„Vergrenzung“ des Inlands – Von der Schleierfahndung zur neuen Bundespolizei

von Albrecht Maurer und Martina Kant

1995 wurde sie in Bayern und Baden-Württemberg eingeführt, 1998 im Bund befristet erprobt, 2003 verlängert, 2007 zum zweiten und letzten Mal nach Art des Bundesinnenministeriums evaluiert. Diese Evaluation führte erwartungsgemäß zur Entfristung der „anlasslosen“ Schleierfahndung.

Man habe dem Bundesgrenzschutz „vor dem Hintergrund der steigenden grenzüberschreitenden Kriminalität und einer erheblich gestiegenen unerlaubten Einreise innerhalb seiner sachlichen und räumlichen Zuständigkeit ein flexibles Befugnisinstrumentarium für verdachtsunabhängige Kontrollen zur Verfügung“ stellen wollen. Ausgeglichen werden sollte auch der Wegfall der angeblichen Filterfunktion der bis zum Aufbau des Schengensystems praktizierten traditionellen Grenzkontrollen. Das ist die offizielle Begründung für den § 22 Abs. 1 Bundespolizeigesetz (BPolG), die Innenstaatssekretär Peter Altmaier letztes Jahr wiederholte, als er den Evaluationsbericht seines Ministeriums vorlegte.[1]

Seit 1998 darf die heutige Bundespolizei (BPol) nicht nur in den Grenzregionen bis zu 30 Kilometern ins Land hinein (§ 23 Abs. 1 Nr. 3 BPolG), sondern auch in Zügen, auf Bahnhöfen und internationalen Flughäfen „lageabhängig“, ohne weiteren Anlass, Personen kontrollieren. Die gleichen „flexiblen“ Befugnisse wa­ren bereits 1995 den Landespolizeien Bayerns und Baden-Württembergs an die Hand gegeben worden. Weitere Bundesländer folgten schnell. Das Muster der Grenzkontrolle, die ereignis- und verdachtsunabhängige Identitätsfeststellung und Durchsuchung, galt nunmehr auch für weite Teile des Inlands.

Das Schengener Durchführungsübereinkommen (SDÜ) und der Schengener Grenzkodex, der Teile des SDÜ im Oktober 2006 ablöste, untersagen zwar Grenzübertrittskontrollen an den Binnengrenzen, überlassen aber die Durchführung von Personenkontrollen im Inland der jeweiligen nationalen Gesetzgebung. In den seit Herbst 2004 geführten Verhandlungen über den Grenzkodex hat die Bundesregierung – mit der bayerischen Staatsregierung im Nacken – dafür gesorgt, dass die EU-Staaten hinter der Grenzlinie weiterhin verfahren können, wie sie wollen. Nach dem Vorschlag der Kommission von Mai 2004 wären Personenkontrollen, wie die durch den Bundesgrenzschutz und die bayerische Polizei im Raum hinter den Binnengrenzen praktizierte Schleierfahndung, unzulässig gewesen. Die Mitgliedstaaten sollten „keine Rechtsvorschriften erlassen (dürfen), die ausschließlich für Gebiete in Binnengrenznähe gelten“ und dort Stichproben- oder Sichtkontrollen zur Identitätsüberprüfung oder auch selbst weniger strenge Kontrollen vorsähen.[2] Mit anderen Worten: Auch in diesem Raum sollten die Polizeien nur auf jene Befugnisse zurückgreifen dürfen, die sie auch im Rest des Landes haben. Einen Grenzersatz sollte es nicht geben. Die Kommission konnte sich nicht durchsetzen: Der Grenzkodex von 2006 stellt die Zulässigkeit von Kontrollen wie der Schleierfahndung nun in Artikel 21 ausdrücklich klar.[3]

Evaluierungen nach Art des Hauses

Mit der Schleierfahndung in- und außerhalb des Grenzgebietes werden die Aufgaben des traditionellen Grenzschutzes deutlich überschritten – nicht zuletzt deshalb wurde die BGS-Befugnis zu verdachtsunabhängigen Personenkontrollen bei ihrer Einführung 1998 zunächst auf fünf Jahre befristet. Offiziell sollte ihre weitere Gültigkeit vom Nachweis der Effizienz und Notwendigkeit abhängen. In einer ersten Evaluation sollte vor der Verlängerung der Befugnis geprüft werden, ob damit tatsächlich eine „Verhinderung oder Unterbindung unerlaubter Einreise“ (§ 22 Abs. 1a BPolG) erreicht würde.

Die Evaluierungsberichte, die im Jahre 2003 die erstmalige Verlängerung um weitere fünf Jahre brachten, können bestenfalls als sehr beschränkte Arbeitsberichte der Bundespolizei bezeichnet werden. Konkrete Aussagen über die praktische Bedeutung verdachtsunabhängiger Kontrollen sind auf dieser Basis kaum möglich.[4] Gleichwohl veranlasste auch Rot-Grün nach Übernahme der Amtsgeschäfte die Verlängerung der Befugnis bis zum Jahre 2007, in dem dann die endgültige Entscheidung fallen sollte.

Die Vorlage eines neuen Evaluierungsberichts wurde zwar ausdrück­lich im Gesetz vorgeschrieben, die Vorgaben für diesen Bericht entsprachen allerdings auch damals schon nicht denen einer unabhängigen, wissenschaftlichen Evaluation. Gefordert wurde lediglich, die Lagebilder, die Anlass für Kontrollen waren, zu dokumentieren und eine Auswertung von Zweckbestimmung und Verhältnismäßigkeit sowie des grenzpolizeilichen Bezugs der Kontrollen vorzunehmen.[5]

Befürchtungen, dass auch die abschließende Evaluation Befugnissicherung statt deren Untersuchung bedeuten würde, waren also berechtigt. Durch die Vorlage des „Erfahrungsberichts zur Anwendung der lageabhängigen Kontrollbefugnis der Bundespolizei gem. § 22 Abs. 1a Bundespolizeigesetz (BPolG)“[6] vom 22. Januar 2007 wurden sie eindrucksvoll bestätigt.

Auf dünnen neun Seiten inklusive Titelblatt, mit wenigen Zahlen und einigen beispielhaften „Erfolgen“ aus der bundespolizeilichen Praxis soll der Bericht „belegen“, dass die Eingriffsbefugnis „unverzichtbar“ ist, weil sie nicht nur im unmittelbaren Grenzgebiet, sondern auch im anliegenden Hinterland „grenzpolizeilichen Schutz“ gewährleisten könne.[7] Dort umfasse dieser Schutz nämlich auch „die Kontrolle grenzüberschreitender, meist schnellfahrender Züge, welche die 30-km Zone in der Regel ohne Zwischenhalt passieren“.[8]

Wie seine Vorgänger glänzt auch der letzte Bericht dadurch, dass er allgemeine Aussagen zur „Bewährung“ des „unverzichtbaren Instruments“ für die grenzpolizeiliche Aufgabenwahrnehmung kombiniert mit einigen allgemeinen Zahlen, die diese Aussagen auch nicht ansatzweise belegen können.

2.527.113 lageabhängige Kontrollen seien seit 1998 nach § 22 Abs. 1a BPolG durchgeführt worden, teilt der Bericht zunächst mit. Und dann wird heruntergerechnet:

  • jede neunte durchgeführte Kontrolle habe einen „Treffer“ ergeben
    (= 283.761);
  • 5,74 Prozent aller durch die Bundespolizei gefertigten Strafanzeigen
    (= 139.310 von 2.425.688) und
  • 10,5 Prozent aller Ordnungswidrigkeiten (97.735 von 934.539)

„sind auf die Befugnisnorm des § 22 Abs. 1a BPolG zurückzuführen“.[9]

Mit dieser Darstellung unterschreitet der Bericht eigentlich schon die Standards eines seriösen Arbeitsberichts. Die Befugnisnorm wird zwar noch genannt, die genannten Treffer bzw. Strafanzeigen stehen aber nicht zwangsläufig im nahegelegten Zusammenhang zum Zweck der Befugnis, nämlich Verhinderung oder Unterbindung der unerlaubten Einreise und des unerlaubten Aufenthalts. Eine Aufschlüsselung der Straf- und Ordnungswidrigkeitenanzeigen liefert der Bericht nicht. Sieht man sich die weiteren Zahlen an, wird deutlich, dass die Bundespolizei mit der Schleierfahndung einen um das Vielfache größeren „Beifang“ macht, also ganz andere Verstöße feststellt, als im Zweck der Norm festgelegt ist: Seit 1999 hat sie dem Bericht zufolge 8.989 unerlaubte Einreisen und 17.963 Fälle unerlaubten Aufenthalts mithilfe der Schleierfahndung in Zügen, Bahnhöfen und Flughäfen nach der hier evaluierten Befugnis festgestellt. Bezogen auf alle 283.761 „Treffer“ bleiben 256.809 sonstige Verstöße, also ein „Beifang“ von rund 90 Prozent. Der Bundesgesetzgeber hat hier eine Befugnis geschaffen, mit der die Bundespolizei in neun von zehn Treffer-Fällen über den Zweck der Maßnahme hinausschießt.

Um die Bedeutung der Kontrollen nach § 22 Abs. 1a BPolG einzuschätzen, genügt zum einen ein Blick auf die Gesamtzahl der im Bericht angegebenen seit 1999 von der Bundespolizei registrierten unerlaubten Einreisen (175.791) und Fälle unerlaubten Aufenthalts (177.476). Daran wird ersichtlich, dass BGS bzw. Bundespolizei 95 Prozent der festgestellten unerlaubten Einreisen und 90 Prozent des unerlaubten Aufenthalts durch andere Maßnahmen als die Schleierfahndung nach § 22 Abs. 1a BPolG entdeckte.[10] Gemessen an der Gesamtzahl der lageabhängigen Kontrollen ergibt dies zum anderen eine „Erfolgsquote“ von gerade einmal 0,36 bzw. 0,71 Prozent; insgesamt erreichte die Bundespolizei seit 1999 damit lediglich eine „Treffer“-Quote von rund 1 Prozent im Sinne des Normzwecks.

Trotz des bescheidenen Ergebnisses heißt es auch im letzten Evaluationsbericht gebetsmühlenartig, die Befugnisnorm sei „ein wertvolles Instrument zur Bekämpfung der unerlaubten Einreise sowie der Schleusungskriminalität“, sie habe sich „uneingeschränkt bewährt“ und sie stelle „nachweislich ein unverzichtbares Mittel zur Bekämpfung der illegalen Migration dar“.[11] Die Parlamentarier der Großen Koalition plapperten diese Worthülsen im Entfristungsverfahren im April letzten Jahres denn auch unhinterfragt nach.[12]

Weshalb, fragt man sich, werden Erfolge beschworen, wo keine sind? Warum wird so verbissen an der Befugnis zur Schleierfahndung festgehalten? Auch dazu gibt der Erfahrungsbericht einige, nicht ganz unerwartete Hinweise in allgemeiner Form. Ihr Fortbestand führt – das zeigen die „Beifänge“– immer weiter weg von den ursprünglichen Zwecken und Zielen der Befugnisnorm. In den Fokus rücken weitergehende Auswirkungen. Sichtbar wird eine neue Bundespolizei, die in regionaler und „anlassabhängiger“ Kooperation mit den Länderpolizeien „ausländerpolizeiliche“ und anti-terroristische Sicherheitsaufgaben wahrnimmt und vermutlich Modell stehen darf für die migrations- und sicherheitspolitischen Polizeiaufgaben im Schengen-Europa.

Das ganze Land als Zone anlassunabhängiger Kontrollen

Sämtliche Bundesländer – ausgenommen Berlin, das die Schleierfahndung 2004 wieder abgeschafft hat – haben in ihren Landespolizeigesetzen eine dem § 22 Abs. 1a bzw. § 23 Abs. 1 Nr. 3 BPolG entsprechende Befugnis. Dadurch würden, so der Erfahrungsbericht, „gemeinsame Einsätze (Streifen, Kontrollstellen, Fahndungsstage etc.) mit den Landespolizeien gängige Praxis“.[13] Der Ausbau dieser Zusammenarbeit sei ein „weiterer bemerkenswerter“ Erfolg dieser Norm.

Betont wird der Erfolg der „einsatzkonzeptionell abgestimmten Zusammenarbeit“ [14] von Bund und Ländern, in denen der Sinn der gesetzlichen Abstimmung von BPolG und ländergesetzlichen Regelungen liege. Die „bei Gelegenheit der Kontrollen zusätzlich aufgedeckten Fälle aus allen Bereichen der Kriminalität“[15] geben die Richtung für zukünftige Zwecke anlassloser Personenkontrollen vor.

Die verdachtsunabhängigen Kontrollen, zu deren Durchführung die Bundespolizei bundesweit und jetzt unbefristet berechtigt ist, sind Teil der allgemeinen Eingriffsbefugnisse der Bundespolizei geworden, und sie sind wesentliche Grundlage der polizeilichen Kooperation von Bund und Ländern.

Bereits 2007 wurde eine Reform der Bundespolizei ohne gesetzliche Grundlage bis hin zum Bezug des neuen Bundespolizeipräsidiums in Potsdam vorbereitet und erst 2008 auf die notwendige Grundlage gestellt.[16] Zuvor wurde im „alten“ Bundpolizeigesetz schnell noch herumgeflickt. Dadurch erhielt die Bundespolizei zur „Verbesserung der Einreisekontrolle und zur Bekämpfung der illegalen Einwanderung“[17] die Befugnis, vorab bei den Beförderungsunternehmen Passagierdaten bei Flügen aus Drittstaaten in die EU-Mitgliedstaaten anzufordern. Außerdem darf die Bundespolizei die Speicherfrist von Videoaufzeichnungen auf Bahnhöfen auf bis zu 30 Tage ausdehnen. Trickreich wurde zur reibungslosen Durchsetzung dieser Frist im genannten Gesetzentwurf der Bundesdatenschutzbeauftragte von der Bundesregierung umgangen.[18]

Alle diese Entwicklungen sind Mosaiksteine der wachsenden Bedeutung der Bundespolizei in der sogenannten neuen Sicherheitsarchitektur, sei es als Verfügungstruppe des Bundes zur Migrations- und Einreisekontrolle, als Spezialtruppe für BKA-gesteuerte besondere Fälle im In- und Ausland (GSG 9) und zur „Crowd-Control“ im Inland.[19]

[1] BT-Innenausschuss, A-Drs. 16(4)172 v. 2.2.2007, Anschreiben des Parl. Staatssekretärs Peter Altmaier
[2] KOM(2004) 391 endgültig v. 26.5.2004, s. insb. Artikel 19, S. 34 u. 60 f.
[3] Verordnung (EG) Nr. 562 des EP und des Rates vom 15.3.2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen, in: Amtsblatt der EU L 105 v. 13.4.2006, S. 1-32, s. insb. dort Artikel 21
[4] Ausführlich dazu: Kant, M.: „Evaluation“ der Schleierfahndung, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 77 (1/2004), S. 46-55
[5] So beschreibt S. Stokar von Neuforn (Bündnis 90/Die Grünen) 2007 die Anforderung von Rot-Grün an eine Evaluation, in: BT-PlProt. 16/94 v. 26.4.2007, S. 9649
[6] BT-Innenausschuss, A-Drs. 16(4)172, im Folgenden „Bericht“
[7] ebd., S. 9
[8] ebd.
[9] ebd., S. 5
[10] also z.B. durch herkömmliche Grenzkontrollen, Kontrollen im grenznahen Gebiet oder sonstige Identitätsfeststellungen nach BPolG
[11] Bericht a.a.O. (Fn. 6), S. 8
[12] BT-Plenarprotokoll 16/94 v. 26.4.2007, siehe die zu Protokoll genommenen Reden unter Anlage 8
[13] Bericht a.a.O. (Fn. 6), S. 4 f.
[14] ebd., S. 5
[15] ebd.
[16] BT-Drs. 16/6291 v. 4.9.2007; Bundesgesetzblatt Teil I (BGBl. I), Nr. 6 v. 29.2.2008, S. 215
[17] BT-Drs. 16/6292 v. 4.9.2007; BGBl. I, Nr. 70 v. 31.12.2007, S. 3214
[18] Schaar, P.: Schreiben an die Vizepräsidentin des Bundestages Petra Pau vom 18.12.2007
[19] ausführlich dazu in der nächsten Ausgabe von Bürgerrechte & Polizei/CILIP

Bild: Bernd Schwabe in Hannover, 2015-11-18 Bundespolizei (Deutschland) in und am Hauptbahnhof Hannover, (102) Polizist mit Maschinenpistole Heckler & Koch MP5, CC BY-SA 4.0