatte es sich zur Aufgabe gemacht, kleinen Aktionsgruppen den Zugang zu den Medien leichter zu machen. Presseverteiler, Kontakte zu den Medien und das Wissen „wie schreibe ich eine Pressemitteilung“ sollten hier geteilt werden. Neben dieser Aufgabe kam schnell eine andere hinzu – recherchieren, was die Agenturen nicht mehr prüften.

Sinn und Zweck unabhängiger Medien beim Gipfel

Damit bot sich ein relativ breites Panorama öffentlich zugänglicher alternativer Informationsquellen. Wie aber lassen sich deren Reichweite und Wahrnehmung im Rahmen des G8-Gipfels bewerten? Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass das Abrufen unabhängiger Medien, auch nach einigen Jahren zunehmender Erreichbarkeit durch die Entwicklung des Internet, sehr begrenzt ist. Im Gegensatz zu den meisten herkömmlichen Medien erfordern alternative und unabhängige Medien, dass sich die KonsumentInnen aktiv auf die Suche nach ihnen begeben. Das Internet steckt zwar voller Informationen, jedoch müssen diese auch gefunden werden. Anders als einen Fernseher oder ein Radio einzuschalten oder eine Zeitung zu kaufen, setzen diese Medien voraus, dass man sich aktiv um sie bemüht und zumindest ihre Existenz bekannt ist. Die Wahrscheinlichkeit, zufällig auf ein Medium wie Indymedia, ein Internetradio oder eine Videoplattform zu stoßen, ist gering.

Darüber hinaus sehen sich die KonsumentInnen dieser Medien mit einer Form konfrontiert, die häufig unprofessionell und damit für viele abschreckend wirkt. Dem liegt das Wesen solcher Medien zu Grunde: Sie werden nicht von bezahlten JournalistInnen gemacht, sondern von Menschen, die sich in ihrer Freizeit engagieren; nicht von ausgebildeten RedakteurInnen, sondern oft von „HobbyschreiberInnen“ oder AutodidaktInnen. Denn die Idee der meisten unabhängigen Medien ist nicht allein, andere Inhalte in den Äther zu streuen, sondern auch das Verhältnis der Aneignung von Informationen zu durchbrechen. Das herkömmliche Sender-Empfänger-Schema, das die Menschen in aktive ProduzentInnen von Informationen und passive KonsumentInnen unterteilt, soll durchbrochen werden.

Dadurch ergeben sich aber neue Probleme: Legt man journalistische Kriterien zu Grunde, so lässt die Qualität vieler Beiträge zu wünschen übrig – vor allem, je offener ein Medium ist. Radio und Video setzen bereits eine gewisse Grundkenntnis voraus oder zumindest einen Kontakt zu Menschen, die sich damit beschäftigen. Bei einem Medium wie Indymedia hingegen kann jeder Mensch, der in der Lage ist, eine E-Mail zu versenden, auch einen Artikel veröffentlichen. Dies bringt Medien wie Indymedia häufig den Vorwurf ein, nicht „objektiv“ zu berichten, sondern lediglich subjektive Meinungen zu verbreiten. Auch dies ist Teil des Konzepts, basiert das Verständnis von Medienaktivismus doch auf einer grundlegenden Kritik an der bestehenden Form und Rezeption der Medienproduktion: Die nur scheinbar „objektiven“ Medien bieten zwar eine bestimmte Form, die einen seriösen Eindruck erweckt, doch sind ihre Inhalte nicht weniger subjektiv. Die etablierten Medien sind nichts anderes als Konzerne, die nach Kriterien der Profitmaximierung arbeiten und dementsprechend, mit verschiedenen Färbungen, subjektive Interessen verfolgen – allerdings mit mehr Ressourcen. Unterschiedliche Erfahrungsberichte von Menschen vor Ort, wie sie die unabhängigen Medien bieten, können andererseits dazu beitragen, sich ein differenziertes Bild eines Ereignisses zu machen.

In Heiligendamm haben Hunderte Menschen, die auf die eine oder andere Weise an der unabhängigen Berichterstattung beteiligt waren, die Puzzlesteine geliefert, die zur Aufklärung der gezielten Des- und Falsch­informationen gebraucht wurden, die von der Polizei, genauer ihrer für die Gesamteinsatzleitung zuständigen Besonderen Aufbauorganisation „Kavala“ in die Welt gesetzt wurden.

Einige der „Kavala“-Meldungen sind im Nachhinein zwar korrigiert worden. Dennoch haben sie ihre Funktion erfüllt. Denn während die Falschmeldungen die großen Schlagzeilen beherrschten, mit denen ein verzerrtes Bild der Proteste vermittelt wurde, fanden die Korrekturen kaum noch Beachtung. Es ist inzwischen offenkundig, dass die Polizei Falschmeldungen verbreitet hat, die von den etablierten Medien meist ungeprüft übernommen wurden. Doch ist diese Tatsache nicht mehr wichtig: Ein Dementi oder eine Korrektur ist schnell gemacht, der Eindruck der (falschen) Meldung aber bleibt. Hunderte schwer verletzter BeamtInnen oder erfundene „Messerstecher“ in Rostock, mit Säure spritzende Clowns, die Polizisten mit Einwegspritzen angriffen, Molotow-Cocktails bei den Blockaden am Zaun[3]: Die Lügen waren teilweise so dreist, dass selbst KorrespondentInnen kommerzieller Medien vor Ort nur noch mit dem Kopf schütteln konnten. Ihre Arbeitgeber interessierte das meist wenig: Sie übernahmen teilweise lieber die manipulierten Agenturmeldungen als die Informationen ihrer eigenen ReporterInnen am Ort der Geschehnisse.

Der G8-Gipfel 2007 wird auch als „Schlacht in den Medien“ in Erinnerung bleiben. Das ist nicht allein der Verdienst von MedienaktivistInnen, aber sie haben ihren Teil zur Aufklärung beigetragen. Ohne sie hätte es die Propaganda der Macht leichter gehabt.

Auch dieser Artikel entstand mit Hilfe vieler Unbeugsamer, die nicht aufhören, Widerstand zu leisten: Danke insbesondere an G8-TV, Netzwerk Videoaktivismus, Radioforum, Jetsam, Campinski Pressegruppe und Medienzentrum.
[1] www.g8-tv.org
[2] http://de.indymedia.org/ticker
[3] Eine unvollständige Übersicht über Falschmeldungen in den Medien findet sich im Artikel „G8: Don’t believe the hype!“ auf der Website von Indymedia Deutschland, http://de.indymedia.org/2007/06/185734.shtml (Zugriff: 6.12.2007)