Viele Daten, wenig Klarheit – „Gewalt gegen PolizistInnen“: wenig Licht im Dunkelfeld

von Norbert Pütter

Zur Frühjahrssitzung der Innenministerkonferenz (IMK) legte das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) einen ersten Bericht seiner Befragung vor. Auch einzelne Innenverwaltungen veröffentlichten im ersten Halbjahr eigene Erhebungen. Die Debatte bleibt geprägt von der Kombination aus fragwürdigen Methoden und spekulativen Erklärungen.

Nach kontroverser Vorgeschichte[1] konnte das KFN zwischen dem 8. Februar und dem 28. März alle PolizeibeamtInnen in zehn Bundesländern befragen. Ursprünglich, so der „Zwischenbericht Nr. 1“, war geplant gewesen, anhand der Personalakten sämtlicher deutscher PolizistInnen diejenigen zu ermitteln, die in den Jahren 2005 bis 2009 „mindestens einen Gewaltübergriff mit nach­folgend mindestens siebentägiger Dienstunfähigkeit erlebt“ hatten. Nach Beratungen mit den Bundesländern verständigte man sich auf eine Online-Befragung, die sich an alle PolizeibeamtInnen der teilnehmenden Länder richtete.

Sie bestand aus zwei Fragebögen: Der erste, der nach Aggressionserfahrungen im Jahr 2009 fragte, sollte von allen AdressatInnen ausgefüllt werden. Der längere Fragebogen war hingegen nur für jene PolizistInnen gedacht, die zwischen 2005 und 2009 in Folge der gegen sie ausgeübten Gewalt mindestens einen Tag dienstunfähig waren.

Die Befragung fand über „Extrapol“, das polizeiliche Intranet, statt. Die BeamtInnen wurden nicht nur über dieses Netz, sondern zusätzlich durch Aushänge und Mails von den Behörden über die Untersuchung informiert, und die Beantwortung konnte während der Arbeitszeit erfolgen.

Da zwischen dem Ende der Befragung und dem Beginn der Innenministerkonferenz nur zwei Monate lagen, gibt der Zwischenbericht nur einen Teil der erhobenen Daten wieder.[2] Die AutorInnen betonen an verschiedenen Stellen, dass sie einige Aspekte noch nicht auswerten konnten, dass ihre Interpretationen noch vorläufig und zusätzliche Erhebungen (Expertenrunden) vorgesehen sind. Zur nächsten IMK-Sitzung im November soll ein weiterer Zwischenbericht vorgelegt werden.

Bei jeder Würdigung der KFN-Daten muss das methodische Arrangement berücksichtigt werden: Eine Befragung während der Arbeitszeit, unterstützt vom Dienstherren sowie von der (größten) Gewerkschaft, zu einem Thema, das in der öffentlichen Diskussion hohe Wellen schlägt, lässt eine große Beteiligung erwarten. Tatsächlich füllten jedoch nur ein Viertel (wenigstens) einen Fragebogen aus (bereinigte Teilnahmequote = 25,1 %). Angesichts der Prominenz des Anliegens und des niedrigschwelligen Angebots ist es eher unwahrscheinlich, dass sich BeamtInnen, die Opfer von Angriffen waren, nicht beteiligten. Das Dunkelfeld dürfte daher sehr klein sein. Das bedeutet aber, dass 75 % aller PolizistInnen keine gegen sie gerichteten Aggressionen oder Gewalt erlebt haben. Alle Prozentangaben im Zwischenbericht zeichnen daher ein missverständliches und tendenziell dramatisierendes Bild der Wirklichkeit.

Insgesamt 20.938 PolizistInnen beteiligten sich mit auswertbaren Fragebögen an der Erhebung. 2.693 Befragte gaben an, in den letzten fünf Jahren in Folge eines Gewaltübergriffs für mindestens einen Tag dienstunfähig gewesen zu sein. Dieser Gruppe standen 18.245 TeilnehmerInnen gegenüber, die nicht Opfer von Gewalt waren oder trotz eines Angriffs zum Dienst erschienen waren.

In dem an alle gerichteten Kurzfragebogen war nach den Aggressionserfahrungen der BeamtInnen im Jahr 2009 gefragt worden. 81,9 % der Antwortenden gaben hier an, beleidigt oder verbal bedroht worden zu sein.[3] 47,8 % kreuzten „Festhalten/Schub­sen“ an, rund ein Viertel jeweils „Schlagen mit Hand, Faust, Treten“ und „Bewerfen mit Gegen­ständen“. 14,6 % waren mit einer anderen als einer Schusswaffe oder einem gefährlichen Gegenstand bedroht worden, gegen 8,6 % waren diese Mittel eingesetzt worden. Schließlich gaben 1,9 % an, mit einer Schusswaffe bedroht worden zu sein, und 0,4 % meldeten den Einsatz der Schusswaffe gegen sich. Bei den BeamtInnen aus dem Einsatz- und Streifendienst sowie den Zivilstreifen lagen die Zahlen (erwartungsgemäß) höher. Zwar weist der Bericht den Anteil der Mehrfachopfer aus; so waren 90 % der Beleidigten mehrfach beleidigt bzw. verbal bedroht worden. Da aber Mehrfachnennungen möglich waren, ist nicht ersichtlich, in welcher Kombination die Aggressionen/Angriffe auftraten: Wer einen Polizisten zuerst beleidigt, ihn dann schubst, mit einer Flasche bewirft, ihn dann mit einer Dachlatte bedroht und angreift, schließlich seine Pistole zieht und schießt, hätte acht Treffer in der Befragung verursacht, obwohl es sich um einen Angriff handelte. Insofern sind diese Zahlen wenig hilfreich.

Ausmaß, Anlässe, Entwicklung

2.693 Personen, die infolge eines Angriffs in den vergangenen fünf Jahren dienstunfähig geworden waren, füllten auch den zweiten Fragebogen aus. Sie meldeten 3.821 Übergriffe. Die Dauer der Dienstunfähigkeit schwankte erheblich. Bei 44 % betrug sie 1-2 Tage; 0,9 %, waren länger als zwei Monate dienstunfähig. Im Hinblick auf die Situationen, in denen es zur Gewalt gegen PolizistInnen kam, rangieren Festnahmen wegen einer (versuchten) Straftat mit 27,5 % an der Spitze.[4] Mit zwischen 12 und knapp 10 % folgen außerfamiliäre und familiäre Streitigkeiten, Störungen der öffentlichen Ordnung und Verkehrskontrollen. Über 8 % der Angriffe ereigneten sich im Kontext von Demonstrationen, zwischen knapp drei und vier Prozent bei Fußballspielen, Volksfesten und Personenkontrollen. Die vergleichsweise geringe Verletzungsrate bei Demonstrationen und Fußballspielen erklären die AutorInnen der Studie damit, dass „die Beamten wegen der zu erwartenden Angriffe häufiger Schutzkleidung tragen“ (S. 18).

In allen erfassten Kategorien sind PolizistInnen aus dem Einsatz- und Streifendienst übermäßig betroffen. Knapp 96 % gaben an, 2009 beleidigt oder verbal bedroht worden zu sein, auf sie entfielen 70 % der dienstunfähigen Personen (obwohl sie nur 44,5 % der Befragten stellten). Die Befragung hat darüber hinaus ungleiche Risiken im Hinblick auf Geschlecht, Alter, Größe und Körpergewicht festgestellt. Demnach sind Männer gefährdeter als Frauen, Jüngere mehr als Ältere sowie große und schwere PolizistInnen mehr als kleine und leichtere.

Die KFN-Studie sucht auch Antworten auf die Frage zu geben, ob und in welchem Ausmaß Gewalt gegen PolizistInnen in den letzten Jahren zugenommen hat. Die Fragebögen weisen einen eindeutigen Anstieg aus. Für 2005 wurden 632 Übergriffe gemeldet, die zur Dienstunfähigkeit führten, für 2009 1.130 Fälle. Mit einiger Plausibilität weisen die AutorInnen darauf hin, dass jüngere Ereignisse besser erinnert werden als ältere und deshalb die Meldungen steigen, je kürzer die Ereignisse zurückliegen. Da die Erinnerung mit der Schwere der Verletzung zuverlässiger werde, halten sie die Meldungen schwerer Übergriffe (mehr als sechs Tage Dienstunfähigkeit) für einen geeigneteren Indikator. Die entsprechenden Vorfälle stiegen um 60,1 %. Auch hier vermuten sie noch Übererfassungen, etwa weil Ereignisse von Anfang des Jah­res noch 2009 zugerechnet werden oder weil die Antwor­tenden aus Zeitmangel nur die jüngsten Übergriffe angegeben haben.[5] Gegenwärtig diagnostizieren die AutorInnen „einen deutlichen Anstieg der Gewalt gegen Polizeibeamte …, dessen Ausmaß wir auf 30 bis 50 Prozent einschätzen“ (S. 28). Wegen der vielen Unwägbarkeiten soll das Landeskriminalamt Niedersachsen eine Auswertung aller betreffenden Personalakten vornehmen und Hinweise auf mögliche Messfehler geben. Angesichts dieses Umstands liegt die Frage nahe, ob der Weg über die Personalakten nicht sinnvoller gewesen wäre als mit Nennungen und Prozentzahlen zu hantieren, deren Aussagekraft sehr begrenzt ist.

Schließlich wirft die Studie einen Blick auf die verschiedenen Situationen/Anlässe, bei denen es zu Angriffen auf PolizistInnen kam. In allen zehn Kategorien (Festnahme, Demonstration, Verkehr, Familienstreitigkeiten etc.) nahmen die Angriffe zu. Freilich sind die atemberaubenden Steigerungsraten kaum hilfreich: Was sagt eine Steigerung von 300 % aus, wenn sich dahinter ein Anstieg der Fallzahlen von 4 auf 16 in fünf Jahren in zehn Bundesländern verbirgt? Die Bereiche „Demonstrationen links“, „Fußball­spiele“ und „Störung der öffentlichen Ordnung durch randalieren­de Betrunkene“ stellt der Zwischenbericht etwas genauer dar. Die Übergriffe bei den „Demonstrationen links“ haben sich demnach von 2008 auf 2009 fast verdoppelt, die bei Fußballspielen seien zwischen 2007 und 2008 stark gestiegen, um dann wieder zu fallen, und die Angriffe durch alkoholisierte randalierende Personen seien fast kontinuierlich um insgesamt knapp 135 % angestiegen.

Interpretationsangebote

Deutlich als Zwischenbericht gekennzeichnet und unter dem zeitlichen Druck der IMK-Sitzung entstanden, geben sich die AutorIn­nen zurückhaltend mit Erklärungen. Die Auswertungen der täter­bezogenen Fragen, der Freitextschilderungen, der Sonderauswertung des LKA Niedersachsen, Diskussionen in Expertenrunden stehen noch aus. Gleichwohl zeigt der Bericht deutlich die argumentative Richtung an. Diese ist durch drei Überzeugungen gekennzeichnet: 1. Über die Gewalthaftigkeit der Gesellschaft reden wir nicht. Wir beschränken den Horizont der Betrachtung so eng, dass wir den gesellschaftlichen Kontext nie in den Blick bekommen: Zwar erheben wir die Körpergröße der PolizistInnen, aber nicht die Armut, die Verelendung oder den Alkoholismus bei der Klientel. 2. Weil die Polizei ihrer Natur nach auf der Seite des Gesetzes steht, hat sie auch keinen Anteil an der Gewalt, die sich gegen sie richtet. Deshalb interessieren uns polizeiliche Übergriffe ebenso wenig wie eskalierende Einsätze. 3. Gewalt gegen PolizistInnen ist ein technisches Problem: Am Ende steht vielleicht eine andere Ausbildung, eine andere Bewaffnung, eine verbesserte Eigensicherung. Dass diese dann wieder Rückwirkungen auf das Gewaltniveau haben könnte, interessiert wiederum nicht.

Wenige Beispiele sollen dieses Muster illustrieren: Warum werden jüngere, größere, dickere männliche Polizisten häufiger Opfer? Die Antwort: Weil sich das Gegenüber zuerst den größten, stärksten, kräftigsten Polizisten aussucht, da „sie ihn für besonders gefährlich halten“ (S. 24). Warum werden Polizistinnen weniger angegriffen als Polizisten? Weil die Angreifer vielleicht „teilweise Hemmungen“ haben, auf Frauen einzuschlagen, oder weil bei gemischten Streifen, der männliche Kollege als erster eingreift, um seine Kollegin zu schützen (S. 21). Die naheliegende Variante, dass die großen, starken, kräftigen Männer in Uniform durch ihr eigenes Auftreten ihr Risiko erhöhen, trauen sich die AutorInnen nicht auszusprechen. Nur bei der geringeren Verletzungsrate der Älteren kommen sie nicht umhin, deren größere Erfahrung erklärend ins Gespräch zu bringen. Aber auch diese Hypothese soll in den Expertenrunden zur Diskussion gestellt werden (S. 22).

Beamte im Einsatz- und Streifendienst sind gefährdeter als PolizistInnen in anderen Einsatzbereichen. Bei Christian Pfeiffer, Leiter des KFN und an der Studie beteiligt, wird daraus: „Die Helden des Alltags sind die Streifenpolizisten“.[6] Die Zahlen der Untersuchung zeigen hingegen, dass das Angriffsrisiko mit 1,7 % aller Übergriffe beim allgemeinen Streifendienst am geringsten aller angegebenen Situationen ist. (S. 18). Die mit Abstand gefährlichste Konstellation ist die Festnahme von Straftätern: Das ist aber eine polizeiliche Standardhandlung, für die es nicht auf heldenhaften Mut, sondern auf professionelle Vorbereitung und besonnenes Vorgehen ankommt. Wer hier als „Held“ aufzutreten versucht, erreicht vielleicht gerade das, was die Studie ausweist. Insofern ist die Botschaft der Untersuchung eher kontraproduktiv.

Wenig überzeugend sind die Bemerkungen zur Gewalt bei Demonstrationen. Hier nimmt die Gewalt gegen PolizistInnen in den fünf Jahren um 63,2 % zu. Das ist der drittniedrigste Wert. Bei den schweren Verletzungen beträgt die Steigerung 68,4 % (ein Wert im mittleren Bereich). In absoluten Zahlen erreichen die Übergriffe im Kontext von Demonstrationen nur ein knappes Drittel derjenigen, die bei Festnahmen geschehen. Erst durch die Beschränkung auf „linke“ Demonstrationen kommt man „fast (auf) eine Verdopplung“ von einem Jahr auf das nächste. Diese Schein­dramatisierung wird durch den Verweis auf Erkenntnisse des Bundesinnenministeriums abgesichert. (S. 29 f.) Auf die Idee, einen Blick auf das Demonstrationsgeschehen zu werfen, kommt das KFN nicht.

Die Liste der Einseitigkeiten ließe sich problemlos fortsetzen. Auffällig ist jenseits dessen, dass die Studie auf Vergleiche verzichtet. Weder verliert sie ein Wort über das Berufsrisiko anderer Berufsgruppen, noch nimmt sie Bezug auf das Tötungsrisiko von Polizisten, das in der alten KFN-Untersuchung eine wichtige Rolle spielte. Beide Aspekte hätten die Befunde deutlich relativiert. Wer den eigenen Anspruch ernst nimmt, einen Beitrag dazu leisten zu wollen, „dass sich die öffentliche Debatte möglichst eng an den empirischen Fakten orientieren kann“ (S. 2), sollte das Naheliegende nicht außer Acht lassen.

Erkenntnisse aus Baden-Württemberg und Hessen

Einige der Bundesländer, die sich nicht an der KFN-Studie beteiligen, unternehmen eigene Anstrengungen, den Eindruck zunehmender Gewalt gegen PolizistInnen zu überprüfen. Baden-Württemberg hat mit einer Online-Befragung seine BeamtInnen nach erlebten Widerstandshandlungen für 2009 befragt.[7] Während die Polizeiliche Kriminalstatistik 1.492 Straftaten wegen Widerstands auswies, waren für denselben Zeitraum im Polizeilichen Auskunftssystem des Landes 2.122 Widerstände erfasst. Bei der Online-Befragung meldeten 646 BeamtInnen 465 Fälle – was einen Anteil von 31 bzw. 22 % der registrierten Widerstandshandlungen entspricht. Deren Analyse ergab zusammengefasst folgendes Bild: Die Mehrzahl der Widerstandshandlungen ereignete sich auf öffentlichen Wegen und Plätzen, fast 60 % geschahen am Wochenende; die Hälfte der Widerstand Leistenden war zwischen 18 und 30 Jahre alt, rund ein Drittel besaß keine deutsche Staatsbürgerschaft, mehr als 80 % waren alkoholisiert und nur 13 % der Widerstände ereigneten sich aus Gruppen heraus. Den Widerstandshandlungen vorausgegangen waren u.a. Personalienfeststellungen (38 %), Gewahrsamnahmen (35 %), Personenkontrollen (30 %), Festnahmen (13 %).

Zu 92 % richteten sich die Widerstandhandlungen gegen Polizisten. In 47,6 % der Fälle wurde ein Polizist verletzt. Bei den Polizistinnen lag die Verletztenquote bei nur 10,9 %. Die Angriffe der Täter, die selbst zu 50 % Verletzungen davon trugen, waren Schläge (53,5 %), Tritte (43,8 %), Kopfstöße (8,8 %) und Bisse. Als Tatmittel wurden Schusswaffen, Messer, Schlagstock und fünfmal ein Kraftfahrzeug eingesetzt. In 41,4 % bestand der Widerstand in der passiven Weigerung.

21 % der Beamten mussten sich in ärztliche Behandlung begeben, 9,5 % waren für mindestens einen Tag dienstunfähig, davon fast die Hälfte für mehr als sieben Tage. Die bis 30-jährigen Beamten waren von den Widerstandshandlungen doppelt so oft betroffen, als es ihrem Anteil an den Streifenbeamten entsprach. Altersbezogene Unterschiede zeigten sich auch in der polizeilichen Reaktion auf den Widerstand. Das häufigste eingesetzte Hilfsmittel war die Handfessel. Je jünger die Beamten, desto häufiger wurde sie eingesetzt. Umgekehrt verzichteten die Beamten umso häufiger auf jedes Hilfsmittel, je älter sie sind. Das sind deutliche Hinweise darauf, dass Erfahrung und Professionalität erheblichen Einfluss darauf haben, wie „Widerstand“ bewältigt wird.

Hessen, das sich „aus Fürsorgegründen“ auch nicht an der KFN-Untersuchung beteiligte, lässt seit 2009 die Angriffe auf seine BeamtInnen durch die polizeiliche Koordinierungsstelle Einsatztraining erfassen und auswerten.[8] Für das vergangene Jahr wurden 693 Vorfälle gemeldet, die zu 53 % als Widerstand, zu 23 % als Körperverletzung, zu 15 % als Beleidigung, zu 5 % als Drohung, zu 4 % als Sachbeschädigung und zu 1 % als versuchte Gefangenenbefreiung registriert wurden. Wie in Baden-Würt­tem­berg lag der Schwerpunkt des Widerstands am Wochenende, die überwiegende Zahl der Täter handelte allein und fast 80 % waren alkoholisiert. Bei den gemeldeten Vorfällen wurden 293 PolizistInnen verletzt, mit zwei Ausnahmen erfolgten alle Angriffe ohne Waffen oder gefährliche Gegenstände. Widerstandshandlungen erklären sich aus hessischer Sicht durch 1. übermäßigen Alkoholkonsum, 2. ein anderes Rechtsverständnis und 3. den Versuch, der Strafverfolgung zu entgehen. Verstärkte Fortbildungen, die Ausrüstung mit Schutzkleidung, die Ausgabe von Pfefferspray und Teleskopschlagstöcken soll die PolizistInnen in die Lage versetzen, sich besser gegen Angriffe zu verteidigen.

Noch ein Lagebild

Bald – glaubt man der IMK – wird die Öffentlichkeit auf handfester Basis diskutieren können. Seit Januar 2010 wird der „Widerstand gegen Polizeibeamte“ in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) gesondert ausgewiesen. Mit Beginn des nächsten Jahres sollen auch die Opferzahlen sowie deren Alter und Geschlecht erfasst werden; bisher freiwillig auszufüllende Felder zum Geschädigten und zu dessen Beziehung zum Tatverdächtigen sollen verpflichtend gemacht werden. Darüber hinaus hat die IMK beschlossen, dass die Bundesländer und der Bund bereits für 2010 entsprechende Lagebilder erstellen. Eine Projektgruppe wurde eingerichtet, die das vorliegende Erhebungsraster konkretisieren und ein „Umsetzungskonzept“ erarbeiten soll. Das Lagebild soll sich an den Zählweisen der PKS orientieren und ab 2010 – wie diese – ausgangsstatistisch erhoben werden.[9]

In Nordrhein-Westfalen, ebenfalls ein KFN-Verweigerer, ist seit Anfang 2010 ein Sondererhebungsbogen „Gewalt gegen PVB (Polizeivollzugsbeamte)“ im polizeilichen Vorgangsverarbeitungssystem eingestellt, der Grundlage der jährlichen Lagebilderstellung sein soll. Die Merkmale, die erfasst werden sollen, sind nicht bekannt. Ein nicht vollständiger Ausriss in der „Streife“ zeigt, dass es sich um einen mit Antwortalternativen versehenen Fragebogen handelt, der vor allem auf Situation und Anlass der Gewalthandlung abzuzielen scheint. Dass in dem begleitenden Beitrag nicht nur Fortbildungen lobend erwähnt werden, sondern auch die flächendeckende Ausgabe von Einsatzschutzhelmen und die Erprobung verschiedener Modelle des Einsatzmehrzweckstocks zeigt, wo die Lösung des Gewalt- und Widerstandproblems gesucht wird.[10]

Wenn es denn ab Frühjahr 2011 die ersten Lagebilder geben wird, wäre das ein geeigneter Ausgangspunkt für nähere Untersuchungen. Voraussetzung wäre allerdings, dass sie öffentlich gemacht würden und die Innenverwaltungen ihre Blockade gegenüber externen Untersuchungen aufgeben – beides ist nicht sehr wahrscheinlich.

Schärferes Strafrecht?

So unklar das Phänomen im Einzelnen auch bleibt, übereinstimmend wird von der PKS bis zu den genannten Untersuchungen festgestellt, dass Widerstandshandlungen und Angriffe auf PolizistInnen ganz überwiegend von alkoholisierten Personen ausgehen. Angesichts dieses Umstands ist der Ruf nach einer verschärften Strafandrohung, dem sowohl der Beschluss des Bundesrates[11] wie der Referentenentwurf aus dem Justizministerium (vom 21.5.2010) folgen, nicht nur ein Ausdruck von Hilflosigkeit. Er ist zugleich ein Beispiel dafür, wie das Strafrecht für symbolische Politik missbraucht wird und der Gesetzgeber die Illusion nährt, mit noch mehr Gewaltdrohung könnte Gewalt erfolgreich begegnet werden.

[1] s. Pütter, N.: Polizei und Gewalt: Opfer und Täter, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 95 (1/2010), S. 3-14 (14)
[2] Ellrich, K.; Pfeiffer, Chr.; Baier, D.: Gewalt gegen Polizeibeamte. Zwischenbericht Nr. 1, Hannover 2010, www.kfn.de/versions/kfn/assets/zwiggpolizei.pdf, S. 6-8. Seitenangaben im Text beziehen sich auf diese Veröffentlichung.
[3] Nur exemplarisch, um den falschen Eindruck der Prozentangaben zu illustrieren: Je kleiner das Dunkelfeld, desto kleiner sind die Opferquoten. Denn 81,9 % von 25 % bedeuten, dass nach eigenen Angaben rund 20 % der Grundgesamtheit beleidigt oder verbal bedroht worden sind. Es kann nun darüber spekuliert werden, wie viele der 75 %, die sich nicht an der Umfrage beteiligten, ebenfalls bedroht oder beleidigt wurden.
[4] Die Untersuchung unterscheidet zwischen weniger schweren und schweren Gewaltübergriffen, die zu einer mindestens siebentägigen Dienstunfähigkeit führten. Die Werte zwischen beiden Gruppen differieren um bis zu 2,4 %. Der Übersichtlichkeit wegen werden im Text nur die Angaben zu den schweren Über­griffen genannt.
[5] Um möglichst unverzerrte Zahlen zu erhalten, haben die AutorInnen sogar in einer Sonderauswertung die Berufsanfänger nicht berücksichtigt und nur Meldungen von Personen ausgezählt, die vor fünf Jahren bereits im Polizeidienst waren. Die Auswertung habe die allgemeinen Ergebnisse jedoch bestätigt (S. 27). Um die Scheinexaktheit auf die Spitze zu treiben, hätte die Studie auch die pensionierten PolizistInnen befragen müssen.
[6] Deutsche Polizei 2010, H. 8, S. 16-18 (18)
[7] Ey, Th. v.: Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, in: Polizei – heute 2010, H. 3, S. 82-88
[8] Brückmann, K.: Mehr Gewalt gegen die Polizei?, in: Hessische Polizeirundschau 2010, H. 3, S. 7-11
[9] IMK: Bericht der Arbeitsgruppe des AK II „Gewalt gegen Polizeibeamtinnen und ‑beamte“, Stand: 14.4.2010, www.bundesrat.de/cln_152/DE/gremien-konf/fachministerkonf/imk/Sit
zungen/10-05-28/anlage07,templateId=raw,property=publicationFile.pdf/ anlage07.pdf
[10] Tönjann, U.: Für mehr Sicherheit bei der täglichen Arbeit, in: Die Streife 2010, H. 1-2, S. 10-12
[11] BT-Drs. 17/2165 v. 16.6.2010